Schmid Die Wilden Küken 4. Es spukt!
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-86272-760-5
Verlag: Dressler
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 4, 256 Seiten
Reihe: Die Wilden Küken
ISBN: 978-3-86272-760-5
Verlag: Dressler
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thomas Schmid, 1960 in Landshut/Bayern geboren, wollte als Kind entweder Stuntman oder Schriftsteller werden. Dann studierte er Literatur-, Theater- und Kommunikationswissenschaften und ist heute als freier Autor tätig. Außer Büchern für Kinder und Jugendliche schreibt er auch Drehbücher fürs Fernsehen, u.a. für 'Marienhof', und für den Hörfunk, u.a. für das satirische Kindermagazin 'Sonntagshuhn' des Bayerischen Rundfunks. Er lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Niederbayern.
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Lilli lag an Deck der Mystery und blinzelte in die Wolken. Das Schiff schaukelte sanft auf dem Weiher, und die Seile, mit denen es am Steg vertäut war, knarrten leise. Am Ufer fuhr ein Windstoß rauschend in die Blätter der Weide, und Lilli fühlte sich so leicht, als würde sie schweben.
Enya balancierte auf der Reling und Bob kam gerade mit einem Strauß Löwenzahn in der Hand die Leiter heraufgeklettert. Very, die sich auf dem Dach der Kükenkajüte sonnte, blickte von ihrer Zeitschrift auf, streckte ihr langes Bein vom Dach und öffnete mit dem Fuß die Tür. Bussi flatterte gackernd aus der Kajüte und rupfte Bob sofort ein paar Blätter aus der Hand. Enyas Huhn Ines lugte neugierig um die Ecke.
Lilli schnappte sich erst Birdie und reichte sie zu Very hinauf, dann hob sie ihr eigenes Huhn Flocke aus seinem Nest. Sofort versteckte es den Kopf in Lillis Armbeuge. Lilli streichelte das weiße Bündel mit einem Löwenzahnblatt, bis Flocke neugierig den Kopf reckte und nach dem Grünzeug pickte.
»Willst du dein Horoskop hören, Lilli?« Very rettete ihre Zeitschrift vor Birdies Krallen und las laut vor: »Lust und Liebe: Löwen steht der Sinn nach Erlebnissen der besonderen Art. Venus und Jupiter sorgen für Gefühlsschwankungen und bescheren Single-Löwen leidenschaftliche Begegnungen.«
Lilli schüttelte ihre mahagonifarbenen Locken. »Ich glaub nicht an die Sterne!«
Very ließ ihre Stimme möglichst geheimnisvoll klingen. »Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als du denkst, meine Liebe!«
»Hört sich ganz nach deiner esoterischen Mutter an.« Enya zupfte ihrem Huhn den Schnürsenkel ihres Turnschuhs aus dem Schnabel. »Das ist kein Wurm, Ines!«
Bob beschattete mit der flachen Hand ihre Augen und blickte zu Very hinauf. »Hat es der neue Guru deiner Mutter inzwischen geschafft, allen bösen Spirit aus eurer Villa zu vertreiben?«
Very verdrehte die Augen. »Das ganze Haus stinkt schon nach seinen indianischen Räucherstäbchen. Hartmut hat gestern sogar in der Firma übernachtet.« Very nannte ihre Eltern nicht Mama und Papa, sondern Hartmut und Ilona. »Hartmut sagt, er ist allergisch gegen Präriebeifuß und Zedernspitzen, aber Ilona ist begeistert …«
»Pscht!«, machte Lilli so plötzlich, dass Flocke ihr aus dem Arm flatterte. »Habt ihr das gehört? Das kam vom Keltenwald!«
Die Wilden Küken lauschten, hörten aber nichts mehr. Hatte Lilli sich getäuscht? Hastig kramte sie ein kleines Fernglas aus ihrem Rucksack und suchte damit den Waldrand ab. Aber außer einem auffliegenden Vogel konnte Lilli nichts Ungewöhnliches entdecken.
»Was ist das denn für ein altmodisches Ding?«, fragte Enya.
»Das ist ein Operngucker«, erklärte Very von oben. »Damit sieht man der Sängerin ins Dekolleté.«
Auf dem Kajütendach kniend, machte Very ein schmachtendes Gesicht und presste theatralisch die Hände an ihr imaginäres Dekolleté. »Oh, die Liebe, die Liebe, die Liebe hat mir das Herz gebrochen.«
»Fall nicht runter, sonst bricht sie dir auch noch das Bein!«, sagte Lilli und grinste.
Ein Sonnenreflex glänzte auf dem Messing des Opernguckers. Leider war der Riemen, mit dem man sich das Fernglas um den Hals hängen konnte, auf der einen Seite ausgerissen. Lilli hatte ihn provisorisch mit einem Stück Wolle an die Öse geknotet. Die Schrift auf dem spröden Leder war unleserlich geworden. Mit dem Wort In fing der Text an und endete mit Nadja. Die Buchstaben dazwischen waren nicht mehr zu entziffern.
Nadja war Lillis Mutter. Sie hatte sich kurz nach Lillis Geburt auf und davon gemacht und sich dann elf Jahre nicht mehr gemeldet. Wie immer, wenn Lilli daran dachte, bekam sie auch jetzt einen Kloß im Hals. Sie polierte mit dem Ärmel über den Operngucker. In den letzten Ferien hatte Lilli ihre Mutter zum ersten Mal richtig kennengelernt. Nadja war ihr damals bis in den italienischen Ferienort Roccamare nachgereist. Und auf einer gemeinsamen Motorradtour zum Monte Lucertola waren sie sogar so etwas wie Freundinnen geworden.
»Ist das vom Flohmarkt?« Neugierig schob Bob ihren Kopf über Lillis Schulter und deutete auf das altmodische Fernglas.
»Nö, gestern beim Aufräumen im Keller gefunden.« Lilli knuffte Bob. »Seit deine Tante bei uns eingezogen ist, werd ich andauernd zu so was verdonnert!«
Bobs Tante Luisa war schon seit einiger Zeit die Freundin von Lillis Vater und außerdem die Englischlehrerin der Wilden Küken.
»Pscht!« Ruckartig richtete sich Enya auf. »Seid doch mal still!«
»Es hat doch keine was gesagt!« Very strich sich die Haare aus der Stirn.
»Pscht, jetzt!« Enya hob mahnend die Hand.
Lilli hatte sich vorhin nicht getäuscht, da war es wieder.
Wie Trichter hielt Bob die Hände hinter ihre knubbeligen Ohrmuscheln. »Jetzt hör ich's auch!«
Very legte den Kopf schräg und eine blonde Strähne schwang ihr wieder ins Gesicht. »Als würde jemand Holz sägen!«
Lilli kletterte zu Very aufs Kajütendach und spähte durch den Operngucker.
»Siehst du was?« Enya scheuchte die Hühner in die Kajüte.
»Es gibt tatsächlich mehr Dinge zwischen Himmel und Erde«, murmelte Lilli. »Und zwar Jungs!«
Eilig schloss Enya die Kajütentür und schob den Riegel vor.
Bob öffnete die Deckelkiste an der Seitenwand. »Zum Glück haben wir unsere neue Feuerspritze.« Sie rollte den Schlauch aus und warf das lose Ende in den Weiher.
»Sieht nicht so aus, als wollten sie angreifen. Sie klettern nur in den Bäumen herum wie die Affen.« Lilli reichte Very das Fernglas.
Mit einem tiefen Seufzer der Enttäuschung holte Bob ihren Schlauch wieder ein. Seit sie die alte Pumpe auf dem Flohmarkt gekauft hatte, hoffte sie auf eine Bewährungsprobe. Aber bisher war die handbetriebene Wasserspritze nur beim Deckschrubben zum Einsatz gekommen.
Very drehte am Messingrädchen des Opernguckers herum. »Ich seh nix. Weder Jungs noch Affen. Nur Bäume.« Sie gab Lilli das Fernglas zurück und klimperte mit ihren langen Wimpern. »Kann es sein, dass du jetzt auch schon tagsüber von Ole träumst?«
Bevor Lilli sie schubsen konnte, sprang Very freiwillig vom Kajütendach. Verärgert warf Lilli ihr die Zeitschrift hinterher. »Ich hab sie eindeutig gesehen, und zwar alle drei.«
Mit alle drei meinte Lilli die Grottenolme. Die Grottenolme waren genau wie die Wilden Küken eine Bande. Lilli war das Oberküken der Mädchen und Ole war der Boss der Jungs. Zu Oles Bande gehörten sein Zwillingsbruder Little und sein bester Freund Mitch. Mitch hieß wirklich Mitch. Mitch Mittermeier. Und Ole hieß wirklich Ole. Nur Little hieß nicht Little, sondern eigentlich Linus. Aber alle nannten ihn nur Little, manche auch Professor Little. Ein paar in der Klasse hielten ihn für einen Streber, aber das war Little nicht, er hatte einfach nur ein phänomenales Gedächtnis. Er meldete sich nur ganz selten freiwillig, aber immer, wenn es sich die Lehrer leicht machen wollten, nahmen sie Little dran. Also ziemlich oft. Zum Glück war Ole kein solcher Alleswisser. Die Ähnlichkeit zwischen den Brüdern beschränkte sich auf ihr Äußeres. Vom Charakter her waren sie von Grund auf verschieden. Natürlich hatten beide die gleiche Augenfarbe, aber so tiefblau, dass Lilli manchmal sogar davon träumte, waren nur die Augen von Ole.
Wieder und wieder suchte Lilli jetzt mit dem Operngucker den Waldrand ab. Sie hatte sich vorhin doch nicht getäuscht?! Nein, hatte sie nicht! Zwischen den Blättern bewegte sich etwas und ein Lichtreflex leuchtete auf. Mit angehaltenem Atem stellte Lilli die Sicht schärfer. Im Wipfel einer hohen Buche hockte Ole auf einem Brett zwischen zwei Ästen und hielt ein Fernglas in der Hand. Lilli rutschte vor Schreck fast vom Kajütendach. Einen Augenblick lang war das Fernglas direkt auf sie gerichtet. Nicht sie hatte Ole im Visier, sondern er sie! Wie ertappt, ließ sie den Operngucker sinken, fasste sich aber gleich wieder. »Schaut alle nach oben«, rief sie schnell und zeigte an Oles Beobachtungsposten vorbei in den Himmel. Gerade so, als wollte sie die Freundinnen auf einen eben entdeckten Vogel aufmerksam machen. »Tut ganz unauffällig, wir werden beobachtet!«
Lilli kletterte vom Kajütendach. »Kommt! Wir tun so, als würden wir nach Hause fahren.« Sie schulterte ihren Rucksack und kletterte von Bord. Erst unten auf dem Steg, im Sichtschutz der Mystery, zeigte Lilli den anderen Küken die genaue Position der Olme an und umriss in wenigen Worten ihren Plan.
Kurz darauf schoben die Wilden Küken ihre Räder durchs kniehohe Gras der Weiherwiese. Für ihre Beobachter oben am Hügelkamm sollte es so aussehen, als wollten sie Richtung Landstraße. Aber kaum hatten sie den Feldweg erreicht, bogen sie nicht Richtung Stadt ab, sondern radelten bergauf, ließen hinter der nächsten Kurve die Fahrräder im Graben liegen und verschwanden im Schatten des Keltenwaldes.
So schnell sie konnten huschten sie den Waldrand entlang.
In Gedanken war Lilli eine indianische Waldläuferin. Lillicahontas lief seit mehreren Stunden. Die weißen Siedler hatten ihr alles geraubt. Ihren Bogen, den Köcher, die Pfeile – und sogar das geheime Totem mit den Geheimnissen ihrer Ahnen. Die Bleichgesichter hatten Pferde, Lillicahontas hatte nur ihre Ausdauer und den ungebrochenen Willen einer Indianerprinzessin … Völlig aus der Puste blieb Lilli stehen. Sie lüftete ihre dichten rotbraunen Locken und wischte sich den Schweiß aus dem Nacken. Neben ihr verhedderte Very sich immer mehr in den Brombeerranken. »Mist, die Hose hab ich erst letzte...




