Schimmang | Das Beste, was wir hatten | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Schimmang Das Beste, was wir hatten


1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-96054-111-0
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-96054-111-0
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Was geschieht, wenn man in der Mitte des Lebens von den politischen Ereignissen überholt wird und alles, was man bis dahin für selbstverständlich angesehen hat, ins Strudeln gerät?

Jochen Schimmang erzählt die Geschichte von Leo Münks, Verfassungsschützer, und Gregor Korff, Ministerberater. Ihre Köln-Bonner BRD-Welt gerät mit der Wende ins Wanken:

Gregor erfährt, dass seine große Liebe, die ihn Mitte der Achtzigerjahre plötzlich verlassen hat, ein Stasi-Spitzel war; und Leo Münks wird ein Freund aus Berliner Studententagen, der ein Germania-Denkmal in die Luft sprengen will, beinahe zum Verhängnis. Schimmang, der Archivar der verschwindenden Dinge, hat einen klugen und sehr spannenden Roman über die letzten Jahrzehnte der Bonner Republik geschrieben.

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1 Der Schuppen
Der Regen hatte aufgehört, und sie fuhren auf ihren Rädern am Fluss entlang. Bisher war der Mai kühl und nass gewesen. In diesem Jahr hatten sie noch kein einziges Mal am Ufer im Gras gelegen. Nach dem Schauer kam die Sonne durch, und es schien erstmals richtig warm zu werden. Nott hielt an und ließ sein Fahrrad ins Gras fallen. Durch das Schilf sahen sie den Fluss vorbeiziehen: schnell und geschäftig, als müsse er heute noch irgendwo ankommen. Nott wollte sich hinsetzen, aber Gregor war das Gras zu feucht. »Ich würde mir lieber mal den Schuppen da drüben ansehen«, sagte er. Der Schuppen stand sechzig Meter vom Ufer entfernt, ein verwitterter Holzbau mit einer winzigen Veranda davor. Das Holz war einmal rostrot gewesen; inzwischen war es blass und hell. Gregor fühlte sich an die Laube erinnert, die früher in ihrem Schrebergarten in Thalheim gestanden hatte. Es war das einzige Gebäude hier weit und breit; der Rand der Stadt lag schon gut zwei Kilometer hinter ihnen. Sie untersuchten die Tür, die nicht abgeschlossen war. Gregor rief ein paarmal leise Hallo, aber es kam keine Antwort. Nott zog die unverschlossene Tür langsam auf, ohne dass etwas Schreckliches geschah. Sie waren auf Gestank gefasst, auf Ungeziefer, einen Tierkadaver vielleicht, irgendetwas Ekliges. Der Bau war jedoch ganz leer; nur eine lange Sitzbank stand an der gegenüberliegenden Wand. Es roch muffig, aber nicht widerlich. Der Schuppen war solide gebaut und überraschend warm. Die drei Fenster, zwei nach vorn und eins nach hinten, starrten fast blind. Sie waren keine Kinder mehr; dies hier sollte kein Unterschlupf für Tom Sawyer und Huckleberry Finn werden. Sie waren fünfzehn Jahre alt und sehnten sich nach Ruhm und nach Mädchen, mit denen man etwas anfangen konnte. Aber der Bau konnte ein Ort werden für sie. Er stand im Niemandsland, und kaum jemand kam hier vorbei. Wer immer diese Hütte einmal errichtet hatte, er war vielleicht gestorben oder hatte einfach keine Verwendung mehr dafür, und sie würden sie übernehmen: Nur sie beide, niemand sonst würde davon erfahren, das versprachen sie sich. »Ich besorge ein Schloss«, sagte Nott. »Ein Schloss?« »Wir müssen die Tür absperren können, wenn wir hier drin sind.« »Stimmt, ja. Kannst du das, ein Schloss einbauen?« »Kann ich, ja. Morgen Nachmittag. Danach putzen wir die Fenster.« Am nächsten Tag fuhren sie gleich nach dem Mittagessen dorthin und achteten darauf, dass ihnen niemand folgte. Es war noch wärmer geworden. Nott hatte einen Eimer voller Putzmittel mitgebracht und das Schloss mit zwei Schlüsseln. Nach zwei Stunden Arbeit unter Notts Anleitung hatten sie den leeren Schuppen gesäubert, und durch die Fenster fiel Licht, auch wenn innen noch immer ein angenehmer Halbdämmer herrschte. In der folgenden Woche brachten sie zwei Stühle mit und einen kleinen Tisch, alt und wacklig, den Nott aber neu verleimte. Nott war der Praktische. Alles konnte er reparieren; er wusste, wo es was gab, möglichst umsonst; er wusste auch, wie man den Schuppen noch etwas besser isolierte: »Schließlich wollen wir es im Winter hier ja auch noch aushalten.« Nott war der Handwerker, sah sich selbst aber eher als Künstler, und wirklich gab es keinen besseren Zeichner als ihn. Wie er zu seinem Namen gekommen war, wusste keiner mehr, aber alle riefen ihn so, denn sein richtiger Vorname (und der Familienname dazu) war eines dieser kühnen ostfriesischen Gebilde, die kaum jemand aussprechen konnte – schon gar nicht ein Zugewanderter wie Gregor Korff. Später baute Nott aus Polsterelementen noch ein Sofa zusammen und schleppte einen alten Sessel an, der an einer Stelle eine tiefe Kuhle hatte. Er brachte auch Decken mit, ein paar Gläser, Tassen, Löffel. Langsam wuchs der leere Raum zu und wurde zur Höhle. Da hatten sie schon angefangen zu spielen. Am liebsten spielten sie Beckett. Fin de partie. Ende, es ist zu Ende, es geht zu Ende, es geht vielleicht zu Ende. Genau der richtige Weltschmerz für sie. Er war ganz echt, aber sie lachten viel dabei. Ein paar Szenen spielten sie immer wieder, über Monate. Natürlich nicht Nagg und Nell: Eltern waren ganz uninteressant, Begleitpersonal, hier in diesem Stück und im Leben auch. Bei Nott gab es ab und zu Krach mit seinem Vater, aber Gregor hatte mit seinen Eltern gar keine Probleme. Sie waren irgendwie da, im Hintergrund, das war alles. Er kam gern nach Hause abends. Es machte ihm keine Schwierigkeiten, Geschichten zu erfinden, wo er nachmittags gewesen war. Selbstverständlich hatten auch seine Eltern keine Ahnung von dem Schuppen. Nott und er spielten Hamm und Clov. Nott saß im Sessel und spielte den Hamm, Gregor warf als Clov einen vorsichtigen Blick in die Außenwelt, wo das Leben leider immer noch nicht ganz erstorben war. Sie freuten sich mehr als an allem anderen an der Ausweglosigkeit, dem geschlossenen Raum: An der rechten und linken Wand je ein hoch angebrachtes Fensterchen mit geschlossenen Vorhängen. Eigentlich hatten sie den Schuppen entdeckt, um darin Beckett spielen zu können, den ganzen verregneten Sommer 1963 hindurch. Ohne Beckett hätten sie gar keine Augen für den Schuppen gehabt. Beckett war etwas ganz Besonderes. Existenzialist konnte jeder sein, ein paar schwarze Klamotten, eine Schachtel Gauloises und fertig. Den Existenzialismus hatten sie schon hinter sich. Über die Exis lächelten sie milde, wenn sie ihnen auch allemal lieber waren als die Spießer. Beckett dagegen war für die Auserwählten. Zum Schreien komisch. Tieftraurig. Wie geht es deinen Beinen, wie geht es deinen Augen. Und dein Pipi? Wird gemacht. Gregors Lieblingsstelle war Clovs träumerisches Bekenntnis zur Ordnung. Ich liebe die Ordnung, sagt Clov. Sie ist mein Traum. Eine Welt, in der alles still und starr wäre und jedes Ding seinen letzten Platz hätte, unterm letzten Staub. Keine Stelle spielte Gregor mit solcher Inbrunst wie diese. Natürlich hatten sie immer Angst, dass man ihren schönen Schuppen entdeckte. Wiederholt liefen draußen am Ufer Liebespaare entlang. Einmal hielt ein alter Mann auf seinem Fahrrad an und sah lange zu ihrem Bau hinüber. Was würden sie tun, wenn er herkäme? Wenn er durchs Fenster lugte oder an der Tür rüttelte? Aber schließlich fuhr er weiter, ohne den Schuppen näher inspiziert zu haben. Am gefährlichsten waren eigentlich die Kinder, die nachmittags manchmal am Ufer spielten. Kinder sind unberechenbar und neugierig. Einmal schlichen zwei kleine Jungen auf ihr Haus zu, aber dann trauten sie sich nicht. Vielleicht und dem Himmel sei Dank hatte der Bau etwas Unheimliches, Düsteres für Kinder. Vielleicht erinnerten sie sich an die Ermahnungen ihrer Mütter, nicht in solche leeren Häuser zu gehen, nicht an den Bahngleisen zu spielen, nicht auf den Hof der alten Fabrik zu gehen und sich überhaupt in Acht zu nehmen vor allem und jedem, das und den sie nicht kannten. Es mochte auch das Wetter sein, das Gregor und Nott vor der Entdeckung schützte. Das war in diesem Jahr meist nicht so, dass es die Paare verlockte, sich hier ins Gras zu legen oder gar ein Versteck zu suchen in ihrem Häuschen. Es blieb ihnen schließlich selbst überlassen, das Geheimnis des Schuppens zu lüften, im Herbst des nächsten Jahres. Aber noch spielten sie Beckett, oder Nott zeichnete Gregor, das Innere des Schuppens, die Flusslandschaft draußen. Sie rauchten und träumten von später und langweilten sich köstlich. Sie genossen diese Stunden sehr, in denen nichts geschah, sondern einfach nur Zeit verging. Manchmal sprachen sie auch über Mädchen, besonders über die Schwestern Fuchs, fünfzehn, vierzehn und dreizehn Jahre alt, genannt die Füchsinnen. Nicht Lyzeum, sondern Realschule, das war ohnehin besser. Gregor erzählte von einem französischen Film, den er gesehen hatte, Adieu Philippine, in dem es auch um Mädchen ging, und jeden Monat kauften sie das neue Heft von twen, wegen der Fotos vor allem. Ein bisschen warteten sie darauf, dass das Leben anfing, aber nicht ungeduldig. Sie hatten es nicht so eilig wie der Fluss, der da vorn an ihnen vorbeizog. Später im Jahr, als es nach dem verregneten Sommer in einen versöhnlichen, milden September überging, mit einer blaugrau zitternden Luft, in der an einzelnen Tagen schon rauchig der Herbst zu riechen war, brachte Nott ein Transistorradio mit. Sie hatten Mühe, einen vernünftigen Sender zu finden, aber manchmal gelang es ihnen, die Musik zu erwischen von der anderen Seite der Nordsee. Listen, do you want to know a secret … But I’ll get you, I’ll get you in the end … Aber vorher passierte noch die Geschichte mit diesem Mädchen in London, mit dieser jungen Frau, und die nahm ihnen fast den Atem. Die Affäre bekam ihren Namen nicht nach der jungen Frau, die Christine Keeler hieß, sondern nach dem englischen Kriegsminister, John Profumo. Der hatte kurz etwas gehabt mit der jungen Frau, die er im Haus von Lord und...


Jochen Schimmang, geboren 1948, studierte Politische Wissenschaften und Philosophie an der FU Berlin und lehrte an Universitäten und in der Erwachsenenbildung. Von 1978 bis 1998 lebte er in Köln, seit 1993 als freier Schriftsteller und Übersetzer. Jochen Schimmang ist heute in Oldenburg ansässig.
2010 erhielt Jochen Schimmang für seinen Roman Das Beste, was wir hatten den Rheingau Literatur Preis 2010. In der Begründung der Jury heißt es:
"Die Jury würdigt die minutiöse Bildbeschreibung, mit der die alte Bundesrepublik wiederbelebt wird - durch dichte Milieuschilderung über mehrere Jahrzehnte hinweg und die Erzählung über Figuren, die allmählich den Boden unter den Füßen verlieren. Jochen Schimmang hält den zahlreichen Büchern, die der DDR ihre Erinnerung und ihre Kritik nachtragen, einen Roman entgegen, der den Untergang auch der Bonner Republik zur erzählerischen Gewissheit macht. Eingeschlossen ist die Trauer über die Vergänglichkeit der Aufbrüche, das Verschwinden von Hoffnungen und das Verblassen von Träumen in ungemein blickgewisser Genauigkeit."
2012 erhielt er den Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar für Neue Mitte sowie die Künstlerstipendien der Villa Concordia in Bamberg und des Künstlerhauses Edenkoben.



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