E-Book, Deutsch, 512 Seiten
Schischkin Die Eroberung von Ismail
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-15946-7
Verlag: DVA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 512 Seiten
ISBN: 978-3-641-15946-7
Verlag: DVA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Es beginnt mit der Erschaffung der Welt - in einem Abteil der Belebeier Schmalspurbahn, tief in der russischen Provinz. Und damit, dass Alexander Wassiljewitsch, gestandener Provinzadvokat und Anwalt der Erniedrigten und Beleidigten, seinen Lebenslauf fürs Kompendium der Gerichtsrede zu schreiben hat. Daraus erwächst eine große Abrechnung, etwas wie Russlands Jüngster Tag. Im Zeugenstand die hohe Literatur: von Tolstois 'Auferstehung', dem berühmtesten aller russischen Gerichtsromane, über Dostojewskis 'Verbrechen und Strafe' bis hin zu Olga, Katja, Mascha, Larissa, all den tapfer beharrenden und tragisch vergehenden Frauen im Roman wie im Leben. Und immer wieder schieben sich die Erlebnisse eines jungen Mannes dazwischen, der Michail Schischkin heißt und vom chaotischen Moskau der 1990er Jahre einen langen Abschied nimmt.
Michail Schischkin ist einer der meistgefeierten russischen Autoren der Gegenwart. Er wurde 1961 in Moskau geboren, studierte Linguistik und unterrichtete Deutsch. Seit 1995 lebt er in der Schweiz. Seine Romane 'Venushaar' und 'Briefsteller' wurden national und international vielfach ausgezeichnet, u.a. erhielt er als einziger alle drei wichtigen Literaturpreise Russlands. 2011 wurde ihm der Internationale Literaturpreis Haus der Kulturen der Welt in Berlin verliehen. Sein Roman 'Die Eroberung von Ismail' wurde u.a. mit dem Booker-Prize für das beste russische Buch des Jahres ausgezeichnet.
Weitere Infos & Material
Hör zu, Kindchen, ich erzähl dir was, ein wundersames Märchen. Es geschah vor tausend Jahren, als an dich noch nicht zu denken war.
Bis jetzt habe ich das für mich behalten. Dir, mein Töchterlein, kann ich es erzählen, weil du es ja sowieso nicht verstehst, also pass auf.
Dein Papa war damals noch ein ganz anderer, als du ihn kennst, ein Jüngling noch, und seine Eltern waren noch am Leben. Ein Jüngling, weißt du, was das ist? Das ist so ein milchbärtiges Wesen, das auf Kricket und Bowling steht, bei Pfänderspielen den Ton angibt und den Mädchen frech kommt. Nachts dann actio hypothecaria und actio pigneratitia büffelt. Und eines Morgens, der Wind blies den Schnee zum Platz mit den drei Bahnhöfen, er hatte die halbe Nacht durchgepaukt und darum verschlafen, musste sich sehr beeilen, um pünktlich zum Examen zu kommen, raste die Treppe hinab, strauchelte an ihrem Ende, glitt aus und wäre beinahe gestürzt, weil der Hausmeister mit dem schwappenden Wassereimer durchgekommen war, stieß er in der Tür mit dem eingeschneiten Briefträger zusammen, der ein Telegramm für ihn hatte. Er öffnete es erst in der Straßenbahn. Darin teilte der Vater ihm ohne Punkt und Komma mit, dass die Mutter des Jünglings plötzlich und unerwartet verstorben sei, und das Begräbnis finde dann und dann statt. Nach Möglichkeit bitte kommen, telegraphierte der Vater. Der Jüngling langte in der Universität an, mechanisch und ohne recht zu wissen, wie ihm geschah, ließ den Mantel in der Garderobe und stieg die Treppe zum Hörsaal hinauf. Dort wurde er gleich angesprochen: Man habe schon nach ihm gefragt. Er betrat den Prüfungsraum, wo Romanistikprofessor Platonow über ihn herfiel, ein schwerer, schlaffer Mann, das Katheder knarrte, wenn er es bestieg. Der Jüngling war sein Lieblingsstudent.
»Wo bleiben Sie denn! Ziehen Sie ein Billett, rasch-rasch, was stehen Sie wie ein Ölgötze, wie die steinerne Venus aus dem Hügelgrab!« Der Jüngling griff nach einem der auf dem purpurnen Samt des Tischtuchs aufgereihten Bögen.
Gefragt war nach dem Unterschied zwischen Dominium und Possessio. Des Professors Steckenpferd.
»Na, wie sich das trifft«, sagte dieser erfreut und rieb sich die Hände, »wir hatten ja schon das Vergnügen, junger Mann, dieses Thema miteinander zu erörtern. Dazu brauchen Sie gewiss keine Bedenkzeit, das extemporieren Sie uns doch, wenn ich bitten darf!«
Am langen Prüfungstisch saßen irgendwelche Graubärte, Derschawins des Russischen Rechts, auf dem letzten Loch pfeifend, die der Jüngling nun gefälligst mit seinen Kenntnissen verblüffen sollte.
Aufgeregt rutschte Platonow auf dem unter ihm knarzenden Stuhl herum. Jetzt passt mal auf, schien seine triumphierende Miene zu sagen: was der euch erzählt!
Der Jüngling wollte eine Erklärung liefern, das Telegramm vorzeigen – und wurde plötzlich gewahr, dass er kein Wort herausbekam, die Kiefer schienen miteinander verschraubt.
Immer noch rieb sich Platonow in Vorfreude die Hände, es hielt seinen massigen Körper kaum auf dem Stuhl. »Nun, was ist, junger Mann«, ermunterte er ihn mit brüchigem Bass, »vierzig Jahrhunderte blicken von diesen Pyramiden auf euch herab.« Brach auch gleich als Erster in meckerndes Lachen aus über sein Witzchen, puffte den Mumien zur Rechten und zur Linken die Ellbogen in die Seiten.
Zum ersten Mal sah der Jüngling in der von ihm vergötterten Koryphäe einen senil brabbelnden alten Mann, sein ewiges Dominium und Possessio als ödes Hirngespinst.
Platonow konnte nicht an sich halten. »Na los doch, Alexander Wassiljewitsch! Zur Attacke, mit Verve und Augenmaß, wie weiland Ihr Namensvetter General Suworow: Keul rein, schlag zu, hau drauf! Stumpf ist die Kugel, brav das Bajonett!«
Der Jüngling schwieg.
Der Professor begann sich Sorgen zu machen. »Was ist mit Ihnen, Verehrtester? Zu viel Aufregung? Soll vorkommen. Schießen Sie los, wir sind gespannt.«
Der Jüngling begann irgendetwas daherzureden.
Die Mumien warfen einander Blicke zu.
Platonow knetete sich abwechselnd die Hängenase und die fleischigen Ohren, sah entgeistert drein.
Als der Jüngling wieder verstummt war, nagte der Professor an seinen Lippen und sagte lange nichts, schüttelte nur den Kopf. Dann sprach er: »Ich bin sehr, sehr enttäuscht von Ihnen.«
Von der Universität fuhr der Jüngling mit der Straßenbahn über die Mjasnizkaja direkt zum Kasaner Bahnhof.
Er teilte sich das Abteil mit einem schläfrigen Obersten und einer Dame mit düsterem Blick und scharfen Krallen, die die ganze Zeit über einem dicken Manuskript saß, es mit Korrekturkürzeln versah. Dem Obersten sackte in Abständen die Nase zur Brust, und er begann zu schnarchen, wovon er wieder erwachte und den Jüngling nach seinen Zukunftsplänen befragte. Der Jüngling verzog sich auf die oberste Pritsche und tat, als schliefe er. Daraufhin wandte der Oberst sich der Dame zu.
»Hätten Sie die Güte, mit mir zu dinieren, Madame?«, fragte er sie und verließ, ohne die Antwort abzuwarten, das Abteil, kehrte den Rest des Tages nicht mehr wieder. Die Dame war derweil so gütig, ihr Schweigen aufrechtzuerhalten. Erst kurz hinter Pensa stieß sie missmutig hervor: »Junger Mann, wären Sie so freundlich, sich nach draußen zu begeben, ich möchte mich umziehen.«
Die Nacht im Zug konnte der Jüngling (natürlich ich, tut nichts zur Sache) nicht schlafen. Kamen wir durch irgendeine Station, brach Lampenlicht für Sekunden ins Abteil, ehe alles zurück in die Finsternis sank. Wenn der Oberst gerade nicht schnarchte, warf er sich von einer Seite auf die andere. Immer wieder baumelte sein Arm von der Pritsche; flogen draußen Lichter vorbei, ging ein Funkeln um den fetten Trauring. Mitunter gab es einen Halt, dann waren die Schritte der Rangierarbeiter unter dem Fenster zu hören, Hammerschläge gegen Metall.
Ich dachte an Mama. Erinnerte mich, wie ich in der Schule nach dem Unterricht auf die Toilette flitzte und die neuen Inschriften von der Wand kratzte, ehe sie einer sah – Schmähsprüche gegen sie, die Chemielehrerin, derer sich meine Mitschüler befleißigten. Und wie wir einmal in den Ferien in Pjatigorsk zu zweien über den Boulevard spazierten, sie wollte sich bei mir einhaken, als wäre ich ihr Kavalier, ich war vierzehn und ließ es nicht zu, genierte mich wohl.
All die Ängste meiner Kinderzeit fielen mir wieder ein. Als ich die Windpocken hatte und es draußen klingelte. Ich lag im Bett und schaute auf die gesprenkelte Wand – es gab unheimlich viele Mücken, man kam nicht nach, die Überreste abzuwischen. Unser Flügel hatte drei Ausgänge; einer führte direkt in die Aula, einer auf den Hof und der dritte auf die Straße. Das Klingeln kam von der Straßenseite.
Ich wusste nicht, wer es war, hörte Stimmen auf dem Flur und dann im Wohnzimmer. Der Vater war anwesend, es muss also Samstag oder Sonntag gewesen sein. Ich huschte aufs Klo und von da unbemerkt in die Küche. Der von den juckenden Pusteln geplagte Organismus verlangte nach Süßem. Ich stibitzte ein paar Brocken Pastila und zog mich auf Zehenspitzen zurück, als plötzlich ein Satz an mein Ohr drang, dessen Sinn mir nicht gleich aufging. Er kam aus meines Vaters Mund, wohl als Antwort auf eine Frage des unbekannten Gastes.
»Nein«, sagte mein Vater, »Sascha weiß nicht, wer seine richtige Mutter ist.«
Ich verkroch mich ins Bett. Die Pastila blieb in meiner Hand.
Kurz darauf wanderten die Stimmen wieder auf den Flur, die Wohnungstür klappte. Ans Fenster zu springen hatte keinen Zweck, es ging auf den hinteren Garten hinaus.
Der Vater kam ins Zimmer, Mama folgte ihm. Sie setzte sich zu mir ans Bett.
»Nanu, was haben wir denn hier?«
Sie öffnete meine Faust, in der die geschmolzene Pastila klebte.
Ich wollte fragen, wer da gewesen war und was das alles zu bedeuten hatte, doch meine Zunge war wie gelähmt, ich brachte kein Wort hervor. Der Gedanke, sie könnten hereingekommen sein, um mir irgendeine furchtbare, ungeheuerliche Wahrheit zu eröffnen, eine, die meine Welt auf den Kopf stellen, mein Leben kaputt machen könnte, ließ mich schaudern.
Logische Schlüsse, die anzustellen ein kindliches Hirn noch nicht bereit ist, waren schon in mir, zupften und zerrten: Wenn diese beiden – die gekommen waren, mir etwas Wichtiges zu sagen, und jetzt besorgt die Finger an meine Stirn legten, mit den Lippen über meine glühende Haut fuhren, alarmierte Blicke wechselten: Woher hat dieses Kind so plötzlich Fieber und Schüttelfrost? –, wenn diese Menschen nicht meine Eltern waren, was dann? Wer mochte diese Frau sein, die jetzt in der Schachtel mit den Pulvern und Tabletten wühlte, und wer der Mann, der im Nebenzimmer telefonierte, den Arzt bestellte? Und wer war dann ich? Was war geschehen, dass ich hier lag mit klebriger Faust und Arme und Beine nicht zu rühren vermochte? Wie war ich hier hergeraten? Wo musste ich nun hin? Und wer war, unter diesen Umständen, meine richtige Mutter? War der, der jetzt wieder hereinkam, mein richtiger Vater?
Der Arzt gab mir ein Pulver zu trinken, und ich schlief ein. Nach dem Erwachen, als Mama mir das gewohnte Glas Kakao ans Bett brachte, glücklich, dass ihr lieber Saschenka wieder auf der Höhe und der Spuk vorüber war, hatte ich auf einmal das Gefühl, als wäre mir und meiner Welt der Krieg erklärt worden; jener Unbekannte hatte ihr den ersten Schlag versetzt und ich ihn, ohne recht zu wissen, wie mir geschah, fürs Erste pariert. Mein Fieberanfall hatte die Eltern davon abgehalten, mir die Botschaft zu eröffnen, das Gespräch war erst einmal hinausgeschoben.
...