E-Book, Deutsch, 266 Seiten
Reihe: zur Einführung
Schmidt Karl Marx zur Einführung
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-96060-109-8
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 266 Seiten
Reihe: zur Einführung
ISBN: 978-3-96060-109-8
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Karl Marx, ein unermüdlicher Theoretiker, hat keine Doktrin aufgestellt, sondern las, exzerpierte, kommentierte, entwarf, verwarf – und begann ständig aufs Neue. Von ihm selbst wurde nur ein Bruchteil seiner Überlegungen veröffentlicht, und bis heute ist nicht alles ediert. Diese Einführung von Christian Schmidt stellt dar, worauf der unermüdliche Forschertrieb des Philosophen und Ökonomen antwortete, nämlich die Frage: Was hält die Umsetzung des Hegel'schen Programms einer Verwirklichung von Freiheit und Vernunft eigentlich auf? Marx suchte in der modernen Gesellschaft akribisch die teils unbewussten Kräfte und Mechanismen, die Freiheit und Gleichheit in Unterdrückung und Ausbeutung verwandeln.
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1. Marx’ Problem
Die Philosophie Hegels war ein Versprechen. Auf einen jungen Mann, der, wie Karl Marx, dem Wunsch seines Vaters gemäß das Jurastudium mit dem Ziel einer Verwaltungslaufbahn aufnahm, aber in sich »vor allem Drang, mit der Philosophie zu ringen«1, verspürte, muss ein philosophisches System besonders anziehend gewirkt haben, das beides miteinander verband und den frischgebackenen Studenten lehrte: »Alles, was ist, hat eine ideale und eine reelle Seite, eine Seite der Erscheinung und eine Seite des Gedankens. Die ideale Seite ist die philosophische, die reelle ist die Geschichte. […] Die Rechtsphilosophie soll hier nicht als ein abstraktes Leeres erscheinen, sondern als ein Gedanke, der sich verwirklicht hat. Dagegen soll die Rechtsgeschichte ebenfalls nicht bloß äußerlich erscheinen, sondern als gedankenartig, als ihren Geist in sich tragend.«2 Eduard Gans, von dem dieses Zitat stammt, war Hegels Schüler und Freund gewesen. Zu jener Zeit, als Marx in Berlin studierte, hielt er die Naturrechtsvorlesungen.3 Nach Hegels Tod gab er die um Hegels mündliche Zusätze erweiterte Ausgabe der Grundlinien der Philosophie des Rechts und die Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte heraus. Die Vorlesungen zur Rechtsphilosophie hatte er schon vor Hegels Tod mit dessen Billigung und großem öffentlichen Erfolg übernommen. Gans hob besonders das Moment der Verwirklichung hervor, den Gedanken, dass philosophische Einsichten auch institutionelle und politische Folgen haben, die geschichtlich spürbar sind. Damit betonte er auch das revolutionäre Potenzial der Hegel’schen Philosophie. »Ist die Verfassung des Volkes demselben unangemessen«, heißt es in diesem Sinne bei Gans zum Thema Volkssouveränität, »ist sie durchaus etwas anderes als dasselbe, so wirft es sie ab und metamorphiert sich von selbst, und dies sind die gründlichen Krisen der Geschichte, die Revolutionen.«4 Zudem verband Gans die Hegel’sche Philosophie mit Reflexionen über die politischen, gesellschaftlichen und philosophischen Entwicklungen im Europa seiner Zeit. Er hatte Freunde in Paris und London und brachte von seinen Reisen aufsehenerregende Informationen über Gruppen wie die Saint-Simonisten oder über Jeremy Bentham mit, die auf ganz verschiedene Weise versuchten, Heilmittel für das bittere Elend zu finden, das der auch in den deutschen Ländern heraufziehende Kapitalismus produzierte. Die Hegel’sche Philosophie, wie sie Gans präsentierte, war also trotz ihres systematischen Ansatzes nicht geschlossen. Sie versprach Orientierung in den gesellschaftlichen Umbrüchen, die sich am Beginn des 19. Jahrhunderts vollzogen. Und sie versprach eine bessere Zukunft – nicht irgendwann, sondern eine bessere Zukunft, die eigentlich schon begonnen hatte, zumindest aber unmittelbar bevorstand. Das Zentrum des Versprechens, dessen Verwirklichung die Hegel’sche Philosophie damals ankündigte, lässt sich dabei in einem einzigen Wort zusammenfassen: Freiheit. »Das Denken fängt da an, wo die Freiheit anfängt; Freiheit, Denken, Recht, Erkennen und Wollen sind identisch. […] Die Philosophie ist selbst ja der Gedanke der Freiheit, das freie Denken ohne Voraussetzung.«5 Diese Freiheit hat eine individuelle und eine gesellschaftliche Komponente. Sie ist die Freiheit der Einzelnen, die über sich selbst bestimmen und ein eigenes Urteil suchen. Sie ist aber auch eine Freiheit, die sich im Verhältnis zum Staat, das heißt zur Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, zeigt. »Die Rechtsphilosophie beginnt, sobald nicht mehr Gott die Gesetze gibt, sondern der Mensch anfängt, selbst Legislator zu sein. […] Sowie das Recht vom Menschen gemacht ist, ist auch die Rechtsphilosophie da.«6 Am Beginn des Marx’schen Denkens steht also die Begegnung mit einem philosophischen Ansatz, für den Reflexion keine bloß gelehrte Übung ist, sondern der sich selbst dezidiert als Kritik versteht, der die Praxis der Menschen ins Zentrum der Überlegungen rückt und mithilfe der Analyse dieser Praxis die Dynamik geschichtlicher Entwicklungen zu entschlüsseln versucht. Philosophie nach Hegel ist Gesellschaftskritik, die das Prinzip ihrer eigenen Wirksamkeit gleich mitzuliefern scheint. Denn dieses Prinzip ist nichts anderes als die Freiheit, aus der die menschliche Praxis entspringt. Marx wird im Laufe seines Lebens Hegel und den Hegelianismus immer wieder heftig attackieren, aber die wesentlichen Elemente der Hegel’schen Philosophie, dass die Menschen ihre Geschichte selbst machen, dass das philosophische System die Dynamiken der geschichtlichen Entwicklungen analysieren und kenntlich machen soll und dass das Ziel der theoretischen Überlegungen zu sozial wirksamen Kräften und Strukturen darin besteht, die gesellschaftliche Wirklichkeit zu ändern, das heißt, sie zu verbessern, all das bleibt für ihn prägend. Angesichts dieses entscheidenden Einflusses der Hegel’schen Philosophie auf den ganz jungen Marx lässt sich die Heftigkeit der Marx’schen Hegelkritik vor allem als eines lesen: die Anzeige eines fundamentalen Problems, mit dem sich Marx in seinem Denken konfrontiert sieht. An der Auseinandersetzung mit Hegel zeigt sich nämlich beispielhaft, was für viele der Marx’schen Polemiken gegen politische, philosophische und wissenschaftliche Weggefährten gilt. Die Angriffe werden umso drastischer, je mehr Marx Positionen angreift, die seinen eigenen zum Verwechseln ähnlich sind. Das Rigorose in diesen Polemiken ist vor allem eine unausgesprochene Unnachgiebigkeit gegen das eigene Denken, von dessen Ungenügen Marx sich mit aller Kraft losreißen will.7 Der oft diffamierende und verletzende Angriff auf befreundete Autoren ist der Weg, auf dem Marx nach einer theoretischen Selbstverständigung sucht, die keine Kompromisse erträgt und sich über Freundschaften brüsk hinwegsetzt. Auch die Heftigkeit der Marx’schen Hegelkritik ist daher das Symptom einer radikalen Enttäuschung, die sich zu einem tief sitzenden Problem auswächst. Das Problem mit der Hegel’schen Philosophie ist für Marx (im Übrigen aber auch für seine politisch engagierten junghegelianischen Freunde) das Ungenügen der von ihr inspirierten Gesellschaftskritik. Denn die Kritik, die im Ausgang von Hegel entwickelt wurde, scheint zunächst einmal ganz praktisch zu versagen. Offenkundig klaffen die politische Ordnung und der Anspruch philosophischer Einsicht nicht nur erheblich auseinander. Diese Kluft öffnet sich am Übergang der 1830er zu den 1840er Jahren auch noch immer weiter, statt sich – der Hegel’schen Prognose folgend – fortwährend schneller zu schließen. Wie die Kluft zwischen Einsicht und Staat in der Marx’schen Wahrnehmung wächst, lässt sich gut an der kritischen Darstellung der Verhandlungen des Rheinischen Landtags über ein Holzdiebstahlsgesetz sehen, die Marx im Herbst des Jahres 1842 in der inzwischen von ihm geleiteten Rheinischen Zeitung anonym veröffentlichte. Ganz im Geiste der Hegel’schen Rechtsphilosophie kritisiert Marx das Gesetz, das das zuvor gewohnheitsrechtlich gestattete Sammeln von herabgefallenen Ästen und Zweigen als Diebstahl mit Gefängnis oder Zwangsarbeit bedrohte, als nicht »der rechtlichen Natur der Dinge«8 entsprechend. Marx beschreibt mit Hegels eigenen Worten die Funktion des Rechts als »das Dasein der Freiheit«9. Statt aber ein solches »vernünftiges«, »menschliches« Recht in Gesetzesform zu bringen, fällt der Landtag, der erkennbar einzig die Interessen der Waldbesitzer im Auge hat, in vormoderne Formen des Rechts zurück. Den Armen werden mit dem neuen Gesetz nämlich nicht nur die »Almosen der Natur« vorenthalten, auf die ihnen »ein instinktmäßiger Rechtssinn« bisher Anspruch gab,10 bei der Verfolgung des neu eingeführten Verbrechens sind der Waldbesitzer oder sein Bediensteter auch noch Ankläger, Zeuge, Richter und Vollstrecker der Strafe. Empört konstatiert Marx, dass der Staat so »die Unsterblichkeit des Rechts [dem] endlichen Privatinteresse« opfere und dem Verbrecher »die Sterblichkeit des Rechts« beweise.11 Eduard Gans in diesem Punkt noch folgend, glaubt Marx Anfang der 1840er Jahre aber, dass sich das Recht schließlich doch mit aller Macht gegen jedes Gesetz durchsetzen wird, das den Namen »Gesetz« nicht verdient, weil es sich gegen seine begriffliche Bestimmung der »allgemeinen und authentischen« Wahrheit »über die rechtliche Natur der Dinge« verweigert. Geschehe das nicht mittels Einsicht, dann geschehe es mittels der Konsequenzen, die das sogenannte Gesetz heraufbeschwört: »Ihr habt die Grenzen verwischt, aber ihr irrt, wenn ihr glaubt, sie seien nur in euerem Interesse verwischt. Das Volk sieht die Strafe, aber es sieht nicht das Verbrechen, und weil es die Strafe sieht, wo kein Verbrechen ist, wird es schon darum kein Verbrechen sehen, wo die Strafe ist.«12 Wie bei Gans entfaltet hier die ideale Seite der Geschichte ihre Wirkung nicht nur...