Scherer | Die Hundegrenze | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 96 Seiten

Scherer Die Hundegrenze


1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-88221-928-9
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 96 Seiten

ISBN: 978-3-88221-928-9
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
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Glanzstück der Reportageliteratur Colliemischling Alf und seine Artgenossen, die an der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten Wachdienst verrichten und auf Patrouille gehen, sind die Hauptfiguren dieses Glanzstücks der Reportageliteratur. Marie-Luise Scherer schildert eindringlich und präzise das Geschäft von Hunden und Menschen am Grenzstreifen, ihre Kunst der literarischen Reportage ist unerreicht. ?Die Hundegrenze? ist durch die politischen Entwicklungen seit 1990 zu einem historischen Dokument geworden und zu einem Klassiker der deutschen Literatur.

Marie-Luise Scherer, geboren 1938 in Saarbrücken, war mehr als zwanzig Jahre lang Autorin beim Spiegel, wo ihre hochpräzisen Geschichten zuerst veröffentlicht wurden. Zuletzt erschien von ihr 2004 in der Anderen Bibliothek die Geschichtensammlung ?Der Akkordeonspieler?. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen. 1994 den Ludwig Börne-Preis, 2008 Italo Svevo Preis und 2011 den Heinrich-Mann-Preis. Marie-Luise Scherer lebt in Damnatz an der Elbe. 'Die Göttin der Reportage, zum Anbeten - wer sie nicht kennt, sollte schleunigst niederknien und lesen.' - Alexander Cammann, DIE ZEIT
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FÜR DIE AUTOS, in denen die Teppichhändler saßen, hatten Herbigs bald einen Blick. Sie kamen flott über den Feldweg gefahren und näherten sich dann im Schleichgang den ersten Häusern. Und ehe man abwinkend vor die Tür treten konnte, postierte sich so ein Auto schon im Hof. Zwei fremdländische Männer stiegen aus. Der eine ging mit geschulterter Teppichrolle auf die Hausbewohner zu, warf seine Fracht vor deren Füßen ab und breitete die guten Stücke über der Klinkertreppe aus.

Schon ein kurzes Hinsehen, auch wenn es sich verneinend gab, war dann zu viel, denn der Mann nahm es als Ermunterung. Am Ende der Vorführung kam der zweite Mann, dessen Verschwinden den Hausbewohnern vor lauter Teppichen entgangen war, aus dem Schuppen herausspaziert und fragte: »Alte Möbel nix?« Gegen Heimsuchungen dieser Art, die mit der gefallenen Grenze einhergingen, entschlossen sich Herbigs zur Anschaffung eines großen Hundes.

Alles fügte sich in zeitlich passender Reihenfolge. Die letzte Heimsuchung durch Teppiche war mittwochs, am Donnerstag fuhr Herr Herbig als glücklicher Mann den Audi vor, seine neue Errungenschaft, und freitags stieß Frau Herbig auf die Annonce in der Schweriner Volkszeitung: Das Grenzkommando Nord hatte einen Restbestand Hunde abzugeben, Nachfragen sonnabends erbeten.

Herbigs eigentliche Zeitenwende beginnt mit dem Tag, als der Audi vor der Tür stand. Alle Geschehnisse sind als vor oder nach dem Audi liegend sortiert. Auf diese Weise kam ihr Hofhund zu der Ehre, dass es in seinem desolaten Lebenslauf das Datum seiner Übergabe gibt, den letzten Sonnabend im August 1990. Damals fuhren Herbigs von Göhlen bei Ludwigslust nach Schlutup/Selmsdorf, der ehemaligen Grenzübergangsstelle bei Lübeck, um den Hund zu holen. Es war ihre erste längere Tour im neuen Auto.

OBERFÄHNRICH SCHÖNKNECHT, zuständig für das Dienst- und Wachhundewesen beim Grenzregiment VI, Dienststelle Selmsdorf, stand in ziviler Sommerhose vor der Zwingeranlage. Diese lag, in Reihen gestaffelt, etwas abseits von den Kasernen zu einem Kiefernwald hin. Den 30 mannshohen Betonboxen schloss sich jeweils ein umgitterter Auslauf an. Die Wege längs der Boxen waren geharkt. An den Querseiten der Hundesiedlung verliefen Rosenrabatten, vor jeder beginnenden Gasse durch einen Zierstrauch unterbrochen. Die akkurate Spärlichkeit dieser Anpflanzung widersprach nicht der Nüchternheit des übrigen Kasernengeländes. Keine atmosphärische Begütigung ging von ihr aus, vergleichbar den munteren Kegeln des Zwergwacholders in einem Klinikgarten. Oberfähnrich Schönknecht sprach von einem ordnungsgemäßen Umfeld, das auch den Hunden bekomme.

In der vordersten Gasse sprangen die Schäferhunde Amor, Muck und Brando an ihren Auslaufgittern hoch. Es waren ältere Diensthunde mit Herkunftspapieren und Prüfungsdiplomen, die an der Seite eines Hundeführers einmal Grenzdienst gemacht hatten. Jetzt hatten sie den Verlust ihrer Herren zu verwinden, in die Städte zurückgekehrte Soldaten ohne weitere Verwendung für sie. Auch Oberfähnrich Schönknecht musste seinem letzten Diensthund das Zuhause schuldig bleiben. Sicher waren das herbe Hundeschicksale, doch für Herbigs nicht herb genug. Sie glaubten sich in einer Kuranstalt, deren Insassen wie die Aale glänzten, aus geputzten Näpfen fraßen und nach kurzen Tumulten wieder absackten in Resignation.

Dieses Prinzendasein wäre hinter ihrem Haus in Göhlen nicht fortzuführen gewesen. Auch würden diese Hunde, von ihrer Anspruchshaltung einmal abgesehen, etwas gekostet haben. Der Zeitwert des Fährtenhundes Amor beispielsweise, mit sieben Jahren so alt wie ihr gebrauchter Audi, betrug noch fünfhundert Mark. Herbigs hatten eher an einen gröberen Wüterich gedacht, der sein Temperament nicht in Heimweh verschwendet.

Oberfähnrich Schönknecht beorderte einen Soldaten, den Herbigs nach Klein Siemz vorauszufahren, eine Ortschaft hinter Schönberg Richtung Ratzeburg. Hier bewachten fünf Laufleinenhunde aus Grenzzeiten ein Munitionsdepot, ein trübsinniger, zu Kopf steigender Dienst wie in den Jahren zuvor zwischen den Zäunen. Das Terrain war schattenlos, und die Hunde hatten sich kühlende Wannen in den Sand gegraben. Sie lagen matt in der Mittagshitze, als sie den Kübelwagen hörten, in dem der Soldat saß.

Jetzt, in Vorfreude einer Abwechslung, bellten sie und rasten zwischen ihren Pflöcken hin und her, dass das Drahtseil über ihnen bebte. Vor allem waren sie durstig. Da der Soldat, der aus dem Auto stieg, keinen Wassereimer trug, verebbte jedoch der Jubel bald, und übrigblieb, indem sie sich setzten, ihr lächelndes Büßertum.

HERBIGS FÜRCHTETEN SICH vor diesen Hunden. Was sie soeben in Aktion erlebt hatten, waren galoppierende Mustangs, unter denen der Boden dröhnte. Selbst in ihrer Enttäuschtheit, wie sie mit flachen Ohren und artig gestellten Füßen den Zuspruch des Soldaten dankten, blieben es Ungetüme. Herr Herbig, als Frührentner zu Hause die Wirtschaft besorgend, sah sich von so einem Burschen im Geiste schon überrannt. Und hätte es nicht den Klagelaut gegeben aus der entferntesten Ecke des Terrains, wäre man ohne Hund nach Göhlen zurückgefahren.

Die Klage kam aus einem Schafgarbengebüsch. Und wo das Gebüsch etwas zitterte, zeigte sich ein schmaler gelber Hundekopf. Der Klage folgten noch einige kurze, nachhakende Töne, denen das Ereignis, endlich besucht zu werden, anzuhören war. Herbigs und der Soldat gingen an den Laufstrecken von vier schweren, dunklen Hunden vorbei. Dem vierten dieser kahlgefegten Abschnitte schloss sich das Revier des fünften, bis dahin versteckten Hundes an.

Er war inzwischen halb aus dem Gebüsch getreten, was ihn die volle Länge seiner Laufleine kostete. Seine Erscheinung strahlte eine gewisse Festlichkeit aus. Ein Geriesel von Schafgarbenblüten bildete ein Dreieck auf seiner Stirn, passend darunter die erfreute Miene. Das gelbe Gesicht lag in einem löwenhaften, etwas helleren Kragen. Die Ohren hielt er so lange hochgestellt, bis Herbig ihn ansprach und er in Überschwang geriet. Wie eine Machete schlug die Rute aus, dass es den ganzen Körper mitriss bis zum Kopf, und die kleine Wildnis, aus der er ragte, rechts und links zur Seite knickte. Gleichzeitig wollte er nach vorne springen, wobei die stramm gespannte Leine ihn zurückriss. Aufrecht, mit rudernden Pfoten, hing er in seiner Fessel. »Das ist Alf«, sagte der Soldat, »den könnten Sie mit einer Mütze totschlagen.«

HANNES SCHWEEN hatte als Zivilbediensteter beim Grenzkommando Nord, Regimentsstab Schönberg, die Planstelle eines Veterinäringenieurs. Seine Aufgabe bestand hauptverantwortlich im Rekrutieren von Dienst- und Wachhunden. Letztere mussten im Unterschied zu den Diensthunden weder Fähigkeiten mitbringen noch später erwerben. Sie hatten nur nach einem Hund auszusehen, worunter Schween eine gewisse abschreckende Größe verstand. Im Idealfall waren sie dunkel und stämmig und durch eine dichte Unterwolle winterhart. Sie sollten nicht von augenfälliger Treuherzigkeit sein und möglichst ohne geringelte Rute. Schween bevorzugte reizbare Kettenhunde vom Dorf mit spitzen Ohren.

Er verfügte über einen festen Stamm von Hundebeschaffern, den er sich mit Beginn seines Amtes 1976 langsam aufgebaut hatte. Hauptsächlich waren es Schäferhundzüchter, die sich ihrerseits von Hundeaufkäufern aus den Dörfern beliefern ließen. Den Bedarf an einfachen Grenzhunden deckten die Züchter aber auch aus eigenen Beständen. Neben den tadellosen, zum Schutz- und Fährtendienst geeigneten Exemplaren gaben sie ihre Mängelexemplare an die Grenztrasse ab; der Zucht abträgliche Hunde mit Zahn- oder Gebäudefehlern, mit sogenannter Wesensschwäche, die Einhoder oder auch den langhaarigen, vom Standard abweichenden altdeutschen Schlag.

Schween traf seine Verabredungen zu den Wochenenden, da sowohl die Züchter wie deren Lieferanten dem Hundegeschäft nur im Nebenerwerb nachgingen. Vor allem für die Lieferanten aus entfernten Dörfern, die schon nachts aufbrechen mussten, gab es keinen anderen Termin. Auch Schween in seinem Pritschenwagen mit Plane und seitlichem Gitteraufbau hatte weite Strecken zurückzulegen. Wenn in Mecklenburg die Hunde knapp wurden, in den Bezirken Rostock, Schwerin und Neubrandenburg sogar die Mischlinge ausgegangen waren, fuhr er von Schönberg bis nach Halle hinunter. Treffpunkt war in der Regel der Hundesportplatz örtlicher Schäferhundvereine. Dienst- und Trassenhunde, sortiert nach ihrer späteren Bestimmung, lagen kurz angekettet einen Zaun entlang, und Schween ging zu einer ersten Musterung die Parade ab. Er legte ein barsches, die Hunde aufregendes Gebaren an den Tag. Diejenigen, die davon ungerührt blieben, knöpfte sich Schween noch einmal extra mit dem Beißarm vor, links die dicke Manschette schwenkend und rechts einen Stock. Spätestens bei diesem Fuchteln musste ein guter Wächter für die Trasse außer sich geraten.

ALS PETER PANDOSCH die Klappe seines Hängers öffnete, lachten alle beim Anblick der beiden spitzen Köpfe. Er hatte eine...


Marie-Luise Scherer, geboren 1938 in Saarbrücken, war mehr als zwanzig Jahre lang Autorin beim Spiegel, wo ihre hochpräzisen Geschichten zuerst veröffentlicht wurden. Zuletzt erschien von ihr 2004 in der Anderen Bibliothek die Geschichtensammlung ›Der Akkordeonspieler‹. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen. 1994 den Ludwig Börne-Preis, 2008 Italo Svevo Preis und 2011 den Heinrich-Mann-Preis. Marie-Luise Scherer lebt in Damnatz an der Elbe.

"Die Göttin der Reportage, zum Anbeten - wer sie nicht kennt, sollte schleunigst niederknien und lesen." - Alexander Cammann, DIE ZEIT



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