Die Wissenschaft entdeckt die Heilkraft der Gedanken
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-99001-303-8
Verlag: edition a
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Autoren/Hrsg.
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EINE HARTE NUSS
Wenn Maximilian Knopfer so weitermacht, schaufelt er sich sein eigenes Grab. Seine Frau Theresa dreht ihm den Fernseher ab, als ich eintrete. Dafür ernte ich einen missmutigen Blick von ihm. Breitbeinig sitzt er in der Mitte der Couch, dem Zentrum dieses vorwiegend dunkelbraun möblierten Wohnzimmers. Rechts von ihm steht eine Schüssel mit Chips. Links von ihm lag die Fernbedienung, die Theresa ihm soeben wegnahm. So ungefähr stellte ich ihn mir vor, den ehemaligen Herrn Schuldirektor. Die schütteren Haare des 68-Jährigen sind schon völlig ergraut. Der Bauch auffällig gerundet, sonst eher schmächtig, aber mit ausgeprägter Kinnpartie, die auf dieselbe Sturheit hindeutet, wie ich sie von seiner Tochter Klara kenne. Mit einem freundlichen Lächeln gehe ich auf ihn zu und strecke ihm die Hand entgegen. »Guten Tag, Herr Knopfer!« »Meine Hände sind schmutzig«, meint er, deutet auf die Chips und hebt mir nicht einmal das Handgelenk zum Gruß entgegen. Theresa erstarrt und möchte augenscheinlich im Boden versinken. Sie hatte mir ihren Maximilian als klug, witzig und charmant beschrieben. Aber schwierige Patienten bin ich gewohnt. Meine Hand bleibt ausgestreckt. Mit einem Lachen frage ich ihn geradeheraus: »Wollen Sie mich vor den Kopf stoßen?« Kurz zeichnet sich Verblüffung in seinem Gesicht ab, dann ein Schmunzeln. Er nimmt meine hingestreckte Hand mit seiner Rechten und schüttelt sie. Als er mich loslässt, kann ich das Fett und die Krümel an meiner Handfläche spüren. »Ihre Hand war wirklich schmutzig«, stelle ich lächelnd fest. »Danke für die Warnung.« Ich blicke mich suchend um, kann keine Servietten auf dem Couchtisch ausmachen. Theresa errät meine Gedanken und ist flink mit Reinigungstüchern zur Stelle. Im Gegensatz zu ihm ist sie schlank und sehr agil. Bis vor vier Jahren hat sie an einem Gymnasium Deutsch und Latein unterrichtet. Seit sie in Pension ist, hat sie einige neue Hobbys für sich entdeckt. Erst seit sechs Monaten ist sie meine Patientin, ihre Tochter schon seit vielen Jahren. Daher weiß ich bereits recht viel über Maximilian Knopfer. Trotzdem verlangt es meine Professionalität als Ärztin, dass ich seine Krankengeschichte mit ihm persönlich durchgehe. Also frage ich: »Darf ich?«, nehme mir mit frisch abgewischten Händen den Stuhl neben der Couch und setze mich zu ihm. »Wollen Sie Chips?« Mit schelmisch unschuldiger Miene streckt er mir die Schüssel hin. »Chips sind ungesund«, halte ich ihm entgegen und greife zu. Das verblüfft ihn offensichtlich einmal mehr. Bei anfänglich verschlossenen Patienten agiere ich meistens so. Wenn sie überhaupt zugänglich sind, dann mit Humor. »Sechs von zehn Punkten«, bewerte ich die Chips. »Die Sünde wirklich wert sind die mit extra Chili. Aber die sollten Sie erst probieren, wenn es Ihren Nieren wieder besser geht.« Womit wir beim Thema wären. Er verschränkt die Arme und lehnt sich zurück. Ich bitte ihn und Theresa, mich zu unterbrechen, wenn etwas nicht stimmt, und referiere seine Krankengeschichte. Maximilian Knopfer leidet seit Jahren an einer chronischen Niereninsuffizienz, was ihn zunächst nicht beeinträchtigte. Denn selbst wenn, wie bei ihm, bereits mehr als die Hälfte des Nierengewebes nicht mehr funktionstüchtig ist, entgiften die Nieren das Blut noch ausreichend. Die Ursache für seine Nierenerkrankung ist ein seit vielen Jahren bestehender Bluthochdruck. Da ein zu hoher Blutdruck keine Schmerzen verursacht, bemerkte er ihn lange Zeit nicht. Er ging noch nie gerne zum Arzt. »Zum Schluss finden die noch was«, war sein Argument gegenüber Theresa. Ein über Monate und Jahre erhöhter Blutdruck schädigt allerdings die Blutgefäße. Sie verdicken und verengen sich, um dem zu hohen Blutdruck entgegenzuwirken. Dadurch werden die Organe aber nicht mehr ausreichend durchblutet, was wiederum Anlass zum Anstieg des Blutdrucks gibt. Ein Teufelskreis. Bei Maximilian Knopfer waren vor allem die Blutgefäße der Nieren betroffen. Er hat mit der Einnahme der Blutdrucktabletten zu spät begonnen, die Nierenfunktion war bereits beeinträchtigt. Doch immerhin normalisierte sich der Blutdruck wieder, und über eine längere Zeit verschlechterte sich die Nierenfunktion nicht weiter. Aber seine Knieschmerzen nahmen zu. Wahrscheinlich wegen ungesunder Ernährung und dem bedenklichen Mangel an Bewegung. An dieser Stelle meines kurzen Referats rümpft er die Nase. »Ja, Sie sind eine extreme Couch-Potato«, sage ich ihm geradeheraus, aber ohne Vorwurf, und fahre mit den Fakten fort. Seit seiner Pensionierung vor sieben Jahren geht er kaum noch aus der Wohnung und lässt seine seit jeher schwache Muskulatur weiter verkümmern. Vor vier Monaten wurden seine Knieschmerzen unerträglich. Die Untersuchung beim Orthopäden ergab eine starke Abnutzung beider Kniegelenke. Maximilian Knopfer nahm Schmerztabletten, um schmerzfrei schlafen zu können. Da passierte es: Die Schmerztabletten schädigten die ohnehin bereits angeschlagenen Nieren noch weiter. Ein akutes Nierenversagen war die Folge. Er musste sich im Krankenhaus einer Dialyse unterziehen. Eine vorübergehende Blutwäsche rettete ihn vorerst. Die Nieren erholten sich ein wenig. Maximilian Knopfer ist nun in engmaschiger Kontrolle beim Nierenfacharzt. Eine dauerhafte Dialyse steht im Raum. Das bedeutet: dreimal wöchentlich für mehrere Stunden ins Krankenhaus, um sich dort an einen Apparat für Blutwäsche anhängen zu lassen. Das ist selbst für eine Couch-Potato eine massive Einschränkung der Lebensqualität. »Um das abzuwenden, bin ich hier«, schließe ich meine Ausführungen. Sein Kommentar besteht in einer wegwerfenden Handbewegung. Prompt mache ich seine Bewegung nach und frage ihn amüsiert: »Was meinen Sie damit?« Er zuckt die Achseln. »Mein Nierenarzt ist angeblich der allerbeste. Wenn der mir schon nicht helfen kann, was soll ich dann mit Ihnen?« »Na etwas zusätzlich ausprobieren«, entgegne ich ihm und zwinkere ihn an. »Aber natürlich können Sie mich auch wegschicken und weiterhin schleichenden Selbstmord begehen«, sage ich leicht und fröhlich. »Es ist Ihr Leben.« Daraufhin verschränkt er wieder die Arme und schaut an mir vorbei zum Fernseher. »Was würde Sie wirklich glücklich machen?«, frage ich ihn. »Stellen Sie sich einen möglichst konkreten Moment vor, eine Szene in Ihrem Leben.« Er schweigt. »Wir können auch mit einer anderen Frage beginnen: Wovor haben Sie die meiste Angst?« »Was soll das werden?«, fragt er mürrisch. »Eine Psychotherapie?« »Nein. Ich will Ihnen die Art des Denkens vermitteln, die Ihre Gesundheit positiv beeinflusst.« »Also Esoterik.« »Nein. Knallharte Wissenschaft. Ich bin nämlich Pathologin. Wir Pathologen sind die mit dem Mikroskop, die sich Ihr kaputtes Nierengewebe anschauen. Wir nehmen es mit der Wissenschaft sehr genau.« Darauf weiß er keine Antwort. Wieder lehnt er sich zurück, schaut an mir vorbei und schweigt. »Ein Anfang wäre, sich einzugestehen, dass Sie wirklich Angst vor der dauerhaften Dialyse haben«, sage ich ihm. »Sie haben solche Angst, dass Ihre Frau es tatsächlich geschafft hat, Sie zu diesem Termin mit mir zu überreden. Obwohl Sie sich eigentlich nur in Ihrem Unglück eingraben und gar nicht mit mir reden wollen. Und weil Sie das nicht wollen …«, ich erhebe mich und strecke ihm die Hand hin, »… gehe ich jetzt wieder.« Theresa wird schlagartig kreidebleich. Regelrecht angefleht hat sie mich um diesen Hausbesuch. Ich weiß, ich bin ihre letzte Hoffnung. Aber so wird das nichts. Ihr Mann muss meine Hilfe von sich aus wollen. Sonst kann ich nicht mit ihm arbeiten. Da er meine Hand nicht ergreift, ziehe ich sie zurück. »Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute. Wenn Sie es sich anders überlegen, würde ich mich freuen.« Ich drehe mich um und gehe zur Tür. Theresa kommt mir nach, geleitet mich durch das Vorzimmer zur Wohnungstür. »Ich geniere mich so sehr«, flüstert sie. »Er ist wirklich kein schlechter Mensch, wissen Sie?« In ihren Augen glitzern Tränen. »Er ist nur so verbittert.« Ich lege meinen Arm um sie. »Versuchen Sie nicht mehr, ihn zu überreden. Es muss von ihm kommen.« Sie nickt und wischt sich die Augen. »Mein Maximilian schafft das.« Ich nehme ihre Hände und drücke sie. »Ich drücke Ihnen fest die Daumen.« Wer glaubt, ein Patient wie Maximilian Knopfer sei ein extremer Fall, der irrt. Solche Fälle sind relativ häufig. Patienten wie Maximilian Knopfer ziehen sich im Endstadium ihres Leidensweges so weit wie möglich aus dem sozialen Leben zurück. Damit entziehen sie sich unserer Wahrnehmung. Es sind all jene, die im Grunde davon überzeugt sind, ihre Krankheit sei Schicksal. Die Gene seien eben schlecht. Oder die Krankheit sei eben Pech. Es beginnt mit einem Schicksalsschlag. Wie bei Maximilian Knopfer. Dass sein Blutdruck unbemerkt die Niere zerstört, ist schon schlimm genug. Genau diese Patienten erhalten im Laufe der Zeit weitere Schicksalsschläge. Bei Maximilian Knopfer sind es die Knieprobleme, das akute Nierenversagen und obendrauf noch die drohende Dialyse. Das ist wirklich unfair. Solche Patienten fragen sich: Womit habe ich dieses Pech verdient? Sie lassen sich in ihr Unglück fallen und unternehmen von sich aus keine nennenswerten Anstrengungen, um wieder gesund zu werden. Sie wollen behandelt werden, und fertig. Für ihre Gesundheit sind die Ärzte zuständig. Wenn diese nicht weiterwissen, dann ist das das Ende. Diese Patienten glauben einfach nicht daran, dass sie selbst maßgeblich über die Maßnahmen der Experten hinaus zu ihrer Gesundheit beitragen...