E-Book, Deutsch, 250 Seiten
Schimmang Auf Wiedersehen, Dr. Winter
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-95764-108-3
Verlag: Hallenberger Media Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 250 Seiten
ISBN: 978-3-95764-108-3
Verlag: Hallenberger Media Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In sieben Erzählungen zeigt Jochen Schimmang ein Bild vom Vergehen der Zeit und Menschen, die Grenzen überschreiten.
Ob Gänseforscher in Ostfriesland oder der Kanzler, ob die platzenden Blasen der New Economy oder das Zusammentreffen mit einem ehemaligen Terroristen: Die immer wieder auftauchen Personen der Zeitgeschichte machen aus den Erzählungen unversehens eine kurze Geschichte der Bundesrepublik.
Freuen Sie sich auf einen besonderen Erzählband-Klassiker, den es nun endlich auch als eBook gibt!
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Schöne Suite hier
Marlou erkannte ich augenblicklich wieder, als sie hereinkam. Sie gehört zu den Menschen, die zwar altern, sich dabei aber nicht verändern: als wollten sie für immer dem einen strahlenden Bild gleichen, das damals, vor zwanzig Jahren, von ihnen in der Zeitung zu sehen war. Deshalb war ich über mein sofortiges Wiedererkennen keineswegs erstaunt. Nicht einmal über den Ort, an dem wir uns begegneten, wunderte ich mich. Ich hatte einen Freund in Hamburg besucht und fuhr nun zurück; kaum auf der Autobahn, saß ich schon fest im Stau, quälte mich zur nächsten Ausfahrt und trödelte danach über die Landstraßen der Lüneburger Heide nach Westen. Ein Samstagmittag im späten September, das erste fallende Laub, aber noch wärmte die Mittagssonne. In einem kleinen Ort, irgendwo zwischen Straßendorf und Städtchen, machte ich halt, um zu essen. Ein gehobenes Dorfgasthaus mit Zimmern, fast schon ein Hotel: in der Gaststube schweres, dunkles Mobiliar, hohe Stühle mit Armlehnen, hellrote Tischdecken. Auf jedem Tisch stand eine Vase mit Astern. Als Liebhaber des Halbdunkels wählte ich einen Eckplatz dem Eingang gegenüber; das Sonnenlicht reichte kaum mehr dorthin, und ich richtete mich ein in der Dämmerung. Auf der Karte stand schon Wild. Ich bestellte Hirschgulasch und besah mir die Gäste. Dicht an der Theke der Stammtisch; fünf Männer tranken dort und besprachen laut, zufrieden und ohne übertriebene Heimlichkeiten die Angelegenheiten des Ortes. Am Fenster zur Straße saß eine jüngere Familie, die fürs Wochenende eingekauft hatte. Tüten und Taschen standen auf dem Boden und der Sitzbank, die unter dem Fenster verlief. Der Mann war Mitte dreißig, seine Frau kaum jünger, zwei Söhne um zehn und zwölf hockten sehr artig und leise vor ihrem Essen und ihren Limonaden. Nur einmal erzählte der jüngere etwas lauter und freudig erregt von einem Comic, den er im Fernsehen gesehen hatte. Am Tisch daneben bekam ein älteres Ehepaar Heidschnuckenbraten serviert. Die Frau trug ein cremefarbenes, dabei nicht schrilles Kostüm über einer roten Bluse mit Schalkragen. Der Mann, der an der Schmalseite des Tisches saß und ihr die Saucière reichte, war in einen dunkelbraunen Anzug gehüllt, der nirgends kniff oder verrutschte, allerfeinster Stoff, das witterte ich selbst von meinem Tisch am anderen Ende des Raumes. Wohlhabende Urlauber oder Durchreisende, so schien mir, ein emeritierter Professor mit seiner Gattin etwa, froh, sich nicht mehr mit ahnungslosen und deshalb angriffslustigen Studenten auseinandersetzen zu müssen, in der Muße eines langen Alters angekommen. Mich rührte dieser Friede des Mittags und des nahen Wochenendes. Meine Liebe zur Provinz, meine Sehnsucht nach ihr ist nicht auszurotten. Selbst als knapp Zwanzigjähriger einem Kaff mit dreißigtausend Einwohnern entkommen, bin ich immer überaus erregt, wenn ich auf Reisen in eine solche Ortschaft einfahre. Auch bei Städtchen, in denen ich noch nie war, ist die Landnahme stets begleitet vom Zauber der Heimkehr und des Wiedererkennens. Vor allem an Samstagvormittagen, wenn die halbe Stadt auf den Beinen ist und womöglich ein Wochenmarkt abgehalten wird, wenn an jeder Ecke gegrüßt wird und palavert, erwacht auf der Stelle meine Liebe zum jeweiligen Ort, und es dauert gerade eine halbe Stunde, bis ich ernsthaft erwäge, mich in Rinteln oder Soest für immer niederzulassen. Da ich aber auch einige Male gesehen habe, wie spätestens nach zwei Uhr mittags die Straßen und Plätze sich vollständig leeren und alle Bewegung, alles Lachen und alles Palaver fast von einem Moment zum anderen erstirbt, habe ich bisher davon Abstand genommen. Das Hirschgulasch war gut und wie immer zuviel für meinen kleinen Hunger, und gerade hatte ich eine Tasse Kaffee bestellt, als Marlou hereinkam, im Gefolge den Bürgermeister, der ihr die Tür aufgehalten hatte. Sie trug einen hellschwarzen Kaschmirmantel über einem kurzen Rock, und auf ihren Lippen lag das Rot der frühen achtziger Jahre, das Rot aus dem Kurfürstenhof und der Eisbär-Bar. Die beiden gingen auf den Stammtisch zu, wo die Herren halb den Hintern anhoben, um Marlou zu begrüßen. Der Mann klopfte zweimal kräftig mit den Fingerknöcheln auf den runden Tisch und rückte dann seiner Frau einen Stuhl zurecht, auf den sie sich mit einem traurigen Strahlen setzte. Sie ließ auch einen Blick zu meinem Tisch schweifen, jedoch ohne ein Zeichen des Erkennens. Damals war ich als einer der ersten in der Stadt in einen Loft gezogen und durchdrungen von meiner neu gewonnenen Bedeutung als Avantgardist des Wohnens. Meine Freunde und Bekannten machten es sich immer noch in Altbauten gemütlich, mit versiegelten Parkettböden und alten Möbeln. Sie saßen stundenlang um dunkle alte Tische herum, tranken Tee und Kaffee und diskutierten das verflossene Jahrzehnt. Ich hatte dort auch noch gesessen, bis mir eine Freundin von dem Loft erzählte. Ursprünglich hatte sie selber dort einziehen wollen, aber dann war ihr die große Liebe dazwischen gekommen, und ich nahm das Loft. Hundert Quadratmeter Obergeschoß in einem zweistöckigen Gebäude mit Flachdach in der Nähe des Barbarossaplatzes, da, wo die Kölner Innenstadt am häßlichsten war und ist. Bis vor kurzem, so konnte ich an den verblassenden Inschriften ablesen, hatte man hier mit Farben und Lacken gehandelt. Mein Loft erreichte man über eine Außentreppe, und solange ich dort wohnte, habe ich nie erfahren, wer sich gerade im Erdgeschoß niedergelassen hatte. Manchmal registrierte ich Ein- und Auszugsbewegungen. Manche meiner Besucher vermuteten unten ein Puff, später war von einem Tonstudio die Rede. Bei mir stellte sich niemand vor. Loftbewohner verstecken sich mittendrin und leben in splendid isolation. Das Haus war an den Längsseiten von zwei Zufahrtsstraßen auf den Ring eingekeilt. Nach Osten erhob sich das fünfgeschossige Parkhaus eines Baumarkts, nach Süden sah ich auf einige Denkmäler der Kölner architektonischen Nachkriegsverwüstung. Zerrissene Straßen mit verwitterten Kneipen, kleinen Betrieben und verbauten Wohnungen, hier und da eine nackte Brandmauer: ein angenehmer vergessener Winkel inmitten der hektischen Bemühungen um die Verschönerung der Stadt, die in jenen Jahren begannen. Ein grüner Lichtschein fiel abends von der Südseite durch ein Fenster in meine halbleere Wohnhalle. Ein paar Wochen vor meinem Einzug im Frühjahr 1980 hatte eine Kneipe hier aufgemacht, in einer verlassenen Fabrik oder einem ehemaligen Lagerhaus. Der Lichtschein kam vom geschwungenen Neonschriftzug mit dem Namen der Kneipe: HELDENPLATZ. Ich weiß genau, wann ich zum ersten Mal dorthin ging. Es war der Tag nach Sartres Begräbnis. Ich hatte morgens in der Zeitung über den Trauerzug in Paris gelesen: fünfzigtausend Menschen, die hinter dem Sarg hergingen, in dem der kleine tote Körper lag. Fünfzigtausend, sagte ich mir, das schaffst du nie. Am Abend dieses Tages betrat ich erstmals den HELDENPLATZ. Unsicher, denn hier verkehrten Zwanzigjährige, ich war über dreißig. Aber niemand sah sich nach mir um oder verdrehte die Augen, als ich die quietschende schwarze Stahltür aufzog, die noch von der alten Fabrik oder Lagerhalle übrig war. Innen war es kahl, so kahl, wie es die Erfordernisse eines gastronomischen Betriebs gerade noch zulassen. Der Boden aus nacktem Stein, ebenso nackte Glühbirnen und mehrere Neonschienen erhellten weiß und grün den Raum. Ein paar junge Leute, alle in mintfarbene Overalls gekleidet und von New-Wave-Haarschnitten geschmückt, bemühten sich um die Gäste. Die Kleidung zeugte von corporate identity. Alle, der Service wie die Gäste, schienen das Bewußtsein vor sich herzutragen, Protagonisten einer neuen Zeit zu sein. Niemand gibt uns eine Chance. Doch werden wir siegen, für immer und immer. Wir sind dann Helden für einen Tag. Zuerst wollte ich an die Theke gehen, aber dann entschied ich mich für einen der kleinen Tische. Die Tische und Stühle waren aus jenem verzinkten Stahl, aus dem auch Gießkannen gemacht werden. Kaum hatte ich mich niedergelassen – die Sitzfläche ein bißchen kalt für meinen Hintern -, als einer der jungen Overalls zu mir kam und fragte: „Was darf ich bringen?“ Eine so vollendete Höflichkeit hatte ich schon lange nicht mehr erlebt. Fast schämte ich mich, einfach nur ein Kölsch zu bestellen. Aber das war es, was ich wollte: ein Kölsch und dann noch eins und noch eins, die Beine ausstrecken und mich freuen, daß niemand mich merkwürdig ansah. Genau die richtige Totenfeier für Sartre, der geeignete Raum: kein Blick des Anderen. Als ich um halb zwei nachts ging, rief mir einer der Overalls hinterher: „Schönen Abend noch!“ Beim übernächsten Mal wurde ich schon begrüßt, wiedererkennend, und nach drei Wochen hatte ich Freunde unter den jungen Leuten. Ich dachte mit meinen etwas mehr als dreißig Jahren tatsächlich: die jungen Leute. Ich hatte mich bald aus der sicheren Verschanzung hinterm Tisch hervorgewagt und an die Theke gesetzt, weil die Barhocker bequemer waren als die Stühle. Ich war nicht der einzige alternde Exot hier, aber die anderen...