E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Reihe: Gatsby
Schertenleib Die Fliegengöttin
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-311-70032-6
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Reihe: Gatsby
ISBN: 978-3-311-70032-6
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, gelernter Schriftsetzer und Typograph, ist seit 1982 freier Schriftsteller. Seine Novellen, Erzählbände und Romane wie die Bestseller Das Zimmer der Signora und Das Regenorchester wurden in ein Dutzend Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, seine Theaterstücke auf der ganzen Welt auf die Bühne gebracht. Schertenleib lebte zwanzig Jahre in Irland, vier Jahre auf Spruce Head Island in Maine und wohnt seit Sommer 2020 im Burgund.
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2
Er machte den Radiowecker aus, bevor der Alarm losging, schwang die Beine aus dem Bett, gähnte, schlüpfte in seine Hausschuhe und trat ans Fenster. Eilis hatte aufgehört zu quengeln, er hörte sie schniefen. Weinte sie? Heute war, beschloss er, Mittwoch. Spätestens nach dem Mittagessen würde er erfahren, ob seine Annahme richtig war: Mittwochnachmittags kam Harry, der Händler aus Nordirland, der mit seinem Lieferwagen Gemüse brachte, Kartoffeln und gelegentlich frischen Fisch verkaufte und Klatsch und Tratsch von Dorf zu Dorf trug.
Am Himmel, von Regenschleiern schattiert, trieb eine Wolke, gebläht wie ein Segel. Ich bin dreiundachtzig Jahre alt, und ich habe Angst vor dem Tod, dachte Willem bestürzt. »You don’t fry if you don’t buy!« Dieser Satz, den der Händler in weichem Singsang wiederholte, wenn er fangfrischen Fisch im Sortiment führte, brachte Willem immer wieder dazu, Forellen oder Makrelen zu kaufen, obwohl er sie noch immer nicht fachgerecht ausnehmen konnte. Wie geschickt Eilis früher mit dem Fischmesser umgegangen war, wie schnell und sauber sie eine Forelle geputzt und zerteilt hatte, um ihn dann mit blutigen Händen lachend durchs Haus zu scheuchen! Er liebte den Spitznamen, den nur Eilis verwendete, auch wenn er nie aufgehört hatte, dagegen zu protestieren.
Der Fels aus blauem Mergel fiel ihm ein, ein steinerner Walrücken, der den Strand in eine helle und in eine dunkle Hälfte teilte. Die dunkle Hälfte, aus der bei ungünstigem Wind Modergeruch herüberwehte, betrat er ungern. Als junger Mann hatte er sich gar nicht auf jene Seite gewagt; das Licht schien fahler dort, der Sand gröber, das Wasser kälter. Schwemmholz und Tangstränge lagen zwischen vermoosten Felsblöcken, Schwemmholz, das an Knochen, Tangstränge, die an Schlangen erinnerten. Der steinerne Walrücken war eine Grenze gewesen, die er nicht überschritt.
Die Frage, wozu Pyjamas Brusttaschen haben, hatte er sich nie zuvor gestellt. Was zum Teufel musste man bei sich tragen, wenn man sich schlafen legte? Seinen Pass? Eine Scheibe Toast als Wegzehrung für die Reise durch die Nacht? Baldriantropfen? Er nahm die Schachtel John Players aus der zweitobersten Schublade der Kommode: Sie passte genau in die Brusttasche. Früher hatte er die Zigaretten mit einer Rolle Pfefferminzpastillen in einer Dose im Gartenschuppen versteckt. Selbstverständlich hatte Eilis trotzdem gerochen, dass er rauchte. Die Blechdose, von der die Farbe blätterte, hatte nach Bohnenkaffee geduftet, ihr Deckel war zerkratzt, ihr Bügelverschluss ausgeleiert gewesen.
Er öffnete das Fenster und zündete sich eine Zigarette an; die Angewohnheit, das Plastikfeuerzeug in die Packung zu schieben, sobald Platz dafür da war, hatte er Meghan vor vielen Jahren abgeschaut. Er wollte nicht an seine Tochter denken und sah sie trotzdem vor sich: lachend, auf der Schaukel, die er für sie in den Apfelbaum gehängt hatte. Er atmete tief ein und blies den Rauch mit geschlossenen Augen ins Freie. Auf dem Fenstersims lag eine Handvoll toter Fliegen; eine zerdrückte er zwischen Daumen und Zeigefinger, ließ sie auf den Boden fallen und schob sie unter den Radiator.
Er hatte immer wieder versucht, mit dem Rauchen aufzuhören, hatte Nikotinpflaster und Nikotinkaugummis gekauft, war sogar heimlich bei einem Hypnotiseur in Donegal Town gewesen, einem Mann mit nikotingelben Fingern, schlechten Zähnen und Mundgeruch. Spätestens als er die vielen Kippen unter dem Fenster des Wartezimmers entdeckt hatte, war ihm klar geworden, dass er sein Geld für nichts ausgegeben hatte.
Saß die Tasche bei allen Pyjamas auf der linken Brust? Er nahm sich vor, das in den nächsten Tagen zu überprüfen, ahnte aber, dass er es vergessen würde, wenn er es nicht sofort tat. Er nahm einen letzten Zug und drückte die Zigarette im italienischen Aschenbecher aus, den er vor dem Sims deponiert hatte. Der Name des Lokals war nicht mehr zu entziffern, früher hatte er ihn gewusst, die Adresse dagegen war deutlich zu lesen: Via dei Maroniti, Roma, Italia. Wann waren sie in Rom gewesen? Drei Jahre vor Meghans Tod, vier? Da ihnen die ungewohnte Hitze zu schaffen machte, verbrachten sie die Mittagsstunden dösend und lesend im Hotelzimmer; er erinnerte sich an das weiße Licht, das durch die Lamellen der Holzläden auf ihr Bett und Eilis’ nackten Körper fiel, hörte erneut die Geräusche der Stadt, die aus der Ferne zu ihnen drangen und sie in die wundersam verlangsamte Welt des Halbschlafes trugen. Eine Welt, aus der sie herausfanden, indem sie zerstreut miteinander schliefen. Das Ristorante in der Via dei Maroniti war ganz in der Nähe ihres Hotels, sie hatten mehrmals dort gegessen, auch, weil sie ein Kellner bevorzugt behandelte, der sich darüber amüsierte, wie Eilis die italienischen Speisen aussprach und ihn dabei treuherzig anstrahlte. Damals hatte Willem seinen ersten Grappa getrunken, seine erste Calzone gegessen. An ihrem letzten Abend hatte der Kellner Eilis den Aschenbecher mit den Worten »Per la bella donna dall’ Irlanda!« überreicht. Sonderbar, welche Sätze einem bleiben, ging ihm durch den Kopf, während er seine vier Pyjamas aufs Bett legte. Tatsächlich waren alle Brusttaschen auf der linken Seite aufgenäht! Die Pyjamas waren ungebügelt und rochen nach Mottenkugeln. Willem machte die Wäsche, kaufte ein, putzte, kochte. Bügeln aber würde er niemals, das hatte er sich geschworen. Es störte ihn nicht, zu einem zerknitterten Hemd eine Krawatte mit Brandlöchern zu tragen, es gefiel ihm, es passte zu seinem Zustand, wie er Fonsie erklärt hatte. Auch Eilis schien sich nicht an ungebügelten Kleidern, Röcken und Blusen zu stören. Er legte die Pyjamas zurück in die Kommode, schloss das Fenster und zog die Gardine zu, um die Stummel im Aschenbecher nicht mehr sehen zu müssen, siebzehn, er hatte sie gezählt. Eilis hatte nie geraucht, nicht eine einzige Zigarette in ihrem Leben. Als junger Mann hatte es ihm gefallen, erst den letzten Schluck aus einer Bierflasche zu nehmen, dann sofort den letzten Zug einer Zigarette, sie in die Flasche fallen zu lassen und dem Zischeln der erlöschenden Glut zu lauschen. Die Stummel in den leeren Flaschen hatten ausgesehen wie Wespen, die ihm in die Falle gegangen waren. Wenn er die Bierflaschen schüttelte, war es, als kämpften die Wespen um ihr Leben.
Über dem Meer war der Himmel eine Spur dunkler, eben lief die Fähre nach Magilligan Point aus, ihr Kielwasser schrieb zwei Linien in die Wasseroberfläche, die sich nach wenigen Augenblicken auflösten. Der Regen fiel so dicht, dass er das andere Ufer des Lough Foyle, knapp zwei Seemeilen entfernt, nicht sehen konnte. Ein Jeep mit angehängtem Sheeptrailer bog auf den Parkplatz der Anlegestelle, blieb nur kurz stehen, wendete und fuhr mit kreischenden Reifen davon: Der Farmer hatte die Fähre nach Nordirland verpasst. Willem sah die schwarzen Gesichter der Schafe und ihr zotteliges Fell, rot markiert, das durch das Gitter des Trailers drückte. Ich bin die Kompromisse, die man als Ehemann eingehen muss, gern eingegangen, dachte er und lächelte, weil er sich vorstellte, was Eilis früher dazu gesagt hätte. »Und ich habe die Kontrolle sehr genossen, die man in dieser Rolle ausübt!«, sagte er laut und pochte mit den Knöcheln an die Scheibe.
Als er das letzte Mal mit Arnold telefoniert hatte, war dessen Stimme so nah gewesen, als lebte ihr Sohn nicht in Boston, Massachusetts, sondern in Greencastle, nicht weit von seinem Elternhaus entfernt. Arnold und sein Partner Callan steckten in finanziellen Schwierigkeiten, so viel hatte er erzählt, da bei der Renovierung des Cottages, das sie an der Küste Maines gekauft hatten, Probleme aufgetaucht waren. Arnold hatte nicht versucht, seine Sorgen zu überspielen, aber er hatte auch nicht um Hilfe gebeten. Willem versuchte, sich Arnold vorzustellen, jetzt, in diesem Augenblick, Arnold Declan, ihren einzigen Sohn, aber er sah nur die Verzweiflung in seinen Augen und die dunkle Trauer, die jedem Vater und jeder Mutter Angst einjagen. Wie spät war es in Boston? Fünf Stunden früher oder später? Lag sein Sohn im Bett? Oder standen er und Callan in ihrem Restaurant EatBeat an der Massachusetts Avenue in Cambridge? Dass er sich an die Namen erinnerte, sich aber die Zeitverschiebung zwischen Irland und Amerika so wenig merken konnte wie das Datum, an dem von Sommerzeit auf Winterzeit umgestellt wurde, machte ihn wütend. Die Trauer, die schon als Kind in Arnolds Blick lag, hatte sie als Eltern zutiefst erschreckt. Von seiner Mutter hatte Arnold diesen melancholischen oder eher wohl schwermütigen Wesenszug nicht geerbt. Eilis hatte zeitlebens das Licht gesehen, nicht den Schatten, sie war ein Sonntagskind. Sie war immer die Frau gewesen, die aufstand und beherzt ein Lied sang oder ein Gedicht vortrug, nicht die Frau, die ruhig sitzen blieb, um anderen zuzuhören und freundlich zu applaudieren. Aber wir werfen kein Licht, wir Menschen werfen einzig einen Schatten, und auch den nur, wenn Licht auf uns fällt, ob uns das nun passt oder nicht. Woher hatte er diese platte Weisheit? Aus dem Fernseher, dem Radio?
Er verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere und hörte das vertraute Knarzen des Dielenbrettes, das von einer tiefen Kerbe markiert war. Vor vier Jahren war Eilis die Schmuckschatulle aus der Hand geglitten. War das ein erstes Anzeichen ihrer Krankheit gewesen? Das Haus war ein Teil von ihm. Eilis und er hatten es nach ihrer Hochzeit mit Hilfe ihrer Eltern gekauft und darin eine Familie gegründet. Der Name des Hotels in Rathmullan, in dem sie Hochzeit gefeiert hatten, war ihm...