E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Schenkel Die Stille und der Wolf
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-924652-69-2
Verlag: persona verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Essays
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-924652-69-2
Verlag: persona verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Elmar Schenkel wurde 1953 in Lippetal bei Soest geboren. Er studierte Anglistik, Romanistik und Japanologie und ist heute Professor für Anglistik in Leipzig. Mitherausgeber der Literaturzeitschriften Nachtcafé und Chelsea Hotel. Übersetzer englischsprachiger Lyrik, seit einigen Jahren auch tätig als Maler. Schenkel schrieb Reiseliteratur, Romane, Essays, Gedichte und ein Kinderbuch. Letzte Publikationen: Cyclomanie - Fahrrad und Literatur, die Essaybände Vom Rausch der Reise sowie Zahlen und Gärten und Reisen in die ferne Nähe (ein Reisetagebuch).
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Vorwort - Quittung vom Kosmos
I. Lehm
Das alte Haus
Herbst und Laub
Glückspilz
Pfütze und Unsterblichkeit
Schnee von morgen
Porzellan und der Traum vom ewigen Leben
Verlorene Formen
Das Brett als Mikrokosmos
Das unsichtbare Buch
II. Glut
Cyclosophie - Was hat das Fahrrad mit Philosophie zu tun?
Der gestohlene Rucksack
Zweimal Kabelbinder
Der Bogenschütze
Vom Glück der Wiederholung
Die Kunst, das Paradies und die Unsicherheit
Vom Nutzen und Nachteil des Sammelns. Ein Dialog
Das Wir
III. Tinte
Balzac oder das Evangelium des Kaffees
Verweile doch: Die Bibliothek, das Paradies und der Tod
Literarisches Bogenschießen
Begegnung auf der Einbahnstraße
Mark Twain als Erfinder des Brettspiels Memory Builder
Warum Märchen gut tun
Der Name der Rose: Literarische Blumen
Essen und Essay
Die Tragik der Dichterlesungen
IV. Äther
Die erste Erinnerung
Die Macht des Verborgenen
Über Namen und Namenlosigkeit
Im Zeichen der Vier
Pickelhaube und Pirouette
Der neue Altar
Das fliegende Geld
Zeit über Kreuz
Die Stille und der Wolf
V. Quintessenz: Alles Käse!
Textnachweis
Verwendete Literatur
II. Glut
Cyclosophie – Was hat das Fahrrad mit Philosophie zu tun?
Das Leben ist wie ein Fahrrad. Man muss sich vorwärts bewegen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. (Albert Einstein)
Das Fahrrad ist eine der genialsten Erfindungen der Menschheit, auch wenn Leonardo da Vinci es nicht erfunden hat, wie manche bis heute glauben. Es ist die ideale Umsetzung von Energie in Bewegung, es hält in Schwung und vergiftet nicht die Umwelt.
Aber was soll daran philosophisch sein?
Alles Denken beginnt mit einer Bewegung. Man vergleiche einmal die Art des Denkens und Assoziierens, die man während eines Spaziergangs und beim Radeln hat. Der Fußgänger kann stehenbleiben und sieht vieles, was der Radfahrer nicht sieht. Doch Radfahrer sehen anderes, was die Gehenden nicht sehen können, weil ihr Radius nicht weit genug ist.
Es ist anzunehmen, dass das Denken auf dem Rad weniger vom Rhythmus getragen wird als beim Laufen. Radeln neigt zur Prosa, Gehen zur metrischen Poesie, denn nicht umsonst haben Verse Füße. Das Denken auf dem Rad fließt, es ist Teil des Verkehrs. Dazu kommt eine dreifache Drehung: Vorder- und Hinterrad drehen sich und in der Mitte kreisen die Pedale, sozusagen eine Dreifaltigkeit, die durch den Menschen geeint wird. Fehlt uns also nur noch eine Theologie des Fahrrads.
Das Gleichgewicht dieser drei Kreise kann jedoch nur durch Bewegung erhalten werden. Das Fahrrad war ja erfunden worden (von Karl Drais), indem man einen vierrädrigen Wagen in zwei Hälften aufteilte. Aus vier mach zwei: das kennen wir schon aus der Evolution des Menschen, als er nämlich beschloss, statt auf allen vieren nur noch auf zwei Beinen durch die Welt zu ziehen. Das war der Weg zur Eroberung der Erde. Die Radfahrer werden sicherlich auch eines Tages die Erde erobern, das liegt einfach in der ökologischen Notwendigkeit.
Wie die Zweifüßler müssen die Zweiradfahrer ständig durch Bewegung ihre Balance herstellen. Das dynamische Gleichgewicht war vor allem für die frühen Radler ein Problem. Meist hatten sie es nicht in der Kindheit gelernt und mussten es sich mühsam aneignen wie eine Fremdsprache im fortgeschrittenen Alter. Fremd war ihnen die neue Körpersprache. Um 1895 hatte sich das Niederrad gegen das Hochrad durchgesetzt, das Radfahren wurde universell.
Insbesondere für Frauen war das Fahrrad eine Möglichkeit, sich aus dem engen häuslichen Kreis wie von der beengenden Kleidung zu befreien, was sich nicht nur auf die Mode auswirkte. Radelnde Frauen wurden von vielen Seiten angefeindet, von Konservativen wie Straßenjungen. Nicht umsonst wurden einige Radmodelle mit Damenpeitsche ausgeliefert.
Eine der bekanntesten amerikanischen Frauenrechtlerinnen erhob das Radfahren zur Philosophie. Die Abstinenzlerin Frances Willard (1839-1898) schrieb ein kleines Buch, A Wheel Within a Wheel (1895, bislang leider nicht übersetzt) über ihre Schwierigkeiten beim Radfahren und wie man aus diesen Problemen lernen kann. Die physischen Hindernisse, die Frage des Gleichgewichts, die Konzentration und der Blick nach vorn, das alles macht das Fahrrad zu einem Spiegel der Seele. Jede Unsicherheit im Innern wird von der Maschine registriert. Das Fahrrad war für Willard aber auch ein Mittel, dem Alkohol zu entsagen, denn das Rad unterstützt die innere wie die äußere Balance. Bei ihren Übungen nimmt die Amerikanerin Elemente des autogenen Trainings vorweg. Ihr Büchlein könnte man auch als eine Art „Zen in der Kunst des Radfahrens“ bezeichnen.
Einige Jahre später veröffentlichte der Potsdamer Eduard Bertz seine Philosophie des Fahrrads (1900). Darin diskutierte er alle Aspekte des Fahrrads mit deutscher Gründlichkeit: von der Psychologie und Medizin zur Emanzipation, vom Verkehr bis zur Evolution. Bertz nahm sich die Feinde des Fahrrads vor – Hut- und Schuhmacher, Wagenknechte, Friseure und Zigarrenhändler. Vor allem widersetzte er sich dem Vorwurf der „Entartung“, über die damals breit debattiert wurde, denn, im Gegenteil, Radfahren härte ab. „Lebe gefährlich“ – dieses Nietzsche-Motto, fand Bertz, könne sich gut auf die neue Bewegungskunst anwenden lassen. Der französische Autor und Radsportler Édouard de Perrodil wiederum glaubte, das Radfahren sei bestens geeignet, um sich der depressiven Philosophie eines Schopenhauer zu erwehren. Denn, hier stimmte er mit Bertz überein, Bewegung sei das beste Mittel gegen Trübsinn.
Wie aber sind die Philosophen selbst mit dem Fahrrad umgegangen? Man hat den Eindruck, sie hatten noch größere Schwierigkeiten als die Schriftsteller, ihre Körpersprache umzustellen, möglicherweise weil sie noch weniger mit den Sinnen arbeiten und zu verkopft sind. Jedenfalls gibt es einige Anekdoten, die das bestätigen. So fiel Jean-Paul Sartre ständig vom Rad oder stürzte in Gräben, wie Simone de Beauvoir berichtet. Sie selbst stürzte auch einmal, und zwar so heftig, dass es für sie, wie sie in ihren Memoiren schrieb, zu einer Initiation wurde. „Das ist der Tod!“, schoss es ihr durch den Kopf. „Und ich starb … Und plötzlich erschien das Sterben unfaßlich leicht.“
Aufschlussreich ist auch die Fahrt, die ein Philosoph mit einem Schriftsteller unternahm. Bertrand Russell und G. B. Shaw machten um 1900 eine Tour, bei der sie gewaltig zusammenstießen. Shaw flog sechs Meter durch die Luft, kam jedoch heil herunter, während Russells Fahrrad völlig verbogen war. Russell fuhr mit dem Bummelzug heim, doch Shaw radelte neben der Bahn her und lachte bei jeder Station hämisch ins Abteil. Russell fand das nicht so lustig. Der Philosoph Martin Heidegger war ebenfalls nicht gut auf Fahrräder zu sprechen und zog es vor, im Schwarzwald zu wandern. (Einige Jahrzehnte zuvor wurde jedoch in einer Sherlock-Holmes-Geschichte ein Radfahrer namens Heidegger gesichtet.)
Vergessen wir nicht, dass die beiden Räder, auf denen wir sitzen, auch eine Acht darstellen: das Symbol der Unendlichkeit. Das Fahrrad ist nicht nur gut zum Denken, es ist auch ein gutes Gegenmittel gegen zu viel Denken. Es erinnert fortwährend an die Notwendigkeit, ein körperlich-geistiges Gleichgewicht zu finden und hilft uns, uns selbst auszutarieren, in die Balance zu bringen. Also Rad ab!
Der gestohlene Rucksack
Auch die kleinen Verluste geben Anlass zum Nachdenken. Werden wir richtig tief getroffen von etwas – Trennungen, Todesfälle, Krankheiten –, können wir schlecht formulieren, wir taumeln und sind gelähmt. Kleinere Verluste dagegen sind leichte Betäubungen, die man schnell wegspült. Das Schreibbüro bleibt besetzt. Man kann dann das Verlustgefühl wie ein Uhrwerk auseinandernehmen, man sieht, wie die Rädchen ineinandergreifen und versucht zu verstehen, wie es dazu kam.
Überhaupt liegt an solchen Tagen ein Trost in der Mechanik, die ansonsten gern verteufelt wird. Ich habe mich einmal mit der Mechanik der Grammatik getröstet, als sich ein Unheil ankündigte, ich habe übersetzt und übersetzt, Gedichte waren das, und es war wie ein Schlüssel zu einer verborgenen Kammer, in die man sich zurückzieht, um zumindest Luft zu holen, und die nichts und niemand erreichen kann. Man wird zum Glöckner hoch oben im Gestühl. Grammatik und die Suche nach dem richtigen Wort, dem richtigen Satz, das gewinnt eine Eigendynamik.
Hier wäre noch einiges zu sagen über die Macht der Sprache und die Verlockungen der Wortspiele, mit denen man der Realität ein Schnippchen zu schlagen versucht. Die Sprache verleitet aber dazu, den Faden zu verlieren, und das wäre ein weiterer Verlust, aus dem Lehren zu ziehen sind. Wer den Faden in seinem Text verliert, verliert seine Leser und Zuhörer, macht aber möglicherweise ganz irrsinnige Entdeckungen. Ich möchte hier nur von dem kleinen Verlust erzählen, der mir am letzten Wochenende zustieß.
Wie immer hatte ich meinen Rucksack im Fahrradkorb hinten liegen, doch stellte ich auf dem Rückweg fest, dass der Korb plötzlich leer war. Der Rucksack war gestohlen und mit ihm Karten, Kredit und anderes, Notizbuch, Bücher, darunter ein Band Interviews mit einem redseligen Philosophen sowie das Smartphone. Eine leichte Starre überkommt einen, doch man kann noch kombinieren und Zahlencodes eingeben, um zu sperren oder Informationen zu erhalten. Ich hatte den leisen Verdacht, dass ich den Rucksack vielleicht irgendwo hatte stehen lassen – im Museum, wo ich vorher war? Das Thema der Ausstellung lautete „Weltenschöpfer“. Es ging um Karl May, Max Klinger und Richard Wagner – allesamt Sachsen mit Visionen. Da waren Gemälde zu sehen mit Männern, die im Zweikampf ringend in den Abgrund stürzten, stürmische See, erhebende Musik, Zentauren und Wildwestgestalten. Es war Abend, das Museum war inzwischen geschlossen, und so musste ich eine Reihe von Telefonaten führen, um die Privatnummer der Museumsfrau zu erfahren, die ich zuletzt kurz vor Schluss gesprochen hatte. Sie konnte sich an nichts erinnern, aber sie hatte Mitleid.
So wartet man einfach. Zwei Stunden später rief das Sucht- und Drogenzentrum an, ob ich denn der und der sei, es seien gewisse Dinge für mich dort abgegeben worden. Jemand hätte da was gefunden. Am nächsten Tag lernte ich dieses Zentrum kennen, ein Haus in einem schönen Teil von Leipzig. Es war eine Villa, in der einige zerrüttete Gestalten auf etwas warteten, auf dem Balkon standen und rauchten, während sich Sozialarbeiter die Klinke in die Hand gaben.
Das Erste, was ich auf dem Tisch sah, war der redselige Philosoph mit seinen Interviews, langhaarig, etwas verwaschen dreinschauend. Er hätte jetzt die besseren Vokabeln gefunden, aber ich belasse es dabei. Ich stelle mir jedenfalls vor, wie der Dieb meine Sachen sortiert und dieser Kerl als Erstes ausgemistet wird: „Das ist ja einer...