E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Schemper Sandengel
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-98690-648-1
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Der Psychothriller aus Schweden | Fesselnde Skandi-Crime in einem exklusiven Luxus-Resort
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-98690-648-1
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
»Sandengel« ist Susanne Schempers fünfter Spannungsroman seit ihrem Debüt 2018. Handlungsort ist das südschwedische Halmstad, wo die Autorin geboren wurde und aufgewachsen ist. Heute lebt sie in Lerum bei Göteborg. Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihren psychologischen Thriller »Sandengel«.
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Kapitel 5
»Dann fährst du also mit der Tram zum Bahnhof? Ich kann dich hinfahren, wenn du willst. Dann könnte ich dir den Koffer zum Zug tragen.«
Ingelas Papa Kaj sah sie mit feuchten Augen an. Er wollte immer helfen, immer für sie da sein, war übertrieben nett. Aber er sollte gar nicht mehr Auto fahren. Er war bald achtzig, und sie fand, dass er immer schlechter dran war. Die Augen schienen ihre Farbe zu verlieren, als bedeckte eine dünne, hellgraue Schicht die Iris. Wenn er die Göteborgsposten las, lag die Zeitung nicht mehr auf dem Tisch, sondern er hielt sie direkt vor seine Augen. »Absolut nicht nötig, Papa. Es sind ja nur ein paar Minuten mit der Tram. Und der Koffer hat Räder.«
»Lieber Papa, jetzt machst du dir ganz umsonst Sorgen. Natürlich schafft unsere Pingla das ganz allein.«
Ingela hasste es, wenn ihre Mutter ihren Mann Papa nannte. Noch mehr hasste sie es, wenn ihre Mutter über Ingela sprach, als wäre sie nicht anwesend, und sie darüber hinaus auch noch Pingla nannte. Sie war kein Glöckchen, was Pingla auf Schwedisch heißt.
Ingela trank etwas Kaffee und schluckte die Gemeinheiten runter, die herauskommen wollten. Sie hatte sich bereits auf dem Weg zu ihren Eltern entschlossen: keinen Streit, nichts Unangenehmes. Nur ein netter Moment zusammen.
»Noch einen Kaffee?«
Mama Marianne kam mit der orangefarbenen Thermoskanne in der Hand auf sie zu. In diesem Haus gab es immer eine Thermoskanne mit warmem Kaffee in Griffweite. Marianne und Kaj Salo verbrachten den Großteil des Tages auf dem Sofa vor dem Fernseher, und schwarzer Kaffee wurde abends genauso wie tagsüber getrunken.
Ingela schüttelte den Kopf.
»Danke, nein. Ich bin schon ganz nervös. Heute Nacht habe ich kaum geschlafen. Aber ich bin trotzdem überhaupt nicht müde.«
»Dann erzähl doch mal«, forderte Kaj sie in seinem singenden Finnlandschwedisch auf, dabei strich er eine dicke Butterschicht auf eine Brötchenhälfte. Ingela hatte auf dem Hinweg in einer Bäckerei frisch gebackene, warme Brötchen gekauft. Sie fühlte sich großzügig, als sie früh am Morgen den Olskrokstorget überquerte, und wollte den Alten in Form von Gebäck ein bisschen Luxus bieten. Ihre Eltern gönnten sich nur selten etwas. Die Pension reichte zwar gut und gern für ihr sehr ruhiges Leben, aber es schien tief in den beiden zu sitzen, dass Ausschweifungen nichts für sie waren. Dazu zählten auf jeden Fall auch frisch gebackene Brötchen aus der Bäckerei, wo man doch viel billiger finnisches Roggenbrot selber backen konnte.
»Erzähl noch mal, was du da machen wirst. Bist du sicher, dass es nichts kostet?«
»Papa, das habe ich doch schon erklärt. Ich habe die Reise gewonnen. Es kostet keine einzige Krone.«
Als sie es aussprach, wurde ihr erneut bewusst, was für ein unglaubliches Glück sie gehabt hatte.
»Ich finde, das klingt komisch.« Marianne wischte ein paar Mohnkörner von Kajs Knie.
»Wieso komisch? Ich habe an einem Preisausschreiben teilgenommen und gewonnen. Das ist doch nicht komisch?«
Ingela merkte, wie sie sich ärgerte. Wieso konnten sie sich nicht einfach für sie freuen?
»Jaja. Aber ich habe bei Dr. Phil in der Fernsehshow gesehen, wie eine Frau dazu gebracht wurde, an irgendeinem Kurs teilzunehmen, ich glaube, das war auch so ein Gratisangebot, und dann war es eine Sekte, in die sie reingezogen wurde. Man hat sie dort einer Gehirnwäsche unterzogen. Komplett.«
Ingela sah ihre Mutter an. »Einer Gehirnwäsche?«
»Ja, so war das. Obwohl sie nicht dumm war oder so.«
Ingela schüttelte den Kopf.
»Aber ich fahre in ein Luxushotel, Mama, ein Resort. Weil ich einen Beitrag auf Instagram gelikt, kommentiert und geteilt habe, habe ich einen Besuch gewonnen. Wieso glaubst du, dass irgendwas daran komisch ist?«
Marianne zog die Mundwinkel nach unten und blickte zu Kaj, wie um nach Unterstützung zu suchen, aber er war vollauf damit beschäftigt, dicke Käsescheiben auf ein weiteres Brötchen zu legen.
»Wie dem auch sei«, fuhr Ingela fort. »Ihr wisst doch, dass ich gern spiele. Ich habe ja schon alle möglichen Kleinigkeiten gewonnen. Erinnert ihr euch an die Kinokarten, die ich im Winter gewonnen habe? Und ich habe auch schon mal ein paar gute Kopfhörer gewonnen. Ich habe einfach Glück! Dieses Mal habe ich den Hauptgewinn erwischt.«
Marianne zündete sich eine Zigarette an und zog fest daran. Sie sah ihre Tochter nachdenklich an und sagte mit ihrer heiseren Stimme: »Glück im Spiel. Verdammtes Pech in der Liebe.«
Dann stand sie auf und hinkte auf ihren geschwollenen Arthrosefüßen zur Balkontür und öffnete sie weit. Die Luft, die ins Zimmer strömte, war lau. Marianne zog heftig an ihrer Zigarette. Ihre Augen glitzerten fies, als sie weitersprach.
»Papa und ich haben vor kurzem noch eine Sendung gesehen, über eine Frau in deinem Alter, die nach Dänemark gefahren ist, um sich inseminieren zu lassen. Sie hatte wohl eingesehen, dass sie nie einen Mann finden würde. In Dänemark sind sie da lockerer. Auch wenn man schon alt ist, kann man sich Sperma einspritzen lassen, ich glaube, diese Frau war fünfundvierzig.«
Kaj hustete heftig, als Marianne über Sperma redet. Er suchte in seiner Brusttasche nach dem Zigarettenpäckchen. Frisches Brot war ein Luxus, aber für Zigaretten war immer Geld da.
»Okay. Und was hat das mit mir zu tun, Mama? Dass irgendeine Frau eine künstliche Befruchtung macht. Irgendeine Frau in meinem Alter.«
»Nein, nein. Nichts. Gar nichts. »
Ihre Mutter drehte ihr den Rücken zu, trat hinaus auf den Balkon und rauchte eine Zigarette.
Ingela sah den breiten Rücken und die geschwollenen Waden ihrer Mutter. Der Wind blies in die unförmige Tunika, die sie trug. Ingela hatte plötzlich große Lust, einfach aufzustehen und zu gehen, ihr ebenfalls den Rücken zuzuwenden. Doch dann fiel ihr Blick auf ihren Vater. So dünn und grau saß er zusammengesunken auf dem Sofa, übertrieben glücklich und dankbar für ein paar Brötchen. In ihr stieg eine gewisse Zärtlichkeit auf.
»Na, jedenfalls ...« Ingela wandte sich ihrem Vater zu. »… das Hotel, Saltmålla Resort heißt es, sieht auf den Bildern so toll aus. Es ist ganz neu eröffnet, total klasse, und liegt direkt am Meer, nördlich von Halmstad, neben einem Naturreservat. Ein neuer Eigentümer hat vor kurzem alles übernommen und das alte Tagungszentrum, oder vielleicht war es auch eine Schule, renoviert und zum Hotel umgebaut. Es öffnet offiziell erst eine Woche vor Mittsommer, aber wenn ich das richtig verstanden habe, dann gibt es in den Wochen vorher einen Frühstart und verschiedene Events. Und für diese Woche sind ein Teil der Gäste extra eingeladen, und andere, wie ich, haben einen Besuch gewonnen. Papa, das ist der Hauptgewinn. Zimmer, Frühstück und zwei Abendessen sind inklusive. Und es gibt einen Pool, wo ich doch so gern schwimme. Alles, was ich im Gegenzug tun muss, ist, alle meine Bilder mit dem Hashtag saltmållaresortsneakpeak zu versehen.«
Die Wörter stolperten übereinander, so begeistert war sie.
»Ich glaube, es werden einige Journalisten da sein, die über die Eröffnung schreiben, und wer weiß, vielleicht auch Promis. Vielleicht Blogger und Influencer.«
Ingela klatschte in die Hände, verschränkte sie und lachte.
»Und dann ich! Ich, Papa. Das ist so krass. Das ist seit langem das Beste, was passiert ist.«
»Ich verstehe überhaupt nicht, wovon du redest, mit Hashtag und so oder dass man einfach so ein Hotelzimmer über Instagram vergibt. Aber ich freue mich so für dich. Du hast ein bisschen Spaß verdient, mal rauskommen und andere Menschen treffen. Ich mache mir ein bisschen Sorgen, das weißt du ja. Weil du … Na ja, nicht so viele Freunde hast, dass du es nicht immer leicht hast.«
Ingela stand schnell auf. Darüber wollte sie auf keinen Fall reden. Über Papas Sorge, dass sie so viel allein war, Papas Sorge, dass sie anscheinend nie eine Festanstellung bekam. Oder die Tatsache, dass sie noch nie eine feste Beziehung hatte. Nein. Nein. Warum musste er das jetzt ansprechen? Warum durfte sie sich nicht einfach nur über ihren Gewinn freuen? Ingela ging in die Küche. Sie lief in dem schmalen, langen Raum hin und her, hörte, wie ihre Eltern im Wohnzimmer tuschelten. Sie wusste, worüber sie redeten. Über die kleine Pingla, die im Leben nicht vorankam. Die über vierzig und kinderlos war. Die keine Freunde und kein Sozialleben hatten. Dabei waren sie ja nun auch nicht gerade gute Vorbilder. Sie hatten nie viele Kontakte gehabt, gingen höchstens mal in die finnische Kirche, wenn es dort ein Treffen oder eine Veranstaltung gab. Als die beiden noch bei der SKF arbeiteten – der Svenska Kullagerfabriken, einem schwedischen Konzern im Bereich Mechatronik und Wälzlager –, hatten sie nur mit wenigen Kollegen Kontakt. Und heute saßen sie meistens bloß in ihrer jeweiligen Ecke des hässlichen, fusseligen Sofas und sahen fern.
Ingela haute fest mit der flachen Hand an die moosgrüne Wand. Auf sich selbst war sie genauso wütend wie auf die Alten. Denn sie hatte sich ja vorgenommen, sich heute nicht provozieren zu lassen, sondern nur gemütlich zusammen zu frühstücken, bevor sie wegfuhr. Sie lehnte ihre Stirn gegen die Wand, schloss die Augen. Die Küche roch wie immer nach einer Mischung aus Bratenduft und Aschenbecher. Eigentlich roch es überall in der Wohnung nach Rauch, aber vor allem hier, weil Mama Marianne gern unter der Abzugshaube qualmte. Zwischen dem Zitronenpfeffer und den Grillkräutern stand ein übervoller Porzellanaschenbecher, das wusste sie, ohne hinschauen zu müssen. Ingela hob ein oranges BIC-Feuerzeug vom Herd auf. Zündete es an und zog den...