E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Schermer Liebe wie gedruckt
16001. Auflage 2016
ISBN: 978-3-8437-1222-4
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Hiddensee-Roman
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1222-4
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rieke Schermer ist das Pseudonym der Autorin Susanne Lieder. Sie wurde 1963 in Ostwestfalen geboren, ist verheiratet und hat drei erwachsene Söhne. Inzwischen lebt sie mit ihrem Mann auf einem kleinen Resthof in der Nähe von Bremen.
Autoren/Hrsg.
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Zartbitterschokolade
Hiddensee im Frühling
Im Frühling war Hiddensee ganz besonders schön. Die hellgrünen Blätter an den Bäumen, der allgegenwärtige Duft der Maiglöckchen, die in Hülle und Fülle in den Gärten sprossen, und das ganz besondere Sonnenlicht, das sich in der eisigen Ostsee spiegelte. All das sorgte bei Hannah für freudiges Herzklopfen. Sie liebte den Frühling.
Sie war sehr früh an diesem Morgen zum Friedhof geradelt, zwei Töpfchen mit gelben und orangefarbenen Ranunkeln und drei blaue und rosafarbene Hyazinthen im Korb.
Jetzt hockte sie sich hin und zupfte Unkraut, das sich unter den frisch gepflanzten Buchsbäumchen hindurchgezwängt hatte.
Dabei rutschte ihr die Kapuze ihres sandfarbenen Anoraks auf den Kopf. Sie hatte ihn erst vor wenigen Monaten gekauft, nachdem ihre Freundin Silke sie mit ausschweifenden Worten davon überzeugt hatte, wie gut er zu ihrem dunklen Haar passen würde. Eigentlich hatte sie sich für den bevorstehenden Sommer neu einkleiden wollen, und ein Anorak gehörte nun wirklich nicht zu einer Sommergarderobe.
»Damit locke ich den Regen ja geradezu an«, hatte sie gemeint – und ihn trotzdem gekauft.
»Ach, Papa.« Sie seufzte und blinzelte die aufsteigenden Tränen weg. Anfang des Jahres war ihr Vater ganz überraschend an einem Herzinfarkt gestorben. Noch immer sah sie ihn in der Backstube stehen oder sich breit lächelnd die Hände reiben, wenn sie ihn zum Mittagessen gerufen hatte. Er war ihre ganze Familie gewesen.
Sie nahm eine der Ranunkeln aus dem Topf, kniete sich auf die feuchte Erde und hob mit einer kleinen Handschaufel ein Loch aus. Mit einer ungeduldigen Bewegung schob sie die Kapuze vom Kopf. »Ich hab dir auch blaue Hyazinthen mitgebracht, Papa. Und für dich rosafarbene, Mama.«
Ihre Mutter war gestorben, als Hannah gerade zwanzig geworden war. Fast fünfzehn Jahre war das nun her.
Sie stand auf und betrachtete die Grabstelle ihrer Eltern. Sie kam oft hierher, auch wenn der Friedhof kein Ort war, an dem sie sich ihren Eltern besonders nah fühlte. Im Gegenteil.
Ihrem Vater fühlte sie sich viel näher, wenn sie in der Backstube war, die Teigmaschine lief und der Ofen brummte.
»Ach, Papa, wenn es doch nur wieder so wäre, dass der Ofen brummt.«
Ihre Eltern hatten die Konditorei Büchner in Vitte gegründet. Ihr Vater hatte in der Backstube und ihre Mutter vorn im Laden gestanden. Hannah war praktisch in der Backstube groß geworden.
Als ihre Mutter gestorben war, hatte ihr Vater eine Verkäuferin eingestellt, die mittlerweile in Rente war. Vor zwei Jahren war dann Antonia, Toni, gekommen, eine temperamentvolle junge Frau mit ziemlich losem Mundwerk, mit der Hannah sich von Anfang an blendend verstanden hatte.
Seit dem Tod ihres Vaters war die Konditorei Büchner geschlossen, weil Hannah keine Konditormeisterin war.
Seitdem war sie auf der Suche nach einem Meister, was wesentlich schwieriger war, als sie geglaubt hatte.
Eine Amsel kam angeflogen und hockte sich auf den schlichten Grabstein. Sie legte den Kopf schief und musterte Hannah neugierig. Dann hopste sie auf den Boden und scharrte mit dem Schnabel in der frisch aufgewühlten Erde. Es dauerte nicht lange, und sie hatte einen höchst ansehnlichen Regenwurm ergattert. Bevor Hannah ihn sich womöglich schnappen konnte, packte der Vogel ihn und flog damit auf den nächsten Baum.
Die Sonne schob sich durch die dünne Wolkendecke. Bis gestern Abend hatte es leicht genieselt, was dafür gesorgt hatte, dass an sämtlichen Bäumen und Sträuchern die hellgrünen und noch sehr zarten Knospen regelrecht aufgeplatzt waren.
Praktisch über Nacht war der Frühling auf Hiddensee ausgebrochen.
Hannah strich über den schlichten Grabstein ihrer Eltern und wandte sich dann ab. Sie schlenderte vorbei an den niedrigen Buchsbaumhecken und efeubewachsenen Bäumen, die im Sommer wunderbare Schattenspender waren, und an den Epitaphen der ehemaligen Äbte und Klosterbrüder.
Als kleines Mädchen hatte sie sich manchmal auf diesem Friedhof gegruselt.
Sie ging vorbei am Grab von Gerhart Hauptmann, blieb kurz davor stehen und setzte sich schließlich auf eine Bank.
Bald begann die Hauptsaison auf der Insel. Die ersten Touristen waren bereits mit der Fähre gekommen. Und wenn das so weitergeht, wird die Konditorei Büchner keine Brötchen für sie backen?…
Hannah seufzte verdrießlich und streckte die Beine aus.
Ein weiterer langer Tag lag vor ihr. Ein Tag, an dem sie Spaziergänge machen und aufs Meer hinausblicken würde. Mittags würde sie eine Kleinigkeit auf ihrem Balkon essen, danach vielleicht Silke in deren Atelier besuchen oder sich an den Strand setzen und den Möwen zuschauen.
Ein Tag nach dem anderen war vergangen, ohne dass auch nur die Aussicht darauf bestanden hatte, einen Konditormeister zu finden.
Von ihren Gedanken ganz trübsinnig geworden, stand sie schließlich auf.
Über den schmalen Weg ging sie zu ihrem knallroten Fahrrad, das sie an eine Birke gelehnt hatte. Sie stieg auf und trat schwungvoll in die Pedale. Und genau in dem Moment kam der Pastor um die Ecke, und es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte ihn umgefahren.
Auch, weil sie nicht besonders aufmerksam und mit ihren Gedanken ganz woanders gewesen war.
»Hannah.« Er legte eine Hand auf den Lenker. »Das war aber knapp.«
Sie nickte zerstreut. »Tut mir leid.«
»Ist ja nichts passiert.« Er sah sie prüfend an. »Wie geht's dir?« Er kannte sie, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. »Ganz gut.«
»Immer noch keinen Konditor gefunden?«, erkundigte er sich.
»Nein, leider. So schwierig hatte ich mir das nicht vorgestellt.«
Er kratzte sich nachdenklich am Kinn.
»Man sollte doch meinen, dass sich jemand finden lässt.«
Hannah schwieg. Was hätte sie auch antworten sollen?
»Ich werde für dich beten.«
Er nickte ihr wohlwollend zu und lief mit seinen so typisch kleinen, sehr flotten Schritten weiter.
»Ja, prima«, murmelte Hannah und stieg wieder aufs Rad.
Wenn der Insel-Pastor für einen Konditormeister betete, dann konnte ja nichts mehr schiefgehen.
Silke war die beste Freundin, die sie hier auf der Insel hatte. Nein, eigentlich war Silke mehr; sie war die beste Freundin, die sie überhaupt je gehabt hatte.
Silke war keine Insulanerin, sie hatte vor einigen Jahren hier Urlaub gemacht, sich verliebt und war geblieben. Für Hannah ein Glücksfall.
Anstatt sie zu besuchen, hatte Hannah sich auf den Balkon gesetzt und in einem Gartenbuch geblättert in der Hoffnung, dass die hübschen Fotos von leuchtend bunten Blumen und Pflanzen sie ein bisschen aufmuntern würden.
Normalerweise war sie kein lethargischer Mensch, aber zurzeit konnte sie sich nicht einmal dazu aufraffen, ihre kleine Wohnung, die direkt über der Konditorei lag, aufzuräumen und sauber zu halten. Nichts machte ihr Spaß, und zu kaum etwas konnte sie sich motivieren.
Anfangs hatte sie sich gesagt, dass sie das Gute im Schlechten sehen sollte. Immerhin hatte sie die Freiheit, tun und lassen zu können, wonach ihr der Sinn stand.
Doch was nützte einem dieser Vorsatz, wenn man zu nichts Lust hatte?
Besonders schlimm war es, wenn sie den leeren Verkaufsraum der Konditorei sah oder in der Backstube stand, in der es so still war, dass es ihr fast unheimlich vorkam.
Als es bereits dämmerte, beschloss sie, einen ausgiebigen Spaziergang zum Leuchtturm zu machen.
Das würde ihr guttun und ihre trüben Gedanken hoffentlich wenigstens für eine Weile verscheuchen.
Nein, besser sie ging eine Runde laufen. Das vertrieb dunkle Gedanken noch schneller, das wusste sie aus langjähriger Erfahrung.
Ihren MP3-Player in der Jackentasche, die weißen Ohrhörer eingestöpselt, lief sie leichtfüßig los. Und mit jedem Schritt kehrten ihr Schwung und ihre Fröhlichkeit zurück. Auch die Mutlosigkeit verschwand nach und nach und machte der Hoffnung und dem Optimismus Platz, für den Hannah bekannt war.
Sie würde einen Konditormeister finden, das wäre doch gelacht!
Im Laufen stellte sie den MP3-Player noch etwas lauter, und als Die perfekte Welle von Juli ertönte, sang sie den Refrain mit.
Als sie den gewundenen Weg zum Leuchtturm hochlief, wurde sie von einem warmen Glücksgefühl durchflutet, wie immer, wenn sie hier entlanglief.
Eine Spaziergängerin, eine ältere Dame mit weißem Kopftuch, das leicht im Wind flatterte, kam ihr entgegen und lächelte amüsiert. Wahrscheinlich, weil sie so laut sang.
Es störte Hannah nicht. Sie grüßte mit einem ebenso breiten Lächeln zurück.
Zwei Möwen flogen über ihrem Kopf, vermutlich hofften sie auf einen kleinen Snack.
Auch wenn der Winter für Hannah einen ganz besonderen Reiz hatte und sie die klare, frische Luft und das tosende Meer mit den schäumenden Wellen mochte, so freute sie sich immer unbändig auf den Frühling und Sommer.
Als sie am Leuchtturm ankam, trippelte sie auf der Stelle, dann machte sie kehrt und lief zurück. Sie war überzeugt davon, wunderbar schlafen zu können.
Als sie am nächsten Morgen wie immer sehr früh aufwachte, drehte sie sich noch einmal auf die andere Seite. Sie hatte sich noch nicht daran gewöhnt, ausschlafen zu können, denn normalerweise war sie um halb vier in der Früh aufgestanden. Sie kuschelte sich unter die Bettdecke und versuchte einige Minuten lang sehr hartnäckig, sich davon zu überzeugen, dass ein Tag, an dem man nichts...