Scheuermann Wovon wir lebten
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7317-6097-9
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 528 Seiten
ISBN: 978-3-7317-6097-9
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Silke Scheuermann, geboren 1973 in Karlsruhe, lebt bei Frankfurt am Main. Für ihre Gedichte, Erzählungen und Romane erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, unter anderem das Stipendium der Villa Massimo in Rom (2009) sowie den Hölty-Preis für Lyrik der Landeshauptstadt und der Sparkasse Hannover (2014). Im Wintersemester 2012/13 hatte sie die Poetikdozentur in Wiesbaden inne. Zuletzt wurde sie mit dem Bertolt-Brecht-Preis 2016, dem Robert Gernhardt Preis 2016 und dem Georg-Christoph-Lichtenberg-Preis 2017 ausgezeichnet.
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Vater, Nicole und ich besuchen die Tierhandlung Kutter. Ich habe Mutter überreden wollen mitzukommen, weil ich ihr endlich einmal die Terrarien zeigen will, aber keine Chance, sie ist viel zu froh, am Wochenende mal ihre Ruhe vor Vater zu haben, selbst wenn es nur ein, zwei Stunden sind.
Na ja, wenn es die Kragenechsen nicht gäbe, würde ich das auch vorziehen.
Herr Kutter bedient uns mit Lächeln und Elan. Holt ein Kaninchen nach dem anderen aus den Ställen hervor, damit Nicole sie streicheln kann. Wow. Ich erkenne den alten Kotzbrocken kaum wieder. Aber vermutlich hasst er Kinder in seinem Laden nur, wenn sie allein kommen, denn dann wollen sie in der Regel nichts kaufen, sondern bloß gucken und ihn mit Fragen löchern.
Nicole begutachtet den ersten Kandidaten, ist sich nicht sicher, will den zweiten und dritten ansehen, dann erneut das Kaninchen von vorhin haben, nein, nicht das, das erste bitte – mir ist völlig schleierhaft, wie sie die Tiere auseinanderhält. Alle sind »süß«, weiß oder braun und haben idiotisch hängende Ohren, Ohren, die Nicole nicht müde wird aufzurichten, nur damit sie wieder herunterfallen. Herr Kutters Lächeln wirkt langsam etwas bemüht.
Ich drehe eine Runde durch den Laden. In der großen Voliere sitzen etwa ein Dutzend Sittiche, ganz verschiedene Arten. Hellgelbgraue Nymphensittiche mit Punkerfrisuren. Zwei Unzertrennliche, deren grelles Grün jeden Neonmarker neidisch machen kann, schmusen miteinander. »Unzertrennliche« heißen sie, weil sie sich ihr Leben lang treu bleiben; wenn einer stirbt, ist der andere auch so gut wie tot. Die Rosellas sind die buntesten: als habe jemand an ihrem Gefieder zeigen wollen, wie perfekte Farben aussehen sollten. Das blauste Blau, das man sich vorstellen kann, ein Rot wie eine Explosion, und bei dem Gelb denkt man, ein Stück des Vogels sei in die Sonne gefallen. Wenn ich dagegen an die Menschen denke mit ihrer gelblichweißen, graubräunlichen Haut und ihren stumpfen Haarfarben – die Krone der Schöpfung, also na ja.
An der Wand mit den Aquarien bleibe ich nur kurz stehen, obwohl die Farben der Fische kaum weniger prächtig sind. Nur ein dünnes Stück Glas, und dahinter ist diese vollkommen fremde, unheimliche Welt. Man sagt ja immer, Fische beruhigten, aber mich machen sie zappelig, zumindest wenn sie in Glaskästen untergebracht sind wie hier. Immer nur dieses winzige Stück Wasser abschwimmen, das muss furchtbar sein. Wenn man einen Papagei zu Hause hat, kann man ihn wenigstens mal im Wohnzimmer rumfliegen lassen, aber einen Fisch? Nichts zu machen. Ob sie von Seen oder vom Ozean träumen? Albträume vom Ersticken haben? Auf solche unangenehmen Gedanken bringen sie mich, die angeblich beruhigenden Fische.
Im Hinterzimmer stehen die Terrarien: In einem sind Geckos untergebracht, in dem daneben Warane. Im größten, fast zwei Meter lang, wohnen drei Kragenechsen. Auf den ersten Blick entdeckt man sie nicht und denkt, der Kasten sei leer. Man muss wirklich genau hinschauen. Wegen ihrer Tarnfarbe verschmelzen sie mit der Erde und den Wurzeln, die eine Art Wüstenlandschaft bilden. Da ich ihre Lieblingsplätze inzwischen kenne, sehe ich den bräunlichgrauen Otto und den etwas dunkleren Oscar sofort. Die dritte Echse, die kleinste, ist noch nicht sehr lange da. Sie muss sich im umgekippten Blumentopf versteckt haben. Ihr habe ich noch keinen Namen gegeben, aber ich denke an Olaf. Orlando passt irgendwie nicht.
»Hallo, Otto!«, grüße ich leise. Bevor ich gegen die Scheibe klopfe, um ihn ein wenig zu erschrecken, drehe ich mich unauffällig um – Kutter schaut gerade zu mir rüber. Hat wohl Angst, dass ich hier irgendwelchen Blödsinn mache.
»Ihr Junge interessiert sich ja sehr für die Reptilien!«, sagt er zu meinem Vater.
Mein Vater gibt etwas Ähnliches wie »Hmmpf« von sich.
»Seit diesem Jurassic-Park-Film ist die Nachfrage enorm gestiegen, gerade unter Jugendlichen. Es ist ja auch eine fantastische Art, eine Spezies zu beobachten, wenn …«
»Der Junge kriegt keine Echse. Das hätte mir gerade noch gefehlt«, schnauzt mein Vater. »Sich so ein Monster zu halten! Und die Kosten: Strom, Licht … nein, nichts da.«
Tja. Wenn das ein Test gewesen ist und Kutter herausfinden wollte, ob Herr Wolf eventuell auch bei seinem Sohn so großzügig ist, dann weiß er jetzt Bescheid.
Monster! Eine längst vergangene Welt hat einige Saurier im Miniaturformat überleben lassen. Chlamydosauren ist ihr lateinischer Name, ich weiß das aus einem Buch in unserer Schulbibliothek. Die Seiten über die Kragenechse habe ich so oft gelesen, dass ich sie fast auswendig kann.
Er hat keine Ahnung, was diese Tiere können. Wenn sie sich nämlich bedroht fühlen oder erschrecken, stellen sie sich auf die Hinterbeine, öffnen den Mund und klappen ihre großen, leuchtend orangefarbenen Kragen auf. Sie rennen auch so, aufrecht, den Kragen gut sichtbar, sind sie auf diese Weise größer – wobei man bedenken muss, sie werden bis zu einem Meter lang! Einfach irre.
Ich klopfe leicht gegen die Scheibe. Schade, weder Otto noch Oscar erschrecken. Aber ich will ihnen keinen Stress machen, lauter pochen möchte ich nicht. Otto ist dicht an der Scheibe, wachsam.
Wenn ich so ein Terrarium besäße, denke ich, würde ich meine Echsen die Wände hochklettern lassen, sie könnten in der Badewanne schwimmen, und ich würde so viele Heuschrecken fangen, wie sie essen können, natürlich lebend. Und ich würde ihnen eine wunderbare Höhle basteln. Wir wären bald richtige Kumpels.
Gleichwertige, denn vor allem aber gefällt mir, dass sie ihren Besitzern nicht wehrlos ausgeliefert sind; viele haben sogar Angst vor ihren spitzen Krallen.
Wenn ich mir das Gegenteil eines Kaninchens denken soll, dann ist das eine Kragenechse.
»Natürlich kannst du den Hasi nennen«, schwadroniert Herr Kutter unterdessen. »Kaninchen gehören zur Familie der Hasenartigen. Der Unterschied ist, dass Kaninchen gerne in Rudeln leben, Hasen aber Einzelgänger sind. Und Hasen haben natürlich stärkere Hinterläufe und mehr Gewicht …« Als ob das eine Fünfjährige kapieren würde.
Plötzlich werde ich traurig. Ich werde nie einen Otto haben. Ein Witz meines Vaters fällt mir ein: Schließ mal die Augen und leg die Hände davor, Junge. Ja, gut so. Nun mach sie wieder auf: Was du jetzt siehst, gehört dir.
»Kommst du endlich«, tönt es auch schon vom vorderen Teil des Ladens. Vater hat eines der weißen Kaninchen im Arm; es versucht panisch, sich unter seine Achseln und in die Ärmel der Wildlederjacke zu wühlen. »Nimm das, ich gehe zahlen.«
Das Tier zittert in meinen Armen wie verrückt. Die Augen von Kaninchen blicken immer fürchterlich erschrocken drein – als erwarteten sie das Schlimmste. Ich frage mich, wie es sein muss, jeden Augenblick in Angst zu leben, das muss ein unglückliches Leben sein.
Ein Kaninchen kostet dreißig Mark, mein Vater kauft Nicole drei. Die beiden anderen hat Herr Kutter schon in den Käfig gepackt, den Nicole natürlich auch braucht.
Während Kutter meinem Vater noch an der Kasse Zusatzfutter, Vitamine, Spielzeug und andere Extras aufzuschwatzen versucht, streichele ich das Kaninchen in meinem Arm, und beim Streicheln drücke ich am Hals ein wenig zu, erst ohne Absicht, nur um zu spüren, ob man durch das dicke Fell an die Kehle kommt, oder ob es quiekt.
Dann, als ich merke, dass es sich nur ein wenig in meinen Armen versteift, drücke ich fester.
Und noch fester.
Das Kaninchen zappelt überhaupt nicht. Es strampelt nicht und kickt auch kein bisschen mit den Hinterläufen wie im Zeichentrickfilm. Auf einmal ist es tot, und keiner hat es gemerkt. Es ist ganz still, tot und still, aber sehr friedlich und hübsch.
Mir kommt der Gedanke, dass ich jetzt ein Problem habe.
Ich handele sofort, denn sonst hätte ich keine Chance gehabt. Überhaupt keine.
Während sich auf meiner Stirn Schweißtropfen bilden, setze ich das Tier zu den beiden anderen in den Käfig. Nicole steht inzwischen bei den Hundeleinen, sie möchte mit den Häschen spazieren gehen, sagt sie. Die Männer lachen, weil sie so goldige Ideen hat. Mir wird schlecht. Nicht nur, dass ich eben nichts Goldiges getan habe, das tue ich eigentlich nie. Aber ein Kaninchenmord? Das hat eine andere Dimension. Ein Kaninchenmord könnte eine schwerere Strafe nach sich ziehen, als ich sie je zuvor bekommen habe.
Meine Brust schmerzt vor Aufregung bei jedem Atemzug. Wenn mich jetzt jemand anspricht, kippe ich um.
Wie durch ein Wunder tut das keiner. Vater nimmt Nicole an der Hand und spaziert mit ihr hinaus, während ich ohne zu protestieren den Käfig und den Sack mit Streu hinter ihnen hertrage. So überladen zu sein hat den Vorteil, dass ich mein Gesicht verstecken kann.
Niemand merkt etwas auf dem Weg zum Auto. Das weiße Kaninchen Nummer zwei und das braune purzeln übereinander, das tote fällt absolut nicht auf. Nicole sieht ab und an zu mir rüber und in den Käfig: nichts.
Die ganze Zeit pocht mein Herz so laut, als wollte es für das tote kleine Tier mitschlagen.
Zu Hause verschwinden mein Vater und meine Schwester sofort in Nicoles Zimmer. Mutter hängt auf dem Balkon Wäsche auf und winkt, sie komme gleich. Ich atme ruhiger. Fühle mich seltsam leicht, aus der Welt gehoben: Jetzt kann mir nichts mehr passieren. Zwar bin ich die ganze Zeit darauf gefasst, dass Nicole loskreischt, aber nichts passiert.
Vorerst. Etwas muss ja geschehen.
Ich sitze in meinem Zimmer und warte.
Kurz darauf kommt Vater mit verärgerter Miene in den Flur, ein kleines...




