Scheuermann | Die Häuser der anderen | E-Book | www2.sack.de
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E-Book, Deutsch, 264 Seiten

Scheuermann Die Häuser der anderen


1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-89561-991-5
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 264 Seiten

ISBN: 978-3-89561-991-5
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Christopher und Luisa haben geheiratet und sich im Leben eingerichtet: Er ist angehender Professor für Biologie, sie erfolgreiche Kunsthistorikerin. Die Altbauwohnung ihrer Studentenzeit haben sie gegen ein Haus am Stadtrand getauscht, als sichtbares Zeichen ihrer Ambitionen. Hier in der Straße am Kuhlmühlgraben muss sich ihre Ehe bewähren, hier messen sie ihre Träume am Erreichten. Doch nicht alles lässt sich mit Willenskraft und Selbstinszenierung herbeiführen, das müssen die beiden ebenso erfahren wie die anderen Bewohner des Viertels.In kunstvollen Szenen, mit Abstechern nach Venedig und New York, erzählt Silke Scheuermann in 'Die Häuser der anderen' von zerbrechlichen Wünschen, Ängsten und Hoffnungen. Unsentimental und einfühlsam schildert sie, was geschieht, wenn Menschen ihr Leben nach anderen ausrichten und ihre vermeintliche Überlegenheit ins Wanken gerät oder wenn sie vom Glück überrascht werden.'

Silke Scheuermann, geboren 1973 in Karlsruhe, lebt bei Frankfurt am Main. Für ihre Gedichte, Erzählungen und Romane erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, unter anderem das Stipendium der Villa Massimo in Rom (2009) sowie den Hölty-Preis für Lyrik der Landeshauptstadt und der Sparkasse Hannover (2014). Im Wintersemester 2012/13 hatte sie die Poetikdozentur in Wiesbaden inne. Zuletzt wurde sie mit dem Bertolt-Brecht-Preis 2016, dem Robert Gernhardt Preis 2016 und dem Georg-Christoph-Lichtenberg-Preis 2017 ausgezeichnet.
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Madonna im Grünen

Der Winter war endlos und dunkel gewesen, im April schneite es noch mehrmals, der Mai hatte Nachtfrost und Stürme gebracht und selbst der Juni nur kühlen Regen, aber dann war innerhalb von wenigen Tagen doch noch der Sommer gekommen. Der Juli begann unvermittelt heiß und gleißend hell; die Sonne machte jeden Tag zum Fest. In den Nächten entluden sich Gewitter, doch morgens leuchtete der Himmel in frischem Blassblau, die Vögel tschilpten und hopsten auf den feuchten Zweigen herum, und die Wiesen hinter dem Viertel glitzerten nass vom Tau. Am Kuhlmühlgraben hieß die letzte, noch zum Stadtteil gehörende Straße im Osten, eine lange Reihe gepflegter frei stehender Einfamilienhäuser. Im dritten Gebäude, dem weißen Haus mit dem frisch bepflanzten Vorgarten, gingen die Rollläden um Punkt sieben Uhr früh hoch, obwohl es Sonntag war. Luisa machte ihre Runde und fing dabei wie immer mit den Wohnzimmerfenstern zum Garten hinaus an. Benno, der Mischlingshund, lief erwartungsvoll hinter ihr her. Er war gelblich-braun bis auf ein paar schwarze Flecken und mit einem Jahr praktisch ausgewachsen. Genauso lange wohnten Luisa und Christopher inzwischen hier.

»Vor dem Haus ist Stadt, und dahinter beginnt das Land, wir haben beides«, hatte Luisa entzückt gesagt, als sie das Haus, das Christopher von seiner Großmutter geerbt hatte und am liebsten sofort verkauft hätte, zum ersten Mal besichtigten. Sie hatte nicht lange gebraucht, um Christopher zu überzeugen, dass es genau das richtige neue Zuhause für sie sei. Es war nicht weit bis in die Innenstadt und die lebendigeren Frankfurter Stadtteile wie Bornheim oder Nordend, wo sie vorher in viel zu engen Altbauten zur Miete gewohnt hatten.

Als Luisa die Terrassentür aufmachte und die frische Luft einatmete, roch sie Gras und feuchte, modrige Erde. Auch vom Haus nebenan hörte sie nun Geräusche. Das Leben am Kuhlmühlgraben begann früh. Das lag weniger an den kleinen Kindern – die gab es hier kaum –, es waren die Hunde, die den Tagesrhythmus bestimmten. Sie beschützten die Grundstücke und nahmen die Plätze in den leeren Heimen ein, wenn der Nachwuchs die Familie verlassen hatte. Den jüngeren Paaren, die sich nicht sicher waren, ob sie ein Baby wollten, dienten sie als Versuchslebewesen; gestresste Mittvierziger zwangen sie dazu, regelmäßig zu joggen oder zumindest spazieren zu gehen – dies und mehr hatte Luisa von anderen Hundehaltern erfahren. Was ihr allerdings als erstes aufgefallen war, waren die vielen Rassehunde. Zwei Dalmatiner lebten am Kuhlmühlgraben, ein Windhund, ein Bernhardiner, ein Riesenpudel, zwei Chow-Chows und ein achtzehn Jahre alter, halb blinder und tauber Pekinese, der nur noch Kalbsleberwurst fraß. Vorn protzte man mit den Autos, hinten mit den Hunden – so war die Straße eben auch, und diese Ambitioniertheit gefiel Luisa und Christopher sehr gut, schließlich wollten sie genauso wenig auf der Stelle treten.

Luisa machte erst Kaffee, nachdem sie lange vor dem Spiegel gestanden hatte. Sie hatte immer schon eine Tendenz zur Eitelkeit besessen, und die hatte neulich noch einmal einen Schub bekommen, als ihr ein Handwerker sagte, sie sähe Lauren Bacall zum Verwechseln ähnlich. Der Mann hatte ein Trinkgeld bekommen, das ihn abwechselnd rot und blass werden ließ, danach reparierte er freiwillig noch die Leisten im Wintergarten. Luisa flocht sich einen langen Zopf und steckte ihn im Nacken zu einer Schnecke auf. Sie war aschblond und hatte ein längliches Gesicht mit geschwungenen, fast unsichtbaren Augenbrauen. Benno, der langsam ungeduldig wurde, brachte ihr einen Turnschuh; sie musste lachen und ließ endlich von ihren Haaren ab.

Aber sie verfiel trotzdem nicht in Hektik, es war so friedlich morgens, wenn Christopher noch schlief und ein gemeinsamer freier Tag vor ihnen lag. Sie ging in die Küche, stöberte im Kühlschrank, beschloss dann aber, dass es noch zu früh sei, um etwas zu essen. Sie holte die Zeitung und setzte sich damit hin, aber sie konnte sich nicht recht darauf konzentrieren.

Die Sonntage waren hier träge und melancholisch, doch dieser versprach anders zu werden. Im Laufe des Vormittags bekämen sie Besuch von ihrer Schwester Ines, ihrem Freund Raimund und Ines’ kleiner Tochter Anne. Anne sollte einen Teil ihrer Sommerferien bei ihnen bleiben. Luisa war aufgeregter, als sie es sich eingestehen wollte. Sie hatte schon vor einer Woche mit den Vorbereitungen angefangen, indem sie die Terrasse aufräumte und gelegentlich Buntstifte, Tannenzapfen und Papier in eine Kiste legte, lauter Dinge, mit denen ein acht Jahre altes Mädchen vielleicht gerne bastelte. Natürlich hoffte sie vor allem, das Mädchen würde sich mit Benno anfreunden. Mit anderen Spielkameraden, das hatte sie Ines am Telefon gesagt, würde es hier für Anne schwer werden. Aber Ines war das egal gewesen; sie hatten Anne für ein paar Tage nach Wien mitgenommen, und jetzt wollte sie mit ihrem Freund eine Woche allein weg. Ines’ Psychotherapeutin hatte ihr sehr dazu geraten. Der gesunde Egoismus der Mutter wirke sich nur positiv auf das Kind aus, hatte Ines ihrer Schwester erzählt. Sie und Raimund bräuchten dringend Zeit füreinander, nur zu zweit. Es war selten, dass Ines um etwas bat – sie hatten nicht besonders viel Kontakt, um genau zu sein –, und so hatte Luisa gleich ja gesagt, anstatt sich zu fragen, ob sich der gesunde Egoismus der Mutter auch positiv auf sie und Christopher auswirken würde.

»Sie wollen sie nur abladen«, hatte Luisa Christopher ausgerichtet. »Sie ist absolut brav. Und wenn sie was will oder braucht, dann sagt sie es – total unkompliziert.« Luisa überlegte, wann sie Anne das letzte Mal gesehen hatte. Zuletzt hatte sie ihre Schwester in Heidelberg besucht, doch da war das Mädchen bei irgendeiner Schulveranstaltung gewesen. Ein Sportfest? Eine Wanderung? Luisa erinnerte sich nicht.

»Warum nehmen sie Anne dann nicht mit?«, wollte Christopher wissen. Wie immer, wenn Luisa ihn vormittags in seinem Zimmer besuchte und bei der Arbeit störte, war er leicht gereizt und behielt seinen Laptop im Auge, als könnten seine sorgfältig angelegten Tabellen allein aufgrund ihrer unerwünschten Anwesenheit schlagartig verschwinden.

»Keine Ahnung, du kennst doch Ines. Aber man muss praktisch nichts mit ihr machen. Ines hat gesagt, sie malt und bastelt vor sich hin. Wir haben doch auch eine Menge Zeichentrickfilme.«

An diesem Punkt hatte Christopher auf seinen Schreibtisch gesehen und etwas gebrummt, und sie hatte das als Zustimmung gedeutet.

Das war vor etwas über einer Woche gewesen. Jetzt ging Luisa noch einmal durch alle Zimmer und überlegte, was noch nicht getan war. Am Vortag hatte sie alles gründlich aufgeräumt. In allen Zimmern standen nun Vasen mit Wiesenblumen, in der Küche leuchtete die bunte Tischdecke aus Bali, die Ines ihr geschenkt hatte, und im Gästezimmer lagen einladend frische Handtücher auf dem Bett, außerdem hatte sie Anne eine Schale mit zwei Äpfeln und einigen Keksen hingestellt, damit sie sich willkommen fühlte. Im Garten hatte sie einen großen Plastikbehälter mit dem Schlauch abgespritzt und ausgewaschen, in dem vorher Trockenfutter für Benno gewesen war, und ihr unter den Schreibtisch gestellt. Darin könnte sie Sachen sammeln, die sie auf den Wiesen oder am Waldrand fand. Luisa kannte zwar kaum Kinder, hatte aber eine klare Vorstellung davon, was die gern taten.

Sie warf einen letzten prüfenden Blick ins Schlafzimmer und auf das Bett und konnte Benno gerade noch davon abhalten, draufzuspringen und alles zunichtezumachen, dann endlich leinte sie den Hund an und ging mit ihm nach draußen.

Sie nahm nicht den Weg über die Terrasse, sondern lief über die Vordertür und dann um das Haus herum, denn sie wollte die Tür nicht offen stehen lassen, solange Christopher noch schlief. Über den Mühlbach, der trotz des nächtlichen Regens nicht mehr als ein Rinnsal war, führte eine kleine Brücke. Die Wiesen glänzten und funkelten, und Benno war kaum zu halten; als sie ihn freiließ, flitzte er quer durch das Gras. Man sah sehr weit, und in der Ferne machte Luisa die Schemen von Frau Taunstätt, der bekannten Fernsehmoderatorin, und ihren beiden Chow-Chows aus. Die beiden Hunde mochten Benno nicht – genau genommen mochten sie überhaupt keine anderen Hunde –, und Benno wusste das und rannte gar nicht erst hin. Luisa spazierte in Richtung der alten Fabrik. Sie vergaß dann sehr bald die Zeit und begann sich auszumalen, was sie mit der Nichte unternehmen könnten: am Main spazieren gehen und Eis essen oder ins Museum – Ines hatte einmal erwähnt, Anne liebe Bilder, und Luisa war schließlich Kunsthistorikerin. Oder sie könnten am Waldrand hinter den Hundewiesen ein Picknick machen. Das wäre vielleicht sogar schon für diesen ersten Abend eine Möglichkeit. Sie würden einen Korb und eine große weiße Tischdecke mitnehmen und sich an eine Waldlichtung setzen, sie stellte es sich vor wie Monets Frühstück im Grünen. Bei Claude Monet war alles heiter und romantisch; die Ausflügler gruppierten sich locker um die üppig mit Wein, Früchten und einem Brathuhn dekorierte Picknickdecke, die beiden Frauen trugen helle weite Sachen, die das Licht, das durch die Bäume fiel, auffingen und reflektierten. Ursprünglich hatte der Maler ein Riesenbild schaffen wollen, zwölf Personen; das Vorbild für die Natur war der Wald von Fontainebleau gewesen. Das Licht flirrte in den Birken, und über der ganzen Szenerie lag ein Glanz, als spielte eine Blaskapelle. Luisa hatte sich immer vorgestellt, dass dieses Picknick an einem Sonntag stattfinden müsste, und sie fand den Gedanken charmant, dass es zu all dem,...


Scheuermann, Silke
Silke Scheuermann, geboren 1973 in Karlsruhe, lebt bei Frankfurt am Main. Für ihre Gedichte, Erzählungen und Romane erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, unter anderem das Stipendium der Villa Massimo in Rom (2009) sowie den Hölty-Preis für Lyrik der Landeshauptstadt und der Sparkasse Hannover (2014). Im Wintersemester 2012/13 hatte sie die Poetikdozentur in Wiesbaden inne. Zuletzt wurde sie mit dem Bertolt-Brecht-Preis 2016, dem Robert Gernhardt Preis 2016 und dem Georg-Christoph-Lichtenberg-Preis 2017 ausgezeichnet.

"Silke Scheuermann, geboren 1973 in Karlsruhe, lebt in Offenbach. Sie studierte Theater- und Literaturwissenschaften in Frankfurt, Leipzig und Paris und arbeitete am Germanistischen Institut der Universität Frankfurt. Neben Kritiken veröffentlicht sie Gedichte und Erzählungen in Zeitschriften und Anthologien und erhielt zahlreiche Stipendien und Literaturpreise, darunter den Leonce-und-Lena-Preis der Stadt Darmstadt. 2006 war sie in der Jury des weltweit bedeutenden Preises für Kurzgeschichten, dem Frank O"Connor International Short Story Award."



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