E-Book, Deutsch, 266 Seiten
Reihe: Systemische Praxis
Idiographische Systemmodellierung und personalisierte Prozessgestaltung
E-Book, Deutsch, 266 Seiten
Reihe: Systemische Praxis
ISBN: 978-3-8444-3282-4
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In der systemischen Therapie kann die Methodik der idiographischen Systemmodellierung für die Erstellung eines Fallkonzepts genutzt werden. Gemeinsam mit der Klientin oder dem Klienten wird eine Systemstruktur erstellt, indem relevante Komponenten des biopsychosozialen Systems identifiziert sowie deren Zusammenhänge bzw. dynamischen Muster, die sich aus der Systemstruktur ergeben, grafisch dargestellt werden. Das System kann dann in weiteren Schritten an einer Flipchart oder auch an einer elektronischen Tafel bearbeitet werden, um die Entstehungsfaktoren sowie die aufrechterhaltende und Veränderungsdynamik eines individuellen oder interpersonellen Problemsystems sichtbar zu machen und daraus Ansatzpunkte für Lösungen und Veränderung zu erarbeiten. Die Komponenten des Systemmodells sowie deren Veränderungen bzw. Muster und Musterveränderungen von Einzelpersonen und Mehrpersonensystemen (Paare, Familien, Teams) können mithilfe des Synergetischen Navigationssystems (SNS), einem Internet- und App-basierten Verfahren für das Real-Time Monitoring von Therapieprozessen, erfasst und visualisiert werden. Bei vielen Klientinnen und Klienten löst bereits die Systemmodellierung selbst einen Veränderungsprozess aus, indem sich die Sicht auf ihr Problem verändert. Das Vorgehen kann in der ambulanten und stationären Psychotherapie sowie in der Paartherapie eingesetzt werden. Es eignet sich auch für den Einsatz in nichtklinischen Anwendungsfeldern, wie z.B. der Jugendhilfe, im Bereich Coaching und Beratung sowie zur Teamentwicklung.
Zielgruppe
Ärztliche und Psychologische (systemische) Psychotherapeut*innen, Studierende und Lehrende in der psychotherapeutischen Aus-, Fort- und Weiterbildung, Supervisor*innen, Berater*innen, Coaches, Teamentwickler*innen.
Autoren/Hrsg.
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|7|Vorwort
„Was ist denn das SORC-Modell der Systemischen Therapie?“, ist eine Frage, die einmal nach einem Seminar in einem verhaltenstherapeutischen Institut gestellt wurde. Worum es geht, wird schnell deutlich: der Wunsch nach Orientierung, nach einem „roten Faden“, nach klaren Leitplanken für eine Fallkonzeption in diesem Psychotherapieverfahren.
Die Frage nach Fallkonzeption und Behandlungssteuerung ist in der Systemischen Therapie vielleicht aktueller denn je. Durch die Aufnahme in die Psychotherapie-Richtlinie und die Anwendung im Kontext der durch die gesetzlichen Krankenversicherungen finanzierten ambulanten Psychotherapie ist die Frage hochrelevant. So geht es in der psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildung um die Vermittlung entsprechender Modelle, die dann ebenso in Berichten an die Gutachter1 im Rahmen der Beantragung von psychotherapeutischen Leistungen verschriftlicht und überzeugend vorgetragen werden müssen.
Doch was ist nun das spezifisch Systemische an einem Fallverständnis und wie lässt es sich konzeptionell erfassen? Die vielleicht größte Neuerung, die durch die Systemische Therapie in das kassenfinanzierte Therapiesystem kommt, ist zum einen das Mehrpersonensetting und zum anderen sind es systemische Grundannahmen, vor allem der Nichtlinearität und der zirkulären Wechselwirkungen.
Systemtheorien und Konstruktivismen bilden die erkenntnistheoretischen Grundlagen dieser Grundannahmen. Sie sind einerseits attraktiv, weil sie über ein alltägliches oder gar medikalisiertes Denken, über simple lineare Ursache-Wirkungs-Beziehungen weit hinausgehen und bringen gleichzeitig die Herausforderung mit sich, dies konzeptionell präzise zu erfassen und zudem für eine systemisch-therapeutische Praxis umsetzbar zu machen.
Genau hier setzt Günter Schiepek seit vielen Jahren mit seinen weitreichenden Überlegungen und Publikationen zur Dynamik komplexer Systeme, zur Synergetik und der Umsetzung mit dem Synergetischen Navigationssystem an. Uns hat das immer wieder in Vorträgen und Schriften begeistert und inspiriert und letztlich auch dazu gebracht, eine Weiterbildung bei Günter Schiepek zu diesem Thema zu besuchen.
Dort spielte dann auch die vertiefte Befassung mit der idiographischen Systemmodellierung eine nicht unwesentliche Rolle, denn es ging darum, an eigenen |8|Themen und Beispielen mittels eines Interviews die subjektiv wahrgenommenen Einflussgrößen, bisherigen Lösungsversuche, aber auch Ressourcen als Variablen zu erfassen und deren „Ladung“ in eine jeweilige Richtung zu beschreiben.
Ein spannender und zutiefst systemischer Prozess, geht es doch um die subjektiven Konstruktionen der Beteiligten und deren Nutzung für die Generierung von begründeten Interventionsmöglichkeiten. Dabei spielt einerseits Komplexitätsreduktion eine Rolle, um solche Modelle nicht zu überfrachten, andererseits eine Art zirkuläre Komplexitätserweiterung, um Rück- und Wechselwirkungen zwischen den Variablen betrachten zu können.
Mit diesem Buch gelingt es Günter Schiepek, Bettina Siebert-Blaesing und Marcus B. Hausner sowie den beteiligten Autoren zu einem Zeitpunkt, der kaum passender sein könnte, einen weiteren wichtigen Impuls in die Debatte und Entwicklung der systemischen Fallkonzeption zu geben. Vor dem Eintritt ins Kassensystem wurde ja zuletzt ein Mangel an theoretischer Orientierung systemischen Vorgehens beklagt. Nun müssen sich Therapeuten durch die stärkere Formalisierung der Therapie vertiefter mit theoretischen Herleitungen beschäftigen.
Praxisnah wird deutlich, wie eine idiographische Systemmodellierung erfolgen kann und wie sie dann weitergehend als Grundlage für ein Prozessmonitoring dienen kann. Mit individuellen, aus der Systemmodellierung generierten Fragebögen und der täglichen Abfrage per App werden Prozessverläufe, vor allem aber entscheidende Ordnungsübergänge beobachtbar und können in den therapeutischen Prozess zurückgemeldet werden. Therapeut und Klient werden so gleichermaßen zu Beobachtern und Interpretierenden eines Prozesses auf tatsächlicher Augenhöhe.
Welches Potenzial und Spektrum die Systemmodellierung und daraus ableitbare Vorgehensweisen mit sich bringen, zeigt die sehr große Bandbreite der in den Kapiteln dieses Buches thematisierten Anwendungsfelder.
Neben klassischer ambulanter und stationärer Psychotherapie sind dies spezifische Settings wie Paartherapie oder spezifische Themenfelder wie Traumatherapie. Erhellend sind die konkreten Praxisdarstellungen im Mehrpersonensetting. Anschaulich wird in den Kapiteln dargestellt, wie mit der Komplexität der erhobenen Daten gewinnbringend umgegangen werden kann.
Thematisiert werden aber auch Felder außerhalb der Psychotherapie, etwa im Bereich von Coaching oder Team- und Organisationsentwicklung oder auch in der Jugendhilfe. Das ist insofern spannend, aber auch typisch systemisch, als sich die |9|grundlegenden Annahmen über zirkuläre Prozesse und Veränderungen eben nicht auf psychosoziale Themen und Settings oder gar das Gesundheitswesen beschränken. Insofern ist auch in diesem Band ein wechselseitiger Profit möglich, indem bewusst über den eigenen kontextuellen Tellerrand geschaut und die Anwendung der Methode in einem anderen Kontext kennengelernt wird.
Abschließend wird durch den sysTelios Think Tank sehr praxisorientiert die schon kurz angesprochene Übertragung in ein tatsächliches Prozessfeedback thematisiert. Auch das neue, praktische E-Tool zur Systemmodellierung wird in diesem Band vorgestellt. Den Lesern wird somit ein umfassender Einblick in ein auf den ersten Blick vielleicht komplex erscheinendes und doch gut handhabbares, ur-systemisches Konzept des Fallverständnisses nahegebracht. Seiner Zeit voraus war Günter Schiepek mit seinem Ansatz (der idiographischen Systemmodellierung) schon lange (seit Mitte der 1980er Jahre), lassen sich doch Veränderungsprozesse jedweder Therapierichtung abbilden. Diesen Ansatz entwickelte Günter Schiepek schon zu einer Zeit, als die Therapieschulen noch stärker in Abgrenzung zueinander konzeptualisiert wurden. Das Synergetische Navigationssystem (SNS) wäre unseres Erachtens eine ideale, seit Jahren erprobte Form, Therapieprozesse anstelle des auslaufenden Gutachterverfahrens zu begleiten.
Zurecht fordert Günter Schiepek, dass dieses Modell auch in den systemischen, vor allem therapeutischen Aus- und Weiterbildungen eine Rolle spielen sollte, und es wäre wünschenswert, wenn es auch in der therapeutischen Praxis noch deutlich mehr Verbreitung fände. Vielleicht konnten sich die Konzepte von Günter Schiepek und Kollegen in den letzten Jahren so gut entwickeln, weil sie etwas abseits des systemischen Mainstreams liefen und nicht jede, nur auf Methoden ausgerichtete Welle mitgeschwommen werden musste. Es ist nun aber an der Zeit, sie ins Herz der systemischen Fallkonzeption und Praxis zu rücken.
Dieses Buch kann dazu ein gewichtiger Impuls sein und wird seinen Beitrag dazu leisten. Und es geht noch weiter: Die Dynamik unter den Teilnehmenden der Weiterbildung hat gezeigt: Das Vorgestellte regt an, damit kreativ-spielerisch weiterzuarbeiten. Warum nicht einmal die Punkte der Zeitreihen auf den Boden legen, um sie nachzulaufen, oder sie mit den Tönen einer Tonleiter in Schwingung zu bringen oder Farbbilder aus den Daten entstehen zu lassen? Vielleicht führt die weitere Verbreitung zu noch mehr Übersetzung der im Hintergrund laufenden Algorithmen zu bunten Anwendungsformen mit Klienten.
In diesem Sinne wünschen wir allen Lesern eine mit Sicherheit anregende Lektüre und dem Buch die Aufmerksamkeit, die es definitiv verdient.
Essen und Mannheim, Juli 2024 | Björn Enno Hermans |
und Sebastian Baumann |
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch auf genderbezogene Markierungen bei der Benennung von Professionen, Berufsgruppen oder einzelnen Personen verzichtet. Es wird stattdessen das generische Maskulinum als grammatikalische Form verwendet, wenn eine...