E-Book, Deutsch, 322 Seiten
Schmidt Der Junge, der ein Mädchen sein musste
2. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7693-8296-9
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was Transidentität wirklich bedeutet - Eine Autobiographie
E-Book, Deutsch, 322 Seiten
ISBN: 978-3-7693-8296-9
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mein Name ist Martin Schmidt. Geboren als Beate, habe ich mit 30 Jahren (eher war es damals nicht möglich!) eine sog. Geschlechtsanpassung vorgenommen. Heute, im Alter von 65 Jahren, erzähle ich hier nun meine Geschichte. Diese Autobiografie richtet sich nicht nur an Betroffene, sondern vor allem an jene, die mit diesem Thema wenig Berührung haben. Mein Ziel ist es, Verständnis zu wecken und die Stigmatisierung zu verringern. Denn die Realität für Menschen wie mich ist oft hart: In einer Welt geboren, in der ich als "falscher" Junge galt, kämpfte ich jahrzehntelang mit Ablehnung, Ausgrenzung und Gewalt. Ich lade Sie ein, einen Blick in mein Leben zu werfen. Erleben Sie, wie sich Transsexualität/Trans-Identität auf junge Menschen auswirken und welche weitreichenden Folgen dies haben kann. Hinweis: Alle Namen und Orte in diesem Buch wurden geändert, um die Privatsphäre der Betroffenen zu schützen. Evtl. Namensgleichheiten sind rein zufällig!
Martin Schmidt ist heute 65 Jahre alt und schrieb hier seine Biographie nieder: er musste 35 Jahre als Frau leben, die er niemals war! In den 70/80er-Jahren war es noch wesentlich schlimmer, trans* zu sein: so etwas gab es seinerzeit überhaupt nicht und evtl.Hilfsmöglichkeiten natürlich ebenso wenig!
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Geburt und Familie
Geboren wurde ich im Hochsommer des Jahres 1959, an einem der heißesten Tage dieses Sommers, in Düsseldorf, einer Großstadt, ganz dicht beim sog. Ruhrgebiet. Zehn Minuten nach der Geburt meiner Zwillingsschwester Tatjana erblickte ich kurz vor Mitternacht das Licht der Welt. Meine Eltern wollten nach ihrem nun neunjährigen Sohn unbedingt eine Tochter haben - aber dass da Zwillinge unterwegs waren, hatten sie nicht geahnt. Ultraschall-Untersuchungen vor der Geburt gab es damals nicht, und als der Arzt nach der Geburt meiner Schwester nur lapidar meinte: „Hoppla, da kommt ja noch eines!“, hatte sich meine Mutter derart erschrocken im Bett aufgesetzt, dass ich mich im Mutterleib von alleine gedreht hatte. Dabei hatte sich mir die Nabelschnur um den Hals gelegt, und als ich endlich auf diese Welt fiel, war ich wegen Sauerstoffmangels bereits blau angelaufen. Vielleicht hatte ich damals schon keine große Lust, auf diese Welt zu kommen, aber das ist natürlich reine Spekulation. Tatsache ist, dass ich unmittelbar danach in ein Sauerstoffzelt verfrachtet wurde und nach ein, zwei Tagen war klar, dass ich doch die Geburt ohne Schäden überstanden hatte. Für den Sachverhalt, dass es nun Zwillinge in der Familie gab, bekam mein Vater die Schuld in die Schuhe geschoben. Er bekam von meiner Mutter überhaupt für alles Mögliche die Schuld, egal, was er sagte oder tat. Sie brachte ihn soweit, dass er schließlich gar nichts mehr sagte und nur froh war, wenn sie ihn in Ruhe ließ. Meine Eltern waren erzkonservativ. Erziehung war ausschließlich Sache der Mutter. Und Mutter ist bis heute der Auffassung, die „beste Erziehung aller Zeiten“ geleistet zu haben. Diese bestand darin, schreiend und tobend Kommandos zu erteilen, mitunter gerne auch nur per einfachem Fingerschnippen. Wir Kinder waren ausschließlich Befehlsempfänger, jeder Feldwebel auf dem Kasernenhof hätte sich von ihr eine Scheibe abschneiden können. Mutters Meinung war die einzig Richtige. Es gab neben ihr auch keine falsche Meinung, sondern es gab daneben überhaupt keine andere Meinung. Sie allein wusste und entschied, was falsch und was richtig war, nur sie allein machte immer alles richtig, alle Anderen - allen voran natürlich die Kinder - machten immer alles falsch. Alles! In meiner gesamten Kindheit gab es, soweit ich mich erinnere, nichts, aber auch gar nichts, was ich in ihren Augen einmal richtig gemacht hätte. Einer ihrer Lieblingssätze war: „Das hast du doch wieder falsch gemacht - ich zeig’ dir ‘mal, wie man das richtig macht!“ Mit diesen Worten nahm sie mir sogar noch als 19jähriger den Putzlappen aus der Hand und legte ihn so zusammen, dass exakt die anderen beiden Ecken aufeinander zu liegen kamen, als das bei mir der Fall gewesen war. Dem Putzlappen war es mit Sicherheit völlig egal, wie er nun zusammengefaltet war. In der Familie hatten alle nach kurzer Zeit resigniert. Mutter brüllte und tobte herum, dass sie immer alles alleine machen müsste - was irgendwann auch stimmte, denn da wir sowieso stets zu hören bekamen, dass wir alles nur falsch machten, taten wir bald gar nichts mehr. Wozu auch? Niemand, ob Kind oder Erwachsener, legt nun gesteigerten Wert darauf, sich ständig anhören zu müssen, dass er ja zu allem zu blöde sei. So wurden wir Kinder zu völliger Unselbständigkeit erzogen. Wir trauten uns bald überhaupt nichts mehr zu, waren total verunsichert und hatten Angst, dass Mutter wieder wütend wurde und herumschrie, wenn wieder jemand etwas falsch gemacht hatte. Und was wir auch sagten oder taten: es war falsch, immer! Wir hatten einfach keine Chance. Kinder-„Erholung“
Meine Mutter war zu der Überzeugung gelangt, dass meine Schwester und ich im Gegensatz zu unserem Bruder besser nicht in den Kindergarten gehen sollten. Schließlich hatte mein Bruder jede Menge Kinderkrankheiten von dort mit nach Hause gebracht. Das wollte sie unter keinen Umständen noch einmal mitmachen. Stattdessen kam sie auf die Idee, uns mit gut vier Jahren (1963) sechs Wochen lang zur „Kinder-Erholung“ in ein Kinderheim in Bad Salzuflen zu schicken. Dieses Kinderheim erschien mir dann wie die Hölle auf Erden. Wir waren den Erzieherinnen dort völlig hilflos ausgeliefert. Und diese erprobten an uns wehrlosen Kindern ihre Auffassung von Pädagogik. Nach einem Spaziergang mit einer Erzieherin stand z.B. bei der Rückkehr die Heimleiterin in der Tür. Sie fragte jedes einzelne Kind, ob es seine Mütze dabei habe. Natürlich hatte keines der Kinder seine dabei; wenn man sie Vier-/Fünfjährigen nicht aufsetzt, bleibt die Mütze eben zu Hause. Die Strafe dafür war pervers: Erst gab es mit dem Rohrstock Prügel, dann mussten wir uns zwei Stunden lang im Spielzimmer an die Wand stellen, die Hände auf dem Rücken, und den beiden Kindern der Heimleiterin beim Spielen stundenlang zuschauen. Wer zum Beispiel sein Essen nicht aufessen wollte, weil er es einfach nicht mochte, bekam es solange täglich vorgesetzt, bis er es gegessen hatte - auch, wenn es in der Zwischenzeit schon Schimmel angesetzt hatte. Ich erinnere mich noch daran, dass ich auf diese Art und Weise tagelang mit giftgrünem Wackelpudding, den ich nun wirklich überhaupt nicht leiden konnte, konfrontiert wurde. Schließlich, irgendwann, habe ich ihn gegessen, damit ich endlich von diesem Stuhl aufstehen durfte. Den Schimmel habe ich untergerührt, damit man ihn nicht so ‘rausschmeckte. Es war jetzt Vorweihnachtszeit, und der 6. Dezember nahte. Und mit dem Nikolaustag auch der heilige Sankt Nikolaus und sein Gehilfe, Knecht Ruprecht. Dieser sah rabenschwarz und furchteinflößend aus. Wir saßen alle ganz still auf unseren Plätzen und wagten nicht, einen Mucks zu sagen. Der kleine Ulf wurde zuerst aufgerufen. Verschüchtert stand er auf und trat nach vorne. „Na, warst du denn auch artig?“, fragte der Nikolaus. Ulf schaute ängstlich zu ihm auf und nickte vorsichtig. „Das glaube ich nicht!“, erwiderte der Nikolaus mit seiner tiefen Stimme, „Hier in meinem Buch stehen alle deine Schandtaten!“ Der Nikolaus las ihm laut alles vor, was er an ihm auszusetzten hatte, angefangen von der vergessenen Mütze bis hin zu einer Rangelei mit einem anderen Jungen. Wir hielten alle gebannt und voller Angst den Atem an. Anschließend gab es statt der erhofften Süßigkeiten Prügel. Der schwarze Knecht Ruprecht holte seine Rute hervor und prügelte auf den kleinen Ulf ein, bis die Rute entzwei ging. Dann war das nächste Kind an der Reihe. Vier Wochen waren meine Schwester und ich schon in diesem Kinderheim, als ich krank wurde: Scharlach. Sie verfrachteten mich in ein Krankenhaus, in die Isolierstation. Nun war ich plötzlich auch noch von meiner Schwester getrennt, um mich herum ab und zu weißgekleidete, fremde Leute. Den Tagesablauf konnte ich nur durch eine winzige Glasscheibe wahrnehmen, in die Isolierstation kam keiner sonst rein. Niemand hielt es für nötig, meine Eltern darüber zu informieren, dass ich in einem Krankenhaus war. Niemand kümmerte sich um mich oder besuchte mich. Ich war vier Jahre alt, hatte keine Ahnung, wo ich war, kannte niemanden und kam mir unendlich einsam und verlassen vor. Vierzehn Tage lang weinte ich fast ununterbrochen vor mich hin; ich hatte Heimweh nach meiner Schwester und war in der Zwischenzeit zu der festen Überzeugung gelangt, dass ich hier nie wieder herauskommen würde wohl und für immer hier bleiben müsste. Als ich alle Hoffnungen schon fast aufgegeben hatte, öffnete sich plötzlich meine Tür und eine Krankenschwester nahm mich bei der Hand. „Deine Eltern holen dich jetzt gleich ab“, erklärte sie mir freundlich. Ich konnte es gar nicht glauben: ein Wunder war geschehen! Willig ließ ich mich von ihr in das Foyer führen. Sie bedeutete mir, auf einem freien Stuhl Platz zu nehmen. „Es dauert nicht mehr lange!“, meinte sie. Während ich vor Aufregung ganz zappelig auf meinem Stuhl saß, sprach mich ein Mann in einem blau-weiß-gestreiften Bademantel neben mir an: „Na, worauf wartest du denn?“ Ich strahlte ihn geradezu an. „Mami und Papi holen mich jetzt ab!“, erklärte ich ihm. „Das glaubst du aber auch nur!“, antwortete mir der Mann. „Siehst du dort den großen Lastwagen?“. Ich blickte aus dem Fenster und nickte. Ein riesiger Lieferwagen war rückwärts vorgefahren, um irgendetwas auszuliefern. Die Heckklappe war heruntergeklappt und man konnte durch die geöffnete Klappe in das dunkle Innere des Lastwagens sehen. Es sah aus wie eine große, schwarze Höhle. „Da kommst du jetzt ‘rein!“, erklärte mir der Mann. „Dann machen sie die Klappe zu und du bleibst für immer in diesem schwarzen Loch. Deine Mami und deinen Papi siehst du nie wieder!“ Ich erschrak fast zu Tode. Zuzutrauen war es ihnen, sie hatten mich ja auch eine Ewigkeit mutterseelenallein in dieses vergitterte Zimmer gesteckt! Die Krankenschwester, die kurz darauf kam,...