Scheier | Philosophie des Deutschen Idealismus | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 446 Seiten

Reihe: Blaue Reihe

Scheier Philosophie des Deutschen Idealismus


unverändertes eBook der 1. Auflage von 2025
ISBN: 978-3-7873-4489-5
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 446 Seiten

Reihe: Blaue Reihe

ISBN: 978-3-7873-4489-5
Verlag: Felix Meiner
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Dieser Band enthält 26 Aufsätze und Vorträge zu den wichtigsten Denkern der klassischen deutschen Philosophie. Beginnend mit einem Text zur Unendlichkeit von Cusanus bis Hegel versammelt er u. a. Beiträge zu Rousseau, Kant, Fichte, Schiller, Schelling, Solger und Hegel und behandelt damit das gesamte philosophische Spektrum der Epoche. Der deutsche Idealismus bleibt aktuell, so Scheier, weil das moderne Denken sich geschichtlich immer neu zu legitimieren genötigt ist. Denn es bezieht seine Legitimation aus der Abgrenzung vom scheinbaren Fortbestehen vergangener metaphysischer Optionen. Als wie triftig aber erweisen sich Nietzsches, Heideggers oder Derridas Konzepte dieser Geschichte, die jeweils als Dekadenzprozess, zunehmende Seinsvergessenheit oder Abschließung im Sich-sprechen-hören-Wollen gefasst wurden? Seit der frühen Neuzeit (und grundgelegt schon im Denken der frühen griechischen Poleis) ist die europäische Philosophie eine progressive Theorie der Freiheit, derer wir uns wohl vergewissern müssen, um in der globalen Krise der Demokratie Rede zu stehen, wer wir sind und was wir nicht bereit sein können, uns nehmen zu lassen.

Claus-Artur Scheier (Jg. 1942) promovierte in seinen Studienfächern Medizin und Philosophie zum Dr. med. und Dr. phil., habilitierte sich 1979 und ist seit 1982 Professor für Philosophie an der TU Braunschweig mit den Schwerpunkten Klassische Philosophie, Deutscher Idealismus und antimetaphysisches Denken im 19. und 20. Jhd. Nach Kierkegaards Ärgernis (Freiburg 1983) und Nietzsches Labyrinth (Freiburg 1985) folgten mit Ecce auctor eine kommentierte Ausgabe der Vorreden Nietzsches von 1886 (Philosophische Bibliothek 422, Hamburg 1990), Wittgensteins Kristall (Freiburg 1991) und Ästhetik der Simulation. Formen des Produktionsdenkens im 19. Jahrhundert (Hamburg 2000). Scheier ist Herausgeber von Friedrich Nietzsche: »Philosophische Werke in sechs Bänden« (Hamburg 2013). In der Blauen Reihe erschien 2016: Luhmanns Schatten Zur Funktion der Philosophie in der medialen Moderne.
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Unendlichkeit: Von Cusanus zu Hegel


Nachdenklicherweise begleitet und bestimmt der Gedanke des Seins als Unendlichkeit das europäische Denken seit seinem Anfang. Nachdenklicherweise, weil er als Korrelat des Begriffs des endlichen, begrenzten – des definiten und definierten Seins konstitutiv ist für den Begriff und so für den europäischen Begriff der Wissenschaft überhaupt, im weiteren auch für den europäischen Begriff der Technik. Zuletzt sind noch Heideggers ontologische Differenz und Derridas différance Erben des alten Unendlichkeitsbegriffs.

Zuerst begegnet er bei Anaximander: Das ápeiron ist der Ursprung des in alle Ewigkeit immer neu entstehenden und vergehenden (orphischen) Ur-Eis, wie die Griechen denn überhaupt keinen absoluten Weltanfang und Weltende angenommen haben, sondern eine in der Zeit unendliche Schwingung des Entstehens und Vergehens nach dem alten Modell des Kreislaufs der Jahre. So hatten sie die (seit Parmenides deutlich werdende) Tendenz, die Unendlichkeit privativ zu denken als ein bloßes Fehlen von Grenze (péras), woraus sich dann im Produktionsdenken Platons und Aristoteles’ der Begriff der Materie als des bloß Bestimmbaren entwickelte. Gleichwohl wird schon bei Anaxagoras ein zweiter, positiver, gerade gegen den Begriff der Endlichkeit zu denkender Begriff der Unendlichkeit deutlich, nämlich der eines durch keinen Entzug (stérêsis, privatio) getrübten In- und Fürsichseins. »Alles Übrige hat teil an allem«, sagt Anaxagoras, »die Vernunft aber ist Unendliches (ápeiron) und Selbstbestimmtes (aytokratés) und mit keiner Sache vermischt, sondern allein sie selbst für sich selbst (mónos aytòs ep’eôytoy)«.1 Aristoteles seinerseits bezeugt, daß dieser Gedanke seinen Gottesbegriff bestimmt, und Kant übersetzt nur Aristoteles’ nóêsis tês noêseôs, wenn er im Kapitel von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft in der ersten Kritik bemerkt, die reine Vernunft sei »in der Tat mit nichts als sich selbst beschäftigt« (KrV 708).

Aber auch, wenn Plotin so gut Platonisch wie Aristotelisch der Hypostase der Vernunft (noys) als dem aiôn ein unendliches Leben (zôê aídios) zuspricht,2 findet der Begriff einer nicht-privativen Unendlichkeit kein sonderliches Interesse, er ist gewissermaßen immer schon aufgefangen von der Theologie mit ihren drei Wegen, der via affirmativa, der via negativa und der via eminentiae angesichts einer strikt als endlich gedachten Welt, wie sie im Paradiso von Dantes Divina Commedia noch einmal in ihrer Schönheit und Kleinheit ineins zu vollkommener Anschauung (cognitio intuitiva) gebracht wird. Und doch ist trotz der Verwandtschaft mit Ciceros Somnium Scipionis für diese Anschauung eigentlich alles schon anders. Denn die Divina Commedia bringt das ungeheuer Neue, das versammelte Wissen der Hochscholastik zu beziehen auf Ein Subjekt und seinen »Augpunkt«, das epische Ich »Dante«. Noch einmal hundert Jahre, und Brunelleschi (*1377) erfindet zusammen mit Masaccio die optische Zentralperspektive als die Konstruktion der angeschauten Unendlichkeit, denn eine ganze Welt der Anschauung vermag sich in infinitesimaler Verkleinerung auf ihren »Fluchtpunkt« hin zu versammeln – da trat Nikolaus von Kues bereits in sein zweites Lebensjahrzehnt.

Hier hat, auch wenn man etwas hilflos von »Spätmittelalter« spricht, eine neue Epoche des Denkens begonnen, nicht nur des philosophischen Denkens, sondern des Denkens überhaupt bis in die alltäglichen Techniken hinein: Die ersten Räderuhren, mit denen Dante seine Himmelsmechanik vergleicht, entstanden gegen Ende des 13. Jahrhunderts.3 Das mythische Konzept der Welt war die Höhle, und Platons Höhlengleichnis steht insofern in einer langen Tradition. Aber das Licht, in das der von seinen Fesseln Befreite tritt, ist wiederum das Licht einer Höhle, allerdings einer von der Vernunft gebauten – und die Moderne hat sich seit der industriellen Revolution erneut in einer Welt-Höhle angesiedelt, denn in markanter Unterscheidung vom neuzeitlichen Denken konzipiert die moderne Kosmologie das »All«, die alten pánta, nicht mehr als aktuale Unendlichkeit. Einmal aber war die europäische Menschheit, und nur sie, aus der Welthöhle hinausgetreten in einen positiv unendlichen Kosmos, dessen schrittweise und vor allem: mathematische Erschließung wir mit den Namen Kopernikus, Kepler, Galilei und Newton verbinden, aber auch mit den Namen von Philosophen wie Giordano Bruno, Descartes, Spinoza, Leibniz und Kant – wer akzeptierte nach 1600 überhaupt noch einen endlichen, den ptolemäischen Kosmos? Der erste große Name in der Reihe der Unendlichkeits-Theoretiker, darüber besteht Einigkeit unter den Gelehrten, ist Nikolaus von Kues. Wie konnte es zu dieser »Revolution der Denkart« (KrV XI f.) kommen?

Sie war die Frucht der analytischen Durchdringung dessen, was das Denken des Hochmittelalters, konfrontiert mit »Aristoteles«, die natürliche Vernunft nannte, die ratio naturalis. Maßgeblich bestimmt hatte sie auf der Schwelle, aber auch erst auf der Schwelle zum neuzeitlich zu nennenden Denken die epochale, namentlich von Thomas von Aquin geleistete Synthese der neuplatonischchristlichen Tradition mit dem (arabischen) Aristotelismus. Gefährdet allerdings vom Widerstand des christlichen Traditionalismus erhält die natürliche Vernunft bei Thomas ihren bestimmten und hinfort unabdingbaren Ort in der Theologie. Aber Thomas konnte in der Tat nicht voraussehen, daß seine Versöhnung von lumen gratiae und lumen naturale Quell einer Jahrhunderte währenden Unruhe werden würde. Denn gerade seiner Natürlichkeit wegen, dieser Unruhe eines neuen (im Rückblick in der Tat als ein undeduzierbar geschichtliches Faktum zu nehmenden) Interesses an der wahrnehmbaren Welt, konnte sich das natürliche Licht der Vernunft nicht dabei beruhigen, bloße und gleichsam nur verschwindende Vorgabe für das Licht der Gnade zu sein: Wem wird diese Gnade? war die Frage, die auch die Divina Commedia bewegt, und mit ihr machte sich die natürliche Vernunft, an sich selbst zweifelnd, auf die Suche nach ihrem eigenen Prinzip.

Kaum aber daß sie dieser eigensten Tendenz folgt – tastend noch und verwechselbar bei Meister Eckhart und Duns Scotus, entschieden und auf eine neue Logik der Repräsentation setzend bei Wilhelm von Ockham –, wird ihr sogleich nichts fragwürdiger als die Sacra doctrina in ihrem wissenschaftlichen Anspruch. Diesen nämlich gründen die Thomasischen Summen auf eine ratio naturalis, die noch gar kein eignes Innen hat, sondern heiter gewissermaßen wie die zeitgenössische Vagantenlyrik nach außen gekehrt ist, reines Bewußtsein, und sich zum Licht der Offenbarung verhält wie der Stoff zur Form, indem »der Glaube die natürliche Erkenntnis voraussetzt wie die Gnade die Natur und die Vollendung das Vollendbare«.4 Das liegt daran, daß »unsre natürliche Erkenntnis ihr Prinzip an der Wahrnehmung hat. Sie vermag daher nur so weit zu kommen, wie sie vom Wahrnehmbaren geleitet bleibt«.5

Wohl war es Thomas lieb, daß die natürliche Vernunft manches vom Einen Gott weiß, denn das zog sie, wie die Quinque viae dartun,6 alles aus der wahrgenommenen Natur, aber es waren keine Glaubensartikel, nur deren Präambeln.7 Wer jedoch den Versuch wagte, nicht nur den Einen, sondern gar den dreifaltigen Gott in der natürlichen Vernunft aufzusuchen – kein Geringerer als Augustinus schien ja den Weg gewiesen zu haben –,8 der handelte dem Glauben gleich zwiefach zuwider, indem dies nämlich dessen Würde abträglich war und außerdem der Mission schadete.9 Thomas kann sich auf Augustinus selbst berufen: Denn zwar finden wir ein Bild (imago) der Trinität in unsrem Geist (mens), aber der Abstand zwischen Urbild und Abbild ist derart, daß wir das Abbild »mehr sehen als glauben« und das Urbild »mehr glauben als sehen«.10 Dies vorsichtige »mehr … als« (potius) bezeugt auf kleinstem Raum, wie weit Thomas’ Sacra doctrina der natürlichen Vernunft entgegengekommen war; aber dies glückliche Beieinander mußte auch die wechselseitige Kenntnis voneinander fördern und nötigte beide Seiten, in sich zu gehen. Vermutlich ist es nicht zuviel gesagt, daß beide, die Innigkeit des neuzeitlichen Glaubens überhaupt (Luther, Ignatius, Pascal …) und die methodisch ihrer selbst bewußte Genauigkeit der neuzeitlichen Wissenschaft (Galilei, Newton, Lavoisier …), Zwillingsfrüchte nicht zuletzt des geschichtlichen Augenblicks jener Thomasischen...


Scheier, Claus-Artur
Claus-Artur Scheier (Jg. 1942) promovierte in seinen Studienfächern Medizin und Philosophie zum Dr. med. und Dr. phil., habilitierte sich 1979 und ist seit 1982 Professor für Philosophie an der TU Braunschweig mit den Schwerpunkten Klassische Philosophie, Deutscher Idealismus und antimetaphysisches Denken im 19. und 20. Jhd. Nach Kierkegaards Ärgernis (Freiburg 1983) und Nietzsches Labyrinth (Freiburg 1985) folgten mit Ecce auctor eine kommentierte Ausgabe der Vorreden Nietzsches von 1886 (Philosophische Bibliothek 422, Hamburg 1990), Wittgensteins Kristall (Freiburg 1991) und Ästhetik der Simulation. Formen des Produktionsdenkens im 19. Jahrhundert (Hamburg 2000). Scheier ist Herausgeber von Friedrich Nietzsche: 'Philosophische Werke in sechs Bänden' (Hamburg 2013). In der Blauen Reihe erschien 2016: Luhmanns Schatten
Zur Funktion der Philosophie in der medialen Moderne.

Claus-Artur Scheier ist emeritierter Professor für Philosophie an der TU Braunschweig mit den Schwerpunkten Klassische Philosophie, Deutscher Idealismus und antimetaphysisches Denken im 19. und 20. Jhd. Scheier ist u.a. Herausgeber von Friedrich Nietzsches 'Philosophischen Werken in sechs Bänden' (PhB 651-656). In der Blauen Reihe erschien 2016: Luhmanns Schatten. Zur Funktion der Philosophie in der medialen Moderne.



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