E-Book, Deutsch, 142 Seiten
Scherer Der Akkordeonspieler
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-95757-431-2
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 142 Seiten
ISBN: 978-3-95757-431-2
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Marie-Luise Scherer, 1938 in Saarbrücken geboren, war mehr als zwanzig Jahre lang Autorin beim Spiegel, wo ihre hochpräzisen Geschichten zuerst veröffentlicht wurden. Zuletzt erschien von ihr 2004 in der Anderen Bibliothek, herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger, die Geschichtensammlung Der Akkordeonspieler. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen. 1994 den Ludwig Börne-Preis, 2008 Italo Svevo Preis und 2011 den Heinrich-Mann-Preis. Marie-Luise Scherer lebte bis zu ihrem Tod im Dezember 2022 in Damnatz an der Elbe.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Wladimir Alexandrowitsch Kolenko aus der kaukasischen Stadt Jessentuki im Stawropoler Gebiet war geblendet von der Sauberkeit des Berliner Flughafens und dessen Toiletten. Ja, er war regelrecht erschüttert nach dem Schmutz und der Kälte Moskaus, wo er einen Monat in der Warteschlange der Deutschen Botschaft hatte zubringen müssen. Es war im Dezember. Über das ganze davorliegende Jahr hatte er die Einladung einer Frau Gertrud aus Potsdam am Leib getragen. Und dann, als die Reihe an ihn kam, er den Brief in den Schalter der Botschaft reichte, war das Papier schon so dünn und die Schrift so verwischt, dass man einen Fachmann zum Entziffern rufen musste.
Der Akkordeonspieler Kolenko war verheiratet mit Galina Alexandrowna, einer Jakutin, mit der er drei Söhne hatte. Vor seinem Aufbruch nach Berlin wirkte er in den musikalischen Kollektiven von Sanatorien mit, begleitete und leitete die hauseigenen Chöre. Er hetzte von Heilbad zu Heilbad, von Jessentuki nach Kislowodsk und Pjatigorsk, von der Kuranstalt für die Veteranen der Arbeit und des Großen Vaterländischen Krieges zur Kuranstalt für die Atomtschiki; er spielte in den Kuranstalten der Chemiker, der Miliz, des Militärs, der Kolchosenmitglieder des Stawropoler Gebiets, des ZK der Ukraine und des Ministeriums für Innere Angelegenheiten.
Allen voran aber fühlte er sich dem Sanatorium verbunden, einem Haus, das sich dem hohen Harnsäurespiegel kasachischer Moslems verschrieben hatte, einer Folge übermäßigen Pferdefleischgenusses. Seine Verbundenheit galt weniger dem kasachischen Publikum, dessen Männer bestickte Hinterkopfkappen aus Seide trugen, als vielmehr einem mit roter Perlmuttimitation verkleideten Akkordeon der Marke »Barkola«. Es war Eigentum der Republik Kasachstan und von allen Akkordeons, auf denen Kolenko Kurmusik machte, ihm das liebste.
Sogar in der entlegenen südrussischen Stadt Jessentuki bemühte man sich damals, auf berufsfremden Wegen an Geld zu kommen. Das Ende der Sowjetunion war herangerückt und die Preise freigegeben, das heißt, sie stiegen unaufhaltsam. Und Kolenko mit seinen 140 Rubel im Monat zählte sich und die Seinen den Armen zu. Er sah voraus, dass seine musikalische Begleitertätigkeit sich bald erübrigen würde. Denn die Chöre fingen an, kläglich zu werden. Es fanden sich kaum noch Sängerinnen, selbst unter den machtvoll summenden Küchenfrauen nicht. Das unbezahlte Singen war jetzt verlorene Zeit.
Die Einladung der Frau Gertrud aus Potsdam kostete Kolenko 300 Rubel. Sie kam über die Geschäftstüchtigkeit dreier Schwestern zustande. Zwei gehörten dem Heilpersonal des Sanatoriums an und sangen dort im Chor, wenn auch mit jenem erlahmenden Schwung, den man bei solchen gesellschaftlichen Einsätzen nun allgemein antraf.
Beide waren ansehnlich und von Trinkern geschieden. Dem in Russland herrschenden Frauenüberschuss begegneten sie mit der unverhohlenen Darbietung ihrer Reize. Sie trugen auch dienstlich keine Haube, sondern das Haar getürmt und den Kittel im oberen Drittel ungeknöpft.
Aus einer lebensvollen Unruhe heraus hatten die zwei Schwestern sich zu einer Reise nach Deutschland entschlossen, wo die dritte Schwester lebte, Offiziersfrau in der russischen Garnison Potsdam. Reisebeschützer sollte ihr Chorleiter Wladimir Alexandrowitsch sein, ein Mann von asketischer Attraktivität, Mitte vierzig, zudem von der in Russland raren Sorte, die nur dann Wodka trinkt, wenn die Höflichkeit es unumgänglich macht.
Die Schwestern lobten Deutschland, das sie selber gar nicht kannten, die Freigebigkeit seiner Menschen, den stabilen Klang ihrer Münzen, die nur so auf Kolenko regnen würden, wenn er spielte. Sie saßen im Geiste schon im Zug und fuhren die viertausend Kilometer von Jessentuki über Moskau nach Berlin. Natürlich würden sie singen, das Akkordeon gäbe die Lieder vor, und die Abteiltür bliebe offen, weil im Waggon es alle wünschten.
Die Einladung aus Potsdam erreichte Kolenko in Jessentuki über jenes komplizierte Kuriersystem, mit dem man die zeitvergessene russische Post unterlief. Zuvor aber hatte Frau Gertrud, die unweit des sowjetischen Villenghettos zwischen Cecilienhof und Pfingstberg Serviererin in einem Kaffeegarten war, für die Sache gewonnen werden müssen.
Sie hatte die Willkommenszeilen zu schreiben. Dann mussten Kolenkos persönliche Daten auf ihrer Meldestelle beglaubigt werden. Und bis sie schließlich das Dokument in Händen hielt, das ihr im Krankheitsfalle des fremden Gastes alle Kosten auferlegte, hatte sie, die mit der russischen Bittstellerin kaum mehr verband als eine Grußbekanntschaft über die Tische hinweg, drei Stunden mit Warten zugebracht.
Die Offiziersfrau adressierte das Kuvert in kyrillischen Buchstaben und fuhr damit zum Bahnhof Berlin-Lichtenberg, wo der Nachtzug nach Moskau stand. Sie ging die Reihe der vor den Schlafwagen postierten Schaffnern ab und steckte dem ihr vertrauenswürdigsten zwanzig Mark und den Brief zu.
In der Frühe des übernächsten Tages dann, auf dem Belorussischen Bahnhof in Moskau, übernahm ein Vetter Kolenkos den Brief. Er hatte ihn gegen Abend zum Bahnhof Kurski zu bringen, einem atmosphärisch ziemlich rauen Ort, wo die Züge in Richtung Kaukasus abfahren und an den es so gut wie nie einen Reisenden aus dem Westen verschlägt. Hier konnten Gefälligkeiten noch in Landeswährung abgegolten werden: Fünf Rubel kostete damals das Entgegennehmen des Briefes und sein Aushändigen sechsunddreißig Stunden später noch einmal die gleiche Summe.
Was den Vermittlungspreis von dreihundert Rubel betraf, so könnte ihn die Enttäuschung der Schwestern in diese Höhe getrieben haben, denn die gemeinsame Reise kam nie zustande. Die Einflüsterungen der beiden hatten sich für Kolenko aus einer Verlockung zu etwas Bedrohlichem verkehrt. Er sah sich mit den tatendurstigen Sängerinnen über Tage und Nächte in der überheizten Enge des Coupés, unterwegs zu einer dritten Schwester, hinter der wiederum Frau Gertrud stünde, die ihm, einem ihr gänzlich Unbekannten, ein Bett bereitet hätte. Und zurückbleibend in Jessentuki seine schöne Frau Galina Alexandrowna, die ihren Argwohn verbergen müsste. Dies alles nur im Hinblick auf das zukünftige Geld, das Wladimir Alexandrowitsch in Deutschland zu erspielen hoffte.
Im Herbst 1990 fuhr Kolenko von Jessentuki nach Moskau, um für das Sanatorium ein neues Akkordeon zu kaufen. Zuerst wandte er sich an die für die Atomtschiki zuständige Verwaltung, wo man ihm 13.000 Rubel für das Instrument aushändigte. Dann suchte er die Akkordeonfabrik »Jupiter« auf. Und gerade als er ihren Hof überquerte, wollte es der Zufall, dass jemand zum Entladen eines Lieferwagens fehlte und Kolenko einsprang. Es handelte sich um eine Fuhre Puppen vom Typ »Sonja«, jede mit blauen Haaren und in starrem Cocktailkleid hinter dem Cellophanfenster eines Kartons. Kolenko kaufte dreißig Stück davon, nahm sie aus Platzgründen aus ihren Gehäusen und trat mit immensem Gepäck gegen Abend die Heimreise an.
Galina Alexandrowna war von den Puppen angetan. Sie hatte beschlossen, sich im Handel zu versuchen, was inzwischen ja halb Russland tat. Als Kassiererin der Stadtkantine von Jessentuki verdiente sie achtzig Rubel. Und die zählten bald weniger als die Krauteintöpfe, von denen sie manchen Kellenschlag in eine Plastiktüte gleiten ließ und nach Hause brachte.
Sie borgte sich Geld, um Ware zu kaufen. Die Puppen sollten der Blickfang ihres ansonsten unauffälligen Sortimentes sein, alle möglichen Werkzeuge, insbesondere Stromindikatoren, Feilen und Scheren. Alles musste in Taschen passen und ohne hilfeheischende Mühe von ihr getragen werden können. Eine Schönheit wie sie durfte keine zusätzlichen Anlässe schaffen, sich ihr zu nähern.
Galina Alexandrowna fuhr in die türkische Stadt Trabzon am Schwarzen Meer, wo die neue russische Händlerschaft schon in Heerscharen auftrat, wenn auch im Schatten der Handelstalente aus Armenien. Ihre Mitreisenden schienen das gleiche Ziel zu haben. Alle hatten Unmengen massiger Behältnisse in die Waggontüren hinaufgereicht, auch die Zusteigenden auf den späteren Bahnhöfen. Beim Einfahren erkannte Galina Alexandrowna auch die Wartenden als ihresgleichen, da jeder in einem Wall aus Taschen stand.
Der kürzeste Weg war zugleich ein Umweg, weil die mächtigsten Bergketten des Großen Kaukasus umfahren werden mussten. Statt südlich durch Tscherkessien und Abchasien ans Schwarze Meer zu gelangen, musste man zuerst westlich durch Krasnodarer Gebiet, wo die Berge flacher wurden. Galina Alexandrowna hatte sich bald in die Obhut eines Ehepaares begeben, das auch mit Stromindikatoren sein Glück zu machen hoffte. Der Mann sprach etwas Türkisch und war mit der Statur eines Leibwächters gesegnet. Er musste sich nur von seinem Platz erheben, und jede Unstimmigkeit im Abteil verflog.
Sie fuhren über die Seebäder Sotschi und Sochumi, entfernten sich...