E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Schenkel Als die Liebe endlich war
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-455-81370-8
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-455-81370-8
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Verfolgung, Existenzangst und Neuanfänge in der Fremde - das sind die Erfahrungen des jungen Juden Carl Schwarz, als er 1950 in Brooklyn Emmi kennenlernt, die wie er aus Bayern stammt. Sie hat Deutschland nach dem Krieg verlassen, und wie er will auch sie ein neues Leben beginnen. Carl findet bei Emmi die Heimat, die er elfjährig verlassen musste, und lebenslange Liebe und Geborgenheit. Über die Vergangenheit reden beide nicht - zu schmerzhaft sind die Erinnerungen an das, was war. Jahrzehnte später wird Carl von einer Freundin gebeten, den schriftlichen Nachlass ihres verstorbenen Ehemannes durchzusehen, eines Holocaust-Überlebenden. Nur widerwillig macht sich Carl an die Arbeit - und stößt in den Briefen und Unterlagen aus dem KZ Dachau auf Hinweise aus Emmis Vergangenheit. Das Fundament aus Verschweigen und Halbwahrheiten, auf dem ihr gemeinsames Leben basierte, beginnt zu zerbrechen ...
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Regensburg–Shanghai
(März–Mai 1938) 1 Der Mann im Fluss
Im Schutz der Dunkelheit war der Mann in den Fluss gewatet. Seine Kleider sogen sich voll, zogen ihn nach unten, ohne Gegenwehr ließ er es geschehen, und der Tod kam lautlos und schnell. Die Donau war gnädig mit ihm, umarmte ihn zärtlich und trug ihn mit sich fort, auf die Stadt zu. Wenig später, zu beiden Seiten von Kaimauern eingefasst, nahmen die Wasser Fahrt auf. Schoben und drängten auf die Pfeiler der Brücke zu. Diese zerschnitten den Strom, zwängten die Wassermassen und den Toten mit ihnen unter der Brücke hindurch. Immer schneller von der Strömung getragen, ging es weiter, bis der Körper sich verfing und die Reise ein jähes Ende nahm. Als Erna Gradl am nächsten Morgen das Schlafzimmerfenster öffnete, bemerkte sie zunächst nichts. Von ihrer Wohnung aus konnte sie über den Fluss hin zur Altstadt sehen. Die Türme des Doms und der mittelalterlichen Patrizierhäuser erstrahlten im Licht der aufgehenden Sonne. Erst als sie das Oberbett zum Lüften über den Fenstersims hängte, sah sie den Arm, der aus dem Wasser ragte und von der Strömung hin und her geschwenkt wurde, als wollte der Tote ihr und den Menschen am Ufer ein letztes Lebewohl zuwinken. Erna Gradl schlüpfte in Jacke und Schuhe und rannte die Treppen hinunter aus dem Haus, hinüber zur Donau. Als sie dort ankam, hatte sich bereits eine Menschentraube gebildet. Schaulustige wie sie standen auf der Brücke und blickten hinunter in den Fluss. Auch Carl und Ida waren zur Brücke gelaufen, und fast wäre es ihnen gelungen, sich durch die Reihen der Erwachsenen hindurchzuquetschen und einen Blick auf den Toten im Strom zu erhaschen, aber Grete Schwarz erwischte ihre Kinder gerade noch und zog beide unsanft zurück. Carl dachte den ganzen weiteren Tag an den Toten. Er stellte sich vor, wie es wohl war, zu ertrinken, und noch mehr, wie es unten am Grund aussah. Dort im schlammig-sandigen Segment der Donau, in dem Welse hausten mit Mäulern so groß, dass ein Hund oder ein Ferkel leicht darin Platz fänden. Zweihundert Jahre, hatte er gehört, sollten Waller alt werden können. Einer der Fischer am oberen Ende der Wöhrdstraße hatte das gesagt, im letzten Herbst, als Carl dabei zusah, wie der Mann ein solches Ungetüm aus einer Zille heraus an Land schaffte. Fast hätte der den Fang nicht allein tragen können, ein weiterer Fischer eilte herbei, um ihm zu helfen, so groß war der Wels gewesen. Als der schließlich auf der Kaimauer lag, schaute Carl sich den Fisch genauer an. Der Körper war unförmig blauschwarz, der Kopf riesig. Mit wulstigen breiten Lippen, fleischigen Barteln zu beiden Seiten des Mauls, schnappte der Wels gierig nach Luft. »Glaubst du, der ist ins Wasser gegangen oder hineingefallen?« »Wer?« Carl wusste nicht, worüber seine Schwester sprach, zu jäh hatte Ida ihn aus seinen Tagträumen gerissen. »Na, der Tote. Die Wasserleiche, der, der sich unten am Pfeiler der Brücke verfangen hat.« »Keine Ahnung.« Es war besser, wenig Interesse zu zeigen. Sonst würde Ida zu plappern anfangen und ewig nicht aufhören, und er wollte lieber in Ruhe seinen eigenen Gedanken nachhängen. Beide saßen sie mit baumelnden Beinen auf der Befestigungsmauer, unter ihnen die schlammig braunen Wasser der schnell dahinfließenden Donau. Sie sollten hier vor dem Haus An der Hundsumkehr auf ihre Mutter warten. Carl blickte über den Fluss hinweg zum anderen Ufer. Wenn er die Augen zu einem kleinen Schlitz zusammenkniff, kam es ihm vor, als würde die Donau in zwei Richtungen zur gleichen Zeit fließen. Ein Stück weiter flussabwärts zwängten sich die Fluten durch die Pfeiler der Steinernen Brücke hindurch. Er fragte sich, ob dem Mann die Kräfte ausgegangen waren, weil er sich zu sehr gegen den Sog des Strudels gestemmt hatte. Wenn man auf der Steinernen Brücke stand und hinuntersah, konnte man die Wirbel des Wassers und die darauf tanzende weißliche Gischt sehen. Carl glaubte, das Wasser wollte ihn und einen jeden, der darauf hinuntersah, anlocken. Er stellte sich vor, von der Brücke zu springen und unterzutauchen. Er glaubte, den Sog zu spüren, der ihn hinunterziehen würde. Sein Vater hatte ihm erklärt, wenn er in einen Strudel gerate, müsse er sich still verhalten, dürfe nicht dagegen ankämpfen. »Du musst dich bis auf den Grund ziehen lassen. Nur dann hast du eine Chance, aus dem Strudel wieder aufzutauchen. Wer sich dagegen wehrt, ist verloren. Das Wasser ist stärker, es nimmt dir die Kraft«, hatte der Vater gesagt. »Erika behauptet, Wasserleichen schauen gruselig aus. Aufgedunsen, mit runzeliger Haut, wie wenn man zu lange in der Badewanne gesessen hat.« Carl hatte es gewusst: Ida würde nicht aufhören zu plappern. »Die muss es wissen. Die wohnt ja praktisch auf dem Friedhof.« Erika war Idas Freundin. Ihr Vater hatte eine Sargschreinerei in Reinhausen, gleich neben dem Haus der Großeltern. Wann immer die Kinder dort zu Besuch waren, waren die beiden Mädchen unzertrennlich. Carl konnte Erika nicht ausstehen, seit sie ihm im letzten Sommer ihren Ziegenbock, der in einem kleinen Verschlag im Garten untergebracht war, auf den Hals gehetzt hatte. »Hast du gewusst, dass den Toten im Leichenschauhaus eine Schnur um die Zehen gebunden wird? Wenn einer wieder aufwacht, dann läutet im Haus des Friedhofvorstehers eine Glocke.« »Ist er nur scheintot und wacht auf, reicht die kleinste Bewegung mit den Zehen.« Sie wackelte mit den Fingerspitzen leicht hin und her. »Es muss schrecklich sein, lebendig in einem Sarg zu liegen, und keiner hört dich«, sinnierte Ida. »Erika hat gesagt, früher hat man sich deshalb auch gegen Aufpreis einen Herzstich machen lassen können, damit man auch wirklich tot ist.« »Das ist doch alles ein Blödsinn.« Carl hob einen kleinen Stein auf und warf ihn ins Wasser. »Ist es nicht«, sagte Ida energisch. »Ich habe mit Erika ausgemacht, dass wir, wenn ich das nächste Mal bei den Großeltern bin, im Dunkeln über den Friedhof gehen. Am besten um Mitternacht, da sollen die Geister der Scheintoten wie Irrlichter zwischen den Gräbern herumlaufen. Kommst mit?« Carl malte mit einem kleinen Holzstöckchen Kreise in den Sand, der sich auf dem Kai abgelagert hatte. »Du traust dich nicht, stimmt’s?« Ida beugte sich nach vorn, die Beine baumelten weiter in der Luft, und die wollenen Strümpfe schoben sich über ihren Knöcheln zusammen. »So ein Blödsinn. Pass du lieber auf, dass du nicht das Gleichgewicht verlierst und von der Mauer fällst, wenn du dich so weit vorbeugst.« »Ich falle nicht.« Ida drehte ihren Kopf zur Seite und blickte von unten zu Carl hoch. »Du traust dich nicht, weil du Angst hast. Vor den Geistern der Toten.« Carl nahm einen weiteren Stein und sah auf die vorbeifließende Donau. »Die Erika, die sagt viel, wenn der Tag lang ist.« Er versuchte möglichst gleichgültig zu klingen; er wusste, je mehr Missmut er zeigte, desto weniger würde seine Schwester mit dem Sticheln aufhören. Er hielt den Kiesel in seiner Hand. »Deine Freundin ist eine ganz Gschnappige, sie weiß immer alles ganz genau.« Carl holte aus und warf den Stein so weit er konnte ins Wasser. »Als ob die schon jemals in der Nacht auf dem Friedhof war.« »War sie eben doch, sie hat es mir erzählt.« »Du glaubst auch alles, was man dir sagt, Ida. Die redet doch bloß saublöd daher.« »Macht sie nicht, sie hat gesagt, wenn ich will, kann sie mir die Geister auf dem Friedhof zeigen.« Carl sah sich nach einem größeren Stein um. Als er keinen fand, stand er auf und lief ein kleines Stück die Kaimauer entlang. Der Boden war hier noch von der schlammigen Schicht des letzten Hochwassers bedeckt. Seine Schwester hörte nicht auf zu reden, über ihre Freundin und über Untote, die angeblich auf dem Friedhof ihr Unwesen trieben. Carl versuchte ihr nicht zuzuhören und konzentrierte sich ganz auf seine Suche. »Erika hat gesagt, wenn ich mich in der Nacht aus dem Haus schleichen könnte, würde sie mit mir auf den Friedhof gehen. Wenn du willst, kannst mitkommen.« Im Schmutz zwischen Sand und Kiesel glaubte er, eine Münze gefunden zu haben. »Als wenn Oma es nicht merken würde, dass du dich in der Nacht aus dem Haus schleichst.« Carl bückte sich und hob die Münze auf. »Was hast da?« Schnell ließ er das Geldstück in die Jackentasche gleiten. »Nix.« »Du lügst doch, du hast was aufgehoben und in deine Tasche gesteckt.« Ida sprang auf und lief zu Carl hinüber. »Komm, zeig mir, was du gefunden hast. Bitte.« Zögernd holte Carl die Münze aus der Tasche. »Ein Geldstück, das musst du sauber machen, es ist ja ganz voller Dreck. Warte.« Sie zog ihr Taschentuch aus der Jackentasche. »Gib her.« Carl hielt ihr die Münze hin. Ida nahm sie, spuckte sie an und rieb sie mit dem Tuch trocken. »Ein Zehnerl! Wenn wir davon Bonbons kaufen, gebe ich es dir wieder zurück.« Ida versteckte die Münze in der Faust hinter ihrem Rücken. »Gib’s wieder her.« Carl packte ihr Handgelenk mit der einen Hand und versuchte mit der anderen, seiner Schwester das Geldstück aus der Faust zu winden. »Aua, das tut weh! Wenn wir teilen, bekommst du es wieder, sonst sage ich es der Mutter.« Carl ließ los, seine Schwester streckte ihm die flache Hand entgegen. Er nahm das Zehnpfennigstück und steckte es schnell ein, ehe Ida es sich anders überlegen konnte. »Aber du musst mit mir teilen! Denn was dir nicht gehört, bleibt dir nicht.« Wenig später kam die Mutter aus dem Haus und holte die Kinder ab....