Schiller | Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 287 Seiten

Reihe: Reclams Universal-Bibliothek

Schiller Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen

Reclams Universal-Bibliothek
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-15-960041-3
Verlag: Reclam, Philipp
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Reclams Universal-Bibliothek

E-Book, Deutsch, 287 Seiten

Reihe: Reclams Universal-Bibliothek

ISBN: 978-3-15-960041-3
Verlag: Reclam, Philipp
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Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Enthalten sind auch die sog. »Augustenburger Briefe» sowie die Ankündigung der »Horen». Der umfangreiche Anhang bietet Informationen zur Entstehungsgeschichte, eine Konkordanz der »ästhetischen» und der »Augustenburger» Briefe, Kommentar, Literaturhinweise und Nachwort. Alle Texte sind in originaler historischer Orthographie wiedergegeben. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

Friedrich Schiller (seit 1802: von; 10. 11. 1759 Marbach a. N. - 9. 5. 1805 Weimar) bildet mit Goethe den Kern der Weimarer Klassik, der bedeutendsten deutschen Literaturepoche. Schiller begann als Aufsehen erregender Sturm-und-Drang-Dichter und prägte seit 1795 als Publizist, Theoretiker, Dramatiker und Lyriker das berühmte klassische Weimarer Jahrzehnt. Schillers Dramen gehören noch heute zu den meistgespielten der deutschen Literatur, seine Gedichte, z. B. die Balladen, zählten im 19. Jahrhundert und darüber hinaus zum festen kulturellen Kanon der deutschen Literatur.
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Sechster Brief.


Sollte ich mit dieser Schilderung dem Zeitalter wohl zuviel gethan haben? Ich erwarte diesen Einwurf nicht, eher einen andern: daß ich zuviel dadurch bewiesen habe. Dieses Gemählde, werden Sie mir sagen, gleicht zwar der gegenwärtigen Menschheit, aber es gleicht überhaupt allen Völkern, die in der Kultur begriffen sind, weil alle ohne Unterschied durch Vernünfteley von der Natur abfallen müssen, ehe sie durch Vernunft zu ihr zurückkehren können.

Aber bey einiger Aufmerksamkeit auf den Zeitcharakter muß uns der Kontrast in Verwunderung setzen, der [21] zwischen der heutigen Form der Menschheit, und zwischen der ehemaligen, besonders der griechischen, angetroffen wird. Der Ruhm der Ausbildung und Verfeinerung, den wir mit Recht gegen jede andre Natur geltend machen, kann uns gegen die griechische Natur nicht zu statten kommen, die sich mit allen Reizen der Kunst und mit aller Würde der Weisheit vermählte, ohne doch, wie die unsrige, das Opfer derselben zu seyn. Die Griechen beschämen uns nicht bloß durch eine Simplicität, die unserm Zeitalter fremd ist; sie sind zugleich unsre Nebenbuhler, ja oft unsre Muster in den nehmlichen Vorzügen, mit denen wir uns über die Naturwidrigkeit unsrer Sitten zu trösten pflegen. Zugleich voll Form und voll Fülle, zugleich philosophirend und bildend, zugleich zart und energisch sehen wir sie die Jugend der Phantasie mit der Männlichkeit der Vernunft in einer herrlichen Menschheit vereinigen.

Damals bey jenem schönen Erwachen der Geisteskräfte hatten die Sinne und der Geist noch kein strenge geschiedenes Eigenthum; denn noch hatte kein Zwiespalt sie gereizt, mit einander feindselig abzutheilen, und ihre Markung zu bestimmen. Die Poesie hatte noch nicht mit dem Witze gebuhlt, und die Spekulation sich noch nicht durch Spitzfindigkeit geschändet. Beyde konnten im Nothfall ihre Verrichtungen tauschen, weil jedes, nur auf seine eigene Weise, die Wahrheit ehrte. So hoch die Vernunft auch stieg, so zog sie doch immer die Materie liebend nach, und so fein und scharf sie auch trennte, so verstümmelte sie doch nie. Sie zerlegte zwar die menschliche Natur und warf sie in ihrem herrlichen Götterkreis vergrößert auseinander, aber nicht dadurch, daß sie sie in Stücke riß, sondern dadurch, daß sie sie verschiedentlich mischte, denn die ganze Menschheit fehlte in keinem einzelnen Gott. Wie ganz anders bey uns Neuern! Auch bey uns ist das Bild der Gattung in den Individuen vergrößert auseinander geworfen – aber in Bruchstücken, nicht in veränderten Mischungen, daß man von Individuum zu Individuum herumfragen muß, um die [22] Totalität der Gattung zusammen zu lesen. Bey uns, möchte man fast versucht werden zu behaupten, äußern sich die Gemüthskräfte auch in der Erfahrung so getrennt, wie der Psychologe sie in der Vorstellung scheidet, und wir sehen nicht bloß einzelne Subjekte sondern ganze Klassen von Menschen nur einen Theil ihrer Anlagen entfalten, während daß die übrigen, wie bey verkrüppelten Gewächsen, kaum mit matter Spur angedeutet sind.

Ich verkenne nicht die Vorzüge, welche das gegenwärtige Geschlecht, als Einheit betrachtet, und auf der Waage des Verstandes, vor dem besten in der Vorwelt behaupten mag; aber in geschlossenen Gliedern muß es den Wettkampf beginnen, und das Ganze mit dem Ganzen sich messen. Welcher einzelne Neuere tritt heraus, Mann gegen Mann mit dem einzelnen Athenienser um den Preis der Menschheit zu streiten?

Woher wohl dieses nachtheilige Verhältniß der Individuen bey allem Vortheil der Gattung? Warum qualifizirte sich der einzelne Grieche zum Repräsentanten seiner Zeit, und warum darf dieß der einzelne Neuere nicht wagen? Weil jenem die alles vereinende Natur, diesem der alles trennende Verstand seine Formen ertheilten.

Die Kultur selbst war es, welche der neuern Menschheit diese Wunde schlug. Sobald auf der einen Seite die erweiterte Erfahrung und das bestimmtere Denken eine schärfere Scheidung der Wissenschaften, auf der andern das verwickeltere Uhrwerk der Staaten eine strengere Absonderung der Stände und Geschäfte nothwendig machte, so zerriß auch der innere Bund der menschlichen Natur, und ein verderblicher Streit entzweyte ihre harmonischen Kräfte. Der intuitive und der spekulative Verstand vertheilten sich jetzt feindlich gesinnt auf ihren verschiedenen Feldern, deren Grenzen sie jetzt anfiengen, mit Mistrauen und Eifersucht zu bewachen, und mit der Sphäre, auf die man seine Wirksamkeit einschränkt, hat man sich auch in sich selbst einen Herrn gegeben, der nicht selten mit Unterdrückung der [23] übrigen Anlagen zu endigen pflegt. Indem hier die luxurierende Einbildungskraft die mühsamen Pflanzungen des Verstandes verwüstet, verzehrt dort der Abstraktionsgeist das Feuer, an dem das Herz sich hätte wärmen, und die Phantasie sich entzünden sollen.

Diese Zerrüttung, welche Kunst und Gelehrsamkeit in dem innern Menschen anfingen, machte der neue Geist der Regierung vollkommen und allgemein. Es war freilich nicht zu erwarten, daß die einfache Organisation der ersten Republiken die Einfalt der ersten Sitten und Verhältnisse überlebte, aber anstatt zu einem höhern animalischen Leben zu steigen, sank sie zu einer gemeinen und groben Mechanik herab. Jene Polypennatur der griechischen Staaten, wo jedes Individuum eines unabhängigen Lebens genoß, und wenn es Noth that, zum Ganzen werden konnte, machte jetzt einem kunstreichen Uhrwerke Platz, wo aus der Zusammenstükkelung unendlich vieler, aber lebloser, Theile ein mechanisches Leben im Ganzen sich bildet. Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruckstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft. Aber selbst der karge fragmentarische Antheil, der die einzelnen Glieder noch an das Ganze knüpft, hängt nicht von Formen ab, die sie sich selbstthätig geben, (denn wie dürfte man ihrer Freyheit ein so künstliches und lichtscheues Uhrwerk vertrauen)? sondern wird ihnen mit skrupulöser Strenge durch ein Formular vorgeschrieben, in welchem man ihre freye Einsicht gebunden hält. Der todte Buchstabe vertritt den lebendigen Verstand, und ein geübtes Gedächtniß leitet sicherer als Genie und Empfindung.

[24] Wenn das gemeine Wesen das Amt zum Maaßstab des Mannes macht, wenn es an dem Einen seiner Bürger nur die Memorie, an einem Andern den tabellarischen Verstand, an einem Dritten nur die mechanische Fertigkeit ehrt, wenn es hier, gleichgültig gegen den Charakter, nur auf Kenntnisse dringt, dort hingegen einem Geiste der Ordnung und einem gesetzlichen Verhalten die größte Verfinsterung des Verstandes zu gut hält – wenn es zugleich diese einzelnen Fertigkeiten zu einer eben so großen Intensität will getrieben wissen, als es dem Subjekt an Extensität erläßt – darf es uns da wundern, daß die übrigen Anlagen des Gemüths vernachlässigt werden, um der einzigen, welche ehrt und lohnt, alle Pflege zuzuwenden? Zwar wissen wir, daß das kraftvolle Genie die Grenzen seines Geschäfts nicht zu Grenzen seiner Thätigkeit macht, aber das mittelmäßige Talent verzehrt in dem Geschäfte, das ihm zum Antheil fiel, die ganze karge Summe seiner Kraft, und es muß schon kein gemeiner Kopf seyn, um, unbeschadet seines Berufs, für Liebhabereyen übrig zu behalten. Noch dazu ist es selten eine gute Empfehlung bey dem Staat, wenn die Kräfte die Aufträge übersteigen, oder wenn das höhere Geistesbedürfniß des Mannes von Genie seinem Amt einen Nebenbuhler giebt. So eifersüchtig ist der Staat auf den Alleinbesitz seiner Diener, daß er sich leichter dazu entschließen wird, (und wer kann ihm unrecht geben)? seinen Mann mit einer Venus Cytherea als mit einer Venus Urania zu theilen?

Und so wird denn allmählig das einzelne konkrete Leben vertilgt, damit das Abstrakt des Ganzen sein dürftiges Daseyn friste, und ewig bleibt der Staat seinen Bürgern fremd, weil ihn das Gefühl nirgends findet. Genöthigt, sich die Mannichfaltigkeit seiner Bürger durch Klassifizierung zu erleichtern, und die Menschheit nie anders als durch Repräsentation aus der zweyten Hand zu empfangen, verliert der regierende Theil sie zuletzt ganz und gar aus den Augen, indem er sie mit einem bloßen Machwerk des Verstandes vermengt; und der regierte kann nicht anders als mit Kaltsinn [25] die Gesetze empfangen, die an ihn selbst so wenig gerichtet sind. Endlich überdrüssig, ein Band zu unterhalten, das ihr von dem Staate so wenig erleichtert wird, fällt die positive Gesellschaft (wie schon längst das Schicksal der meisten europäischen Staaten ist) in einen moralischen Naturstand auseinander, wo die öffentliche Macht nur eine Parthey ist, gehaßt und hintergangen von dem, der sie nöthig macht, und nur von dem, der sie entbehren kann, geachtet. Konnte die Menschheit bey dieser doppelten Gewalt, die von innen und aussen auf sie drückte, wohl eine andere Richtung nehmen, als sie wirklich nahm? Indem der spekulative Geist im Ideenreich nach unverlierbaren Besitzungen strebte, mußte er ein Fremdling in der Sinnenwelt werden, und über der Form die Materie verlieren. Der Geschäftsgeist, in einen einförmigen Kreis von Objekten eingeschlossen und in diesem noch mehr durch Formeln...



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