E-Book, Deutsch, 222 Seiten
Schmitz Der dunkle Hirte
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7517-2890-4
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Vom Priester missbraucht. Mein Kampf für Aufklärung und Gerechtigkeit
E-Book, Deutsch, 222 Seiten
ISBN: 978-3-7517-2890-4
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die Berichte über Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche reißen nicht ab. Über die schleppende Aufarbeitung wird hitzig diskutiert, die Anzahl der Kirchenaustritte erreicht immer neue, traurige Rekorde. Die Opfer treten kaum in der Öffentlichkeit auf, zu tief sitzen oftmals Schmerz und Scham. Jetzt bricht der ehemalige Ministrant Martin Schmitz das Schweigen. Auch er hat einen langen Leidensweg hinter sich und wurde jahrelang von einem pädokriminellen Priester missbraucht. Erschreckenderweise war der Täter im Bistum Münster für sein übergriffiges Verhalten bekannt, dennoch wurde nichts unternommen. Höchste Zeit, das gnadenlose System des Vertuschens und Verheimlichens aufzudecken!
Martin Schmitz wurde 1961 in Rhede geboren. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und führt einen Handwerksbetrieb. Weiterhin leitet er eine Selbsthilfegruppe und arbeitet im Bundesausschuss zur Aufarbeitung der Missbräuche in der katholischen Kirche mit.
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Kapitel 1
Was war das denn? Ich zucke zusammen und habe Angst, rot anzulaufen. Wir halten unser Messdienertreffen im Büro des Pfarrhauses »Zur Heiligen Familie« in meiner Heimatstadt Rhede ab – und unser Kaplan Pottbäcker hat mich gerade zur Begrüßung auf den Mund geküsst. Unsicher sehe ich mich um. Hat es jemand gesehen? Was sollen denn die anderen denken? Verstohlen wische ich mir mit der Hand über die Lippen und fühle, dass sie noch nass von seinem Speichel sind. Es ist ekelig, und ich putze mir schnell die Hand an meiner Hose ab. Was soll das? Warum küsst er mich? Er, der Priester, der unsere Messe hält und den alle bewundern. »Überlegt euch dann bitte, was wir in der heutigen Gruppenstunde singen wollen, und lasst mich wissen, für welche Sportart ihr euch nachher entschieden habt. Wie wär’s mit Fußball? Also, ich bin sehr gespannt auf eure Vorschläge, gleich geht’s los …« Kaplan Pottbäcker holt seine Gitarre aus dem Nebenraum und spielt als Einstieg unser Lieblingslied: When I find myself in times of trouble Mother Mary comes to me Speaking words of wisdom Let it be. Wir sind heute nur eine kleine Gruppe von fünfzehn Messdienern, sitzen im Halbkreis auf dem Boden und singen hingebungsvoll den berühmten Beatles-Hit. And in my hour of darkness She is standing right in front of me Speaking words of wisdom Let it be. Unser Kaplan hockt lässig auf seinem Bürostuhl, ein Bein abgestützt an einem Tischchen, und gibt den Ton an. Er singt inbrünstig den Text und spielt dazu auf seiner Gitarre. Es ist ein milder Frühsommernachmittag. Die Fenster sind weit geöffnet, und wir können das benachbarte Pfarrheim und den Kindergarten sehen. Der Himmel ist tiefblau, die Vögel zwitschern, und es riecht nach frischem Grün. Kaplan Pottbäcker zaubert auch heute wieder mit seiner Gitarre eine unvergessliche Stimmung, die es erst gibt, seitdem er bei uns ist und die keiner von uns insgesamt vierzig Messdienern bislang so kannte. Kaplan Pottbäcker bringt nicht nur Leichtigkeit in unsere Freizeiten, er nimmt uns ernst, hört zu, weiß Rat. Jede Stunde mit ihm ist besonders und einfach schön. »So, Jungs, noch einmal«, kündigt er eine weitere Zugabe an, und ich schließe die Augen und möchte die Welt anhalten, so außergewöhnlich ist der Moment. Ich bin seit zwölf Monaten dabei, und mit zehn Jahren einer der Jüngeren, kenne mich aber in den liturgischen Abläufen bereits gut aus und helfe genauso oft bei den Messen wie die Älteren. Aber seitdem Kaplan Pottbäcker bei uns ist, fühle ich mich noch sicherer, denn er lobt mich oft und scheint viel von mir zu halten. »Der bevorzugt dich doch eindeutig …«, hat mir erst kürzlich einer der Jungs zugezischt, und er schien richtig eifersüchtig zu sein. Und Thomas, einer meiner Freunde, meinte: »Du bist der Liebling des Kaplans!« Ich weiß nicht, ob das so ist und ob er mich deshalb geküsst hat, aber er hat mich kürzlich schon die Altarkerze tragen lassen, obwohl das sonst eigentlich die Älteren unter uns machen. Vielleicht mag er mich wirklich. Sicher ist, dass auf jeden Fall ich ihn mag. Er ist klasse! »Mein lieber Martin, du hast ganz wunderbar gesungen!«, lobt er mich jetzt vor all den anderen. Thomas knufft mir in die Seite. »Natürlich, du wieder«, flüstert er mir zu und grinst mich verstohlen an. Ich muss schmunzeln, aber ich finde wirklich, dass ich ganz gut gesungen habe. »So, Jungs, jetzt machen wir Schluss für heute, und ich freue mich schon, wenn wir uns alle das nächste Mal wiedersehen.« Kaplan Pottbäcker lächelt uns an, sucht mit jedem von uns kurz Augenkontakt. Das ist auch so eine Eigenart, die ich an ihm schätze: Man fühlt sich von ihm wahrgenommen. Das ist einfach toll. »Kommt gut nach Hause, bis Donnerstag, gleicher Ort, gleiche Zeit«, ruft er uns zum Abschied zu. Als wir aufstehen und unsere Sachen zusammensuchen, steht er plötzlich hinter mir und schlingt völlig unvermittelt beide Arme um mich. Ich bin über die erneute Nähe sehr irritiert und sehe ihn überrascht an. Er wird mich doch nicht wieder küssen? »Bis dann, Martin«, sagt er lachend und gibt mir zum Glück nur einen Klaps auf den Rücken, bevor er mich auf den Flur schiebt. Der Kuss, die körperliche Nähe, ich schäme mich richtig und möchte schnell weg. Doch Kaplan Pottbäcker ruft mich und zwei weitere Jungs noch einmal zurück. »Kommt ihr drei noch einmal mit bitte, es ist so schön draußen. Lasst uns noch eine Partie Tischtennis spielen.« »Ich habe keinen Schläger«, sage ich kleinlaut, während die anderen ihre mitgebrachten Utensilien auspacken. »Du hast keinen Schläger?«, wiederholt der Kaplan meine Antwort. »Dann warte mal«, meint er lächelnd, öffnet eine Anrichte und drückt mir einen nagelneuen Schläger in die Hand. »Jetzt hast du einen.« »Wie, kann ich den benutzen …?«, frage ich unsicher. »Er gehört dir«, sagt er lächelnd und nickt mir zu. »Ein Geschenk der Kirche. Also los, wir starten.« »Echt jetzt?« Ich kann es kaum glauben. »Ganz echt, aber jetzt komm, und zeig, was du draufhast.« Ich spiele an diesem Nachmittag wie ein kleiner Weltmeister, und das liegt nicht nur an meinem funkelnagelneuen Schläger, nein, ich fühle mich auch wertgeschätzt, gesehen und anerkannt. Ich fühle mich prächtig und genieße die Zeit beim Tischtennis, nicht zuletzt, weil Kaplan Pottbäcker das Doppel mit mir spielt. Er ist der beste Kaplan, den man sich vorstellen kann, und wir alle hier bewundern ihn. Natürlich finde ich es toll, dass er mich mag, vielleicht sogar ein bisschen mehr als die anderen. Ja, ich bin stolz darauf. Wenn es nur diesen ekligen Kuss auf den Mund nicht gäbe. Das irritiert und belastet mich, weil ich mir keinen Reim darauf machen kann. Als ich nach Hause gehe, vergesse ich mein unangenehmes Gefühl, denn ich treffe ein paar Jungs, mit denen ich noch auf der Straße kicken kann. Aber abends, allein in meinem Bett, geht mir der Kuss nicht mehr aus dem Kopf, und ich denke daran, wie ich zu Kaplan Pottbäcker kam … * Ich lebe mit meinen Eltern und meinen vier Geschwistern auf einem Bauernhof am Ortsrand von Rhede. Ursula, die Älteste von uns Kindern, ist zwei Jahre älter als ich, nach mir kommen noch Magdalena, Michael und Dieter. Mein Vater Josef ist eigentlich Schreiner, arbeitet aber als Betonbauer und Einschaler im Brückenbau. Meine Mutter Adelheid kümmert sich um den Hof, den Haushalt und um uns Kinder. Mein Vater ist im Prinzip in Ordnung. Er ist ein recht kleiner, schmaler, fast schon schmächtiger Mann, der eher leise durchs Leben geht. Er hält sich gern zurück und aus Problemen heraus – und wirkt immer ein bisschen wie vom Leben gezeichnet. Ich glaube, er hatte es nicht leicht mit meiner Oma, von der er den Hof erbte. Meine Mutter ist das Gegenteil von ihm, resolut und durchsetzungsstark. Sie gibt in unserer Familie den Ton an, hält das Geld zusammen und organisiert das Familienleben. Sie führt uns alle durch den Alltag, und das macht sie auch gut. Jeder Tag ist straff organisiert. Bei uns ist immer viel zu tun, und jeder packt mit an: Wir Kinder helfen im Haushalt, füttern die Tiere, sammeln auf dem Feld Kartoffeln ein, pflücken Äpfel, kochen Marmelade und Saft und unterstützen meinen Vater dabei, das Haus in Schuss zu halten. Ich liebe es, mit ihm unterwegs zu sein, wenn es auf dem Hof etwas auszubessern gibt. Als ältester Sohn bin ich seine rechte Hand und lerne früh, wie erfüllend es ist, wenn man mit den Händen arbeitet und hinterher sieht, was man geschaffen hat. Wir arbeiten viel am Haus, bessern Fenster aus, erneuern Balken und werkeln am Grundstück an den Zäunen. Es ist schön, wenn wir gemeinsam in der Natur sind, uns mit wenigen Worten austauschen, uns Werkzeuge reichen, Material geben. Es genügen kleine Signale, ein Nicken, eine Handbewegung, und wir verstehen uns. Ich fühle mich in diesen Stunden groß, ein bisschen erwachsen schon und bin stolz, weil er mich mitnimmt. Ich bin Papas Kumpel, Partner, Assistent, was auch immer, zumindest wenn wir gemeinsam handwerklich beschäftigt sind. Ich lerne viel von ihm und bin in diesen Stunden einfach glücklich. Aber leider hat mein Vater zwei Gesichter. Denn sein sanftes, introvertiertes und kumpelhaftes Ich wird manchmal abgelöst durch ein unangenehmes, unkontrolliertes und gewalttätiges, auch in der Öffentlichkeit. »Dein Vater säuft«, hat mir ein Freund vor einiger Zeit gesagt und recht damit. Mein Vater trinkt, ich glaube täglich und unterschiedlich intensiv. Gut, das Bier zum Abendbrot gehört dazu. Und es gibt Tage, an denen es dabei bleibt. Aber es gibt auch die Tage, an denen er danach weitertrinkt. Erst zu Hause und später in der Kneipe. Dann geht er schon türenpolternd aus dem Haus und kommt meist erst spätabends zurück. Wenn er richtig »getankt« hat, wie meine Mutter gern sagt, dann ist er ein anderer Mensch, brutal und unberechenbar und in seiner Aggression durch nichts und niemanden zu stoppen. Er steckt dann voll innerer Wut, und leider gibt es in dieser Situation nur einen, an dem er sich regelmäßig abreagiert: mich. Wenn er nachts nach Hause kommt, erkenne ich es bereits an den Schritten im Treppenhaus, ob er »getankt« hat und damit aggressiv ist. Mit pochendem Herzen horche ich dann, was mich erwartet. Wenn seine Schritte unsicher sind und er schon...