E-Book, Deutsch, 232 Seiten
Scherm Der Nomadengott
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-95765-996-5
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 232 Seiten
ISBN: 978-3-95765-996-5
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
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1950 in Fürth geboren und aufgewachsen, lebt seit 1996 in einem alten Fachwerkgehöft in Binzwangen bei Colmberg. Gerd Scherm ist als Schriftsteller und Bildender Künstler tätig. Ab 1972 war er Mitarbeiter von Eugen Gomringer, dem Begründer der 'Konkreten Poesie', und Projekt-Assistent des ZERO-Künstlers Prof. Otto Piene (M.I.T., Cambridge, Mass., USA) für verschiedene Umweltkunst-Projekte und arbeitete als Kreativdirektor für die Rosenthal AG in Selb. Gerd Scherm hat eine Vielzahl von Einzelveröffentlichungen vorzuweisen, darunter Theaterstücke, Lyrikbände, Erzählungen, Satiren und Romane. Einer seiner Schwerpunkte liegt in der Lyrik, die er meist in künstlerisch-bibliophiler Ausstattung präsentiert, und die auch immer wieder zeitgenössische Komponisten zu Werken anregt (Werner Heider, Erwin Koch-Raphael, Ingo Bathow und Franck Adrian Holzkamp). Literarisch-künstlerische Editionen und Aktionen schuf Gerd Scherm gemeinsam mit Otmar Alt, Jean-Marie Bottequin, Ortwin Michl, Josef Obornik, Erich Reusch, Wilhelm Schramm und Brigitte Tast. Gerd Scherm war u.a. Gastdozent an der Universität St. Gallen und an der Freien Universität Berlin im Fachbereich Kultur- und Religionssoziologie. Auszeichnungen: 1972 Kulturförderpreis der Stadt Fürth 1974 Stipendium des Auswärtigen Amtes, Aufenthalt in Italien 1977 Rosenthal Grenzland-Lyrik-Preis 1991 Essaypreis der Fürther Freimaurerloge 1995 Wolfram-von-Eschenbach-Förderpreis 1995 Stipendium des Auswärtigen Amtes, Aufenthalt in Schottland 1998 Ehrensenator des Deutschen Freimaurer Museums Bayreuth 1998 Matthias-Claudius-Medaille, Berlin 2001 Paulskirchen-Medaille 2004 BoD Autoren Award für den Roman 'Der Nomadengott' 2006 Friedrich-Baur-Preis für Literatur der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 2007 Turmschreiber auf Burg Abenberg 2010 Das Bayerische Kultusministerium fördert das Drama 'Alexander der letzte Markgraf' mit 20.000 Euro
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Beben in Theben
Wir befinden uns im Jahr 1500 vor unserer Zeitrechnung im ägyptischen Theben im dritten Jahr der Regentschaft des Pharao Ahmose, der allenfalls davon träumt, Begründer des Neuen Reiches und der 18. Dynastie zu werden.
Zum Leidwesen aller an dieser Geschichte Beteiligten ist Theben an diesem Tag noch nicht das große Theben, das es schon bald sein wird. Fast alle prachtvollen Tempel und Paläste existieren noch nicht einmal in der Fantasie noch nicht geborener Pharaonen. Schade, aber die Geschichte beginnt trotzdem jetzt im Zentrum des südlichen Oberägyptens, wo in erster Linie der Gott Amun das Sagen hat, gefolgt von weiteren Göttern und dem Pharao Ahmose. Wobei der Letztere sagt, was die zu tun haben, die keine Götter sind.
Eine dunkle, untersetzte Gestalt huschte durch die engen Gassen der Altstadt.
Trotz der schwülen, drückenden Augustnacht war die Gestalt von den Haarspitzen bis zu den Sandalen in Decken gehüllt. Der keuchende Schemen erreichte eine Tür und klopfte in einem komplizierten Rhythmus. Kurze Zeit darauf wurde von innen im gleichen Rhythmus mit Klopfzeichen geantwortet und danach erschien eine lange Nase im sich öffnenden Türspalt: »Parole?«
»Der Kopf trennt Himmel und Erde«, zischelte der Deckenberg.
»Wie viele Finger hat der Horusfalke?«, fragte die Nase.
»Keine, du Trottel, weil ein Falke keine Hände hat!«, entgegnete schon etwas lauter die dickleibige Mumie.
»Ich meine, wie viele Flügel hat der Horusfalke?«, entschuldigte sich die Nase.
»Einen im Westen und einen im Osten«, antwortete leicht ungeduldig der Ankömmling.
»Zu welcher Stunde setzt sich der Falke nieder?«, fragte die Nase ungerührt weiter.
»Zur achten? Zur neunten?«, kam zögernd die fragende Antwort.
»Falsch! Ich lass dich nicht rein«, tönte es triumphierend aus dem Türspalt.
»Zur zehnten? Zur elften? Zur zwölften? Verdammt, ich habe es vergessen! Lass mich jetzt endlich rein, Almak, du weißt genau, dass ich es bin, Raffim«, bettelte der Deckenberg.
»Ich wurde zum obersten Hüter des nilwärtigen Tores ernannt und mir wurde geheißen, nur denen Einlass zu gewähren, die sich den vorgeschriebenen Prüfungen erfolgreich unterzogen haben. Basta, du bleibst draußen, Raffim!«, tönte die Nase.
»Aaalmak! Ich werde dich meinen Krokodilen zum Fraß vorwerfen, wenn du mich nicht augenblicklich einlässt. Ich muss zur Versammlung, das weißt du ganz genau!«, kreischte der vor Zorn bebende Raffim.
In diesem Moment erschien im Haus gegenüber ein Kopf im Fenster und brüllte: »Ruhe, ich will schlafen!«
»Das hier geht dich überhaupt nichts an«, schrie Raffim zurück. »Wir sind eine Geheimgesellschaft!«
»Dann bleibt gefälligst geheim und haltet euer Maul!«, schnauzte der Fensterkopf zurück.
»Ich würde ja, aber Almak, der Trottel, lässt mich nicht zur Versammlung«, entgegnete der immer zorniger werdende Raffim.
»Almak, lass Raffim endlich zur Versammlung, damit ich schlafen kann. Wenn nicht, zeige ich eure ganze Geheimgesellschaft morgen bei der Verwaltung wegen nächtlicher Ruhestörung an!«, polterte der Kopf und zog sich ins Haus zurück.
»Siehst du, das hast du nun davon, Almak. Eines Tages wird er uns wirklich anzeigen. Jede Nacht das gleiche Theater«, brummte Raffim, während er sich durch den nun geöffneten Türspalt zwängte. Der Raum war nur spärlich beleuchtet. Sehr spärlich.
Drei schwindsüchtige Kerzen schienen in Form eines gleichseitigen Dreiecks zu schweben. Erst wenn sich die Augen an die schummrige Beleuchtung gewöhnt hatten, erkannte man, dass die Kerzen auf dünnen Spießen standen.
Rund um die Kerzenspieße kauerten einige Gestalten. Eine davon bewegte sich und sprach: »Na endlich, Raffim, musst du immer zu spät kommen?«
»Zuerst haben die Krokodile nicht weinen wollen und dann hat mich auch noch der Idiot an der Tür aufgehalten«, erwiderte harsch der Neuangekommene.
»Ach so, die Krokodile haben mal wieder nicht so geweint, wie du wolltest. Scheinen doch schlaue Viecher zu sein«, sagte die Gestalt.
»Geschäft ist Geschäft, Seshmosis, aber davon verstehst du Schreiberling ja nichts«, wehrte Raffim ab.
Hier muss unbedingt erwähnt werden, welches Geschäft Raffim betrieb: Er war Devotionalienhändler im Dienste des Krokodilgottes Suchos.
Besser gesagt, in eigenen Diensten, auf eigene Rechnung und auf eigenen Profit handelte Raffim mit allem, was im entferntesten mit dem Kult um Suchos zu tun hat.
Und das ist bei einem Mann mit dem Geschäftssinn von Raffim sehr viel.
Angefangen von Amuletten über kleine Statuen und vergilbten Krokodilzähnen bis zu Gürteln, Sandalen und Taschen. Dazu betrieb er einen Imbissstand mit Krokodilwurst, Krokodilmilch, Krokodilschnaps, Krokodilhackbällchen und geraspelten, mit Honig versetzten Krokodillederresten als Süßigkeiten.
Absoluter Verkaufsschlager waren jedoch seit Jahren Krokodilstränen, die Raffim unter nicht näher bekannten Umständen den Reptilien höchstpersönlich abtrotzte, trocknete und dann in Silber oder Gold fassen ließ und zu horrenden Preisen im Vorhof des Tempels verkaufte.
Wenn man den stiernackigen, pockennarbigen, untersetzten Dreizentnermann Raffim mit seinen Geieraugen sah, mochte man nicht mit den Krokodilen tauschen.
Man ahnte zumindest, wie er an die Tränen kam.
»Schon gut, lasst uns endlich anfangen. Wir sind vollzählig«, konstatierte der als Seshmosis Angesprochene und fuhr fort: »Ich habe eine Botschaft bekommen, die nichts Gutes verheißt. Hört mir zu: Ägypten den Ägyptern! Die Hyksos und ihre Abkömmlinge beherrschen unseren Handel.«
Eine Stimme aus dem Dunkel fragte: »Wer sind die Hyksos?«
»Wir!«, sagte Seshmosis und las weiter vor. »Sie essen nicht nur unser Brot, sie verkaufen es sogar an uns. Sie dienen fremden Göttern, und sie beten auch zu unseren Göttern, sodass diese keine Zeit mehr haben, unsere Gebete zu erhören. Sie treiben Handel mit den heiligen Gegenständen, hörst du, Raffim, das gilt dir!«, unterbrach Seshmosis.
»Die sollen erst mal versuchen, ein Krokodil zum Weinen zu bringen, bevor sie mitreden!«, empörte sich Raffim.
»Gut, weiter. Hier steht noch mehr: Die Hyksos haben schnellere Webstühle, sie umwerben unsere Frauen und bringen unseren Kindern Lesen und Schreiben bei. Schluss damit! Denn in Bälde werden sie sich nicht mehr scheuen, unsere Pyramiden und Gräber zu plündern, unsere Frauen zu schwängern und ihren eigenen Kindern Lesen und Schreiben beizubringen. Kauft nicht bei Hyksos! Leiht euch kein Geld von Hyksos. Und wenn, dann zahlt es nicht zurück.«
»Das ist heftig. Ich meine, dass sie das Geld nicht zurückzahlen wollen«, schnaufte Raffim. »Wer hat das verfasst? Steht ein Name darunter?«
Nun näherte sich auch Elimas, der Ziegenhirte, mit einer der Schwebekerzen, um besser sehen zu können.
»Ja, da steht eine Hieroglyphe drunter: Sonne – Korb – Löwenkopf – zweimal Brot – Auge – Wedel – Krakel-S.«
»Zweimal Brot nach Löwenkopf?«, fragte eine Stimme aus dem Dunkel.
»Ja, zweimal«, sprach Elimas in die Finsternis.
»Und am Schluss Krakel-S?«
»Ja, am Schluss Krakel-S!«
»Dann ist es Ahmose persönlich, der Pharao. Ich habe sein Siegel oft genug im Bäderamt gesehen.«
»Ich weiß, dass es vom Pharao ist und deshalb ist es ernst, sehr ernst«, sagte Seshmosis mit leicht zitternder Stimme. »Wir müssen etwas unternehmen. Unter Ahmoses Vorgänger Kamose ging es uns schon fast an den Kragen und ich befürchte, jetzt wird es schlimmer kommen.«
»Aber warum sollten uns die Ägypter denn an den Kragen? Sie brauchen uns doch. Wir mahlen das Getreide, wir weben Stoffe, wir sorgen für Erfrischungen in den Bädern, wir schaffen den Müll weg, wir verkaufen ihnen heilige Gegenstände«, wandte Almak ein.
»So wird es auch bleiben. Bis auf das Verkaufen. Alles andere werden wir auch weiterhin tun dürfen – als Sklaven«, erwiderte Seshmosis sarkastisch.
»Geglaubt wird immer! In solchen Zeiten mehr denn je, ich habe keine Angst um mein Gewerbe!«, tönte Raffim in unerschütterlicher Überzeugung.
Seshmosis schüttelte nachdenklich den Kopf. »Geglaubt schon, Raffim, aber du wirst das Geschäft nicht mehr machen. Sie werden dich sicher nicht töten, weil sie dich brauchen. Keiner kann die heiligen Krokodile so gut zum Weinen bringen wie du, das wissen sie. Aber du wirst diesen Job als Sklave machen und für nichts, außer, dass sie dich am Leben lassen.«
»Ich könnte ihnen eine neue Statue des Suchos stiften, eine aus purem Gold! Sie werden mir dankbar sein.«
Doch Raffim schien nicht sehr überzeugt, als er diesen Vorschlag machte. Er wusste, dass sie, wenn sie wollten, auch anders an sein Gold kämen. »Was also...




