E-Book, Deutsch, 319 Seiten
Scheu Gespräch und Gestalt
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-907291-48-1
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Entspannte Interviews mit Ayaan Hirsi Ali, Maxim Biller, Jörg Baberowski, Klaus Doldinger, Woody Harrelson, Ilana Lewitan, Elif Shafak, Peter Sloterdijk, Oliver Stone, Anna Zeiter, Slavoj Žižek und anderen
E-Book, Deutsch, 319 Seiten
ISBN: 978-3-907291-48-1
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
René Scheu (*1974), Dr. phil., studierte Philosophie und Italianistik an den Universitäten Zürich und Triest und promovierte mit einer Arbeit über zeitgenössische italienische Philosophie. Von 2007-2015 war er Herausgeber und Chefredaktor des liberalen Debattenmagazins Schweizer Monat. Von 2016-2021 war er Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung.
Autoren/Hrsg.
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2Ayaan Hirsi Ali
Ayaan Hirsi Ali bin ich zum ersten Mal im Jahre 2011 in St. Gallen begegnet, die Studenten der Hochschule hatten sie damals eingeladen. Die Frau hatte eine ganz eigene Ausstrahlung. Sie sprach sehr ruhig, fast flüsternd, und ihre Aussagen hatten doch eine enorme Sprengkraft. Da waren viel Freundlichkeit und Zurückhaltung, aber auch Unbestechlichkeit und Präzision. Im Feuilleton der NZZ habe ich später bei unterschiedlichen Gelegenheiten Essays von ihr publiziert. Einer provozierte besonders viele Reaktionen, er erschien im September 2020. Ayaan argumentierte, dass Islamisten und Wokeisten (von «woke», «wach», also: Erwachte, Sensible, politisch Korrekte) mehr verbindet, als ihnen lieb sein kann. Beide gehen von einer religiösen Dogmatik aus, beide wollen Häretiker mundtot machen, beide zielen auf die Dehumanisierung aller Andersdenkenden. Das Thema wollte ich vor dem Hintergrund der neulinken Identitätspolitik mit ihr vertiefen. Die Terminsuche für unser Skype-Interview war nicht ganz einfach, und am Ende fiel das Gespräch ausgerechnet auf ihren Geburtstag – den 13. November. Im virtuellen Gespräch war sie so freundlich und unbestechlich wie damals in St. Gallen.
Ayaan Hirsi Ali, 1969 geboren, stammt aus Somalia und flüchtete in den frühen 1990er Jahren in die Niederlande. Durch ihre Kritik des Islam und ihr politisches Engagement zugunsten von Frauen wurde sie weltbekannt. Seit 2007 lebt die Politikwissenschafterin und Autorin in den USA, zurzeit ist sie Research Fellow an der Hoover Institution in Stanford.
Ayaan Hirsi Ali:
«Die westliche Kultur mit ihrer Entdeckung der Freiheit ist allen anderen Kulturen überlegen»
Ayaan, lassen Sie uns gleich in medias res gehen, dahin, wo es weh tut. Sie sind schwarz, Sie sind eine Frau, Sie sind eine Feministin, Sie waren in Somalia Opfer einer echten patriarchalischen Gesellschaft. Warum werden Sie von den linksliberalen urbanen feministischen Eliten in den USA und anderswo trotzdem nicht umworben?
Ich denke, das liegt daran, dass ich deren Erwartungen zuverlässig enttäusche. Solche Enttäuschungen ist das mächtige linke Establishment in diesen konformistischen Zeiten kaum mehr gewohnt. Das macht sie ziemlich wütend.
Was haben Sie denn Böses gesagt?
Nichts, denn das liegt mir fern. Aber ich spiele ihr Spiel nicht mit. Ganz einfach: Ich weigere mich, das Opfer zu sein, das sie in mir sehen wollen. Würde ich es spielen, könnte ich alles bekommen, was ich will. Denn die akademischen Amerikaner sind geradezu besessen von den Themen Rasse und Sklaverei. Wenn ich sie daran erinnere, dass auch die Sklaverei eine Lieferkette kennt, hören sie weg und wechseln das Thema. Wo ich herkomme, wissen das alle: Auch Afrikaner versklaven Afrikaner, das war im 18.Jahrhundert so, als afrikanische Helfershelfer den Sklavenhändlern zuarbeiteten, und es ist heute so. Rassismus und Sklaverei zählen zum Schlimmsten, was die Menschen tun, seit es sie gibt, aber sie sind keine westliche Spezialität. Eine westliche Spezialität ist allerdings ein Leben in Freiheit.
Mit der Freiheit ist es so eine Sache. Man sucht sie, wenn man sie nicht hat. Man spürt sie irgendwann nicht mehr, wenn man sie endlich hat. Und man bemerkt sie erst wieder, wenn man sie nicht mehr hat.
Ich sage freiheraus, was ich denke: Die westliche Kultur mit ihrer Entdeckung der Freiheit ist allen anderen Kulturen überlegen, in der Vergangenheit und auch in der Gegenwart. Sie hat es zustande gebracht, die Unterdrückung der Frau, den Feudalismus und das Stammesdenken zu überwinden. Sie hat gesellschaftliche Offenheit, politische Freiheit, technische Innovation und wirtschaftlichen Wohlstand geschaffen. Ich leugne nicht, dass andere Kulturen ebenfalls ihr Besonderes und Wertvolles haben – aber die Freiheit der westlichen Kultur ist für alle Menschen von unschätzbarem Wert. Das sage ich als gebürtige Somalierin. Und das hören die linksliberalen Eliten nicht gerne.
Das ist paradox, denn es ist genau diese Freiheit, die es ihnen erlaubt, die eigene Ordnung madig zu machen und einen breiten Kulturrelativismus zu pflegen. Wer sich so unangreifbar weiss, der hat gut reden.
Das stimmt. Und diese Eliten leiden an kognitiver Dissonanz. Sie haben ihr Narrativ, wonach die westliche Kultur bloss auf Unterdrückung, auf der Perpetuierung von Unterdrückern und Unterdrückten beruht. Und wenn dann plötzlich jemand aus einem echten Unrechtsstaat kommt, in dem Menschen systematisch unterdrückt werden, und ihnen sagt, dass sie falschliegen, wenn sie ihre eigene Kultur schlechtmachen und stattdessen fremde Kulturen idealisieren, nun ja, dann haben sie zwei Möglichkeiten. Entweder sie überdenken ihre Position. Oder sie diffamieren die Person, die solche unerhörten Dinge von sich gibt. Normalerweise tun diese Leute Letzteres – und machen die kognitive Dissonanz zum Dauerzustand.
Das tribale Denken greift allerdings auch in unseren Breiten um sich. Es wird in öffentlichen und zuweilen auch in privaten Diskussionen nicht mehr darauf geachtet, was jemand sagt, sondern bloss darauf, wer etwas sagt – wobei die Identität allein durch Gruppenzugehörigkeiten definiert wird. Als weisser heterosexueller Mann habe ich mittlerweile denkbar schlechte Karten – ich verkörpere das neue Klischee des Bösen par excellence.
Wir erleben durch einen Teil der Gesellschaft gerade die Dämonisierung des weissen Mannes. In jedem weissen Mann – so das hyperradikale linke Narrativ, das in den USA längst etabliert ist und in Europa auch immer weitere Kreise zieht – steckt ein Unterdrücker, ein Täter, ein Patriarch. Er vereinigt auf sich alles Geld und alle Macht der Welt. Was immer er sagt, steht deshalb unter Verdacht – er will damit bloss seine Machtstellung, seine Privilegien, seine Dominanz verschleiern oder rechtfertigen. Und ich frage mich tatsächlich, warum viele diesen Blödsinn einfach so hinnehmen. Wo bleibt der Widerstand?
Guter Punkt. Die meisten ziehen den Kopf ein. Doch indem man auch in kritischer Absicht ständig darüber schreibt, trägt man unfreiwillig zur Etablierung dieser Denkstereotype bei.
Das ist zu kurz gedacht. Denn dieses Narrativ wird auch stärker, wenn man es nicht entzaubert. Genau das ist es ja, was in den letzten Jahren geschah. Und es geht so, nach einer Art neo- oder vulgärmarxistischem Muster: Es gibt nur Unterdrücker und Unterdrückte, also Machtverhältnisse. Anders als im Marxismus ist es jedoch nicht die soziale Stellung, sondern die Gruppenzugehörigkeit, die darüber entscheidet, wo man in der Unterdrückungshierarchie steht. Es gibt keine Kommunikation zwischen den Kategorien und also auch keine Versöhnung, es gibt bloss den Kampf, und da sind alle Mittel erlaubt. Das sind keine Denkstereotype mehr, das ist längst zur echten Glaubenslehre geworden.
Haben Sie einen Namen für sie?
Nennen wir sie die Woke-Glaubenslehre: Je schwächer du angeblich bist, desto mehr Macht steht dir zu. Entweder du teilst diese Dogmen, und dann gehörst du dazu, zählst zu den Guten und Gerechten. Oder du weigerst dich, sie anzuerkennen, weil du von den Vorteilen einer individuellen Leistungs- und Kompetenzgesellschaft überzeugt bist, und gehörst zu den Abtrünnigen. Diese Religionslehre hat ihre Priester. Die wichtigste Priesterin in den USA heisst Alexandria Ocasio-Cortez – mit über zehn Millionen Followern auf Twitter.
Okay. Aber Hand aufs Herz – wer glaubt wirklich an diese Dogmatik? Das klingt nach einer sehr abgehobenen, weltfremden Lehre. Lassen sich der Mann oder die Frau von der Strasse davon überzeugen? Und glauben die Eliten ernsthaft daran?
Jetzt wird es interessant. Nehmen wir zuerst die Eliten. Es gibt die kulturellen Eliten, die auf ihren Bildungsbesitz achten, es gibt die wirtschaftlichen Eliten, die mehr auf ihren Profit schielen, und es gibt die politischen Eliten, die es auf ihre Macht abgesehen haben. Sie alle spielen das Spiel längst mit. Manche von ihnen fühlen sich schuldig, weil sie eben Geld, Bildung, Macht haben. Andere fühlen sich nicht schuldig, wollen sich aber nicht exponieren, sondern in Ruhe ihr Leben führen und ihren Besitz pflegen. Und nochmals andere fürchten sich vor der radikalen Rechten und sind im Prinzip für alles zu haben, was der Etikette nach aus der linken Ecke kommt. Deshalb schauen die Eliten zu, dulden die neue Glaubenslehre oder tragen sie pro forma sogar mit.
Das wäre dann reiner Opportunismus.
Natürlich. Und das gilt auch für den Mann oder die Frau von der Strasse. Wenn du unter harten Bedingungen bei Ben & Jerry’s Ice Cream arbeitest, während dein oberster Chef lauthals die gewaltbereite «Black Lives Matter»-Bewegung unterstützt, dann zuckst du innerlich zusammen. Du verspürst Wut. Aber am Ende schweigst auch du – weil du deinen Job nicht verlieren willst und eine Familie durchzubringen hast.
Wenn Sie recht haben, hiesse das, dass eine kleine Minderheit von Aktivisten alle anderen Bürger vor sich hertreibt.
So verhält es sich in der Tat. Sie schreien laut, sie sind sehr effektiv und höchst gefährlich. Sie finden Verbündete in den Eliten, die sich einen Nutzen von der neuen Glaubenslehre versprechen. Die setzen über alte Medien und soziale Netzwerke ganze Industrien, Firmen, Hochschulen und Parlamente moralisch unter Druck. Sie haben schon Lehrstühle und sitzen schon in Parlamenten. So hat sich ihr sprachliches Framing mittlerweile bis in den Alltag hinein durchgesetzt, alle reden die ganze Zeit von den Idealen von...