Scheiber | Offenheit | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 112 Seiten

Reihe: übermorgen

Scheiber Offenheit


1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-218-01253-9
Verlag: Kremayr & Scheriau
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 112 Seiten

Reihe: übermorgen

ISBN: 978-3-218-01253-9
Verlag: Kremayr & Scheriau
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine junge Frau verfasst einen Tag, nachdem ihr Partner plötzlich verstirbt, einen Instagram-Post darüber. Sie präsentiert ihren von Dehnungsstreifen übersäten Bauch dreißigtausend Menschen. Sie macht ihre psychische Erkrankung öffentlich, auch auf die Gefahr hin, stigmatisiert zu werden.
Jaqueline Scheiber öffnet jeden Tag ein virtuelles Fenster zu ihrer Welt. Als "minusgold" berührt sie auf Instagram mit sehr persönlichen, leuchtenden, manchmal unbequemen Posts. So entsteht ein Raum für Erfahrungen anderer, die sich mit ihren eigenen zu einem dichten Netz an Anteilnahme und Unterstützung verweben. Doch was für die einen mutig ist, stößt bei anderen auf Ablehnung. Jaqueline Scheiber reflektiert präzise, warum sie es für unerlässlich hält, die eigene Stimme zu erheben und gehört zu werden. Sie beschreibt den Balanceakt zwischen Öffentlichkeit und Privatheit und tritt den Beweis an, dass "radical softness as a weapon" (Lora Mathis) die Basis ist für ehrlichen Austausch, empathische Auseinandersetzung und echte Veränderung.

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Die Grundmauern
Nach dem Nachmittagsunterricht komme ich mit meinen Schulsachen ins Dorfgasthaus am Eck. Manchmal plausche ich mit den Gästen, manchmal erledige ich die restlichen Hausaufgaben. Und manchmal, wenn es spät wird, schlafe ich auf der Holzbank in der Nähe des Tresens ein. Dahinter steht meine Mutter. Sie ist jung und hat vielleicht eine unrealistische Vorstellung von der Zukunft, doch sie ist bereit, hart zu arbeiten. Hart zu arbeiten, um es einmal besser zu haben. Zu Schulzeiten bin ich nicht besonders gut in Mathematik, aber wie ich mit 20 Euro den Wocheneinkauf im Supermarkt kalkuliere, lerne ich früh. Kleidung bestellen wir aus Katalogen, das kann man in Raten bezahlen. In meiner Kindheit wird nicht gespart, es wird mit dem umgegangen, was da ist. Alle paar Wochen gehen wir in ein Restaurant in der nächstgelegenen Stadt Palatschinken essen, das sind die besten Abende von allen. Wir wohnen in engen Räumen, in baufälligen Dorfhäusern oder verbringen auch schon mal eine Nacht im Auto. Meine Mutter fährt auf der Baustelle mit der Schubkarre, sie hebt Gewichte, sie nimmt mich mit auf den Fahrten im Lastwagen. Ich lerne, dass manche Wirte nicht rechtzeitig Löhne ausbezahlen und was das für Auswirkungen auf unser Leben hat. Ich lerne auch, dass es mir an nichts fehlt, außer vielleicht einer Gutenachtgeschichte und jemandem, der mir beibringt, wie der Reis nicht anbrennt. Was in jungen Jahren als Impuls begann, ist heute meine ganz persönliche Art und Weise, auf mich aufmerksam zu machen. Ich komme aus einer Familie, in der Kunst und Kultur keinen großen Stellenwert einnehmen. Ich werde in eine Arbeiter*innenfamilie geboren. Ich bin die Tochter einer jungen Frau, die aus Ungarn nach Österreich immigriert, eines Vaters, der unter prekären Arbeitsbedingungen sein Geld verdient. Das Schreiben ist nichts, das mir beigebracht wird, nichts, das gefördert werden kann. Ich entdecke in meiner Volksschulzeit meine Freude daran, Geschichten zu erzählen. Ich bin etwa zwölf Jahre alt, als ich begreife, dass das Schreiben und der Ausdruck durch Sprache für mich eine Möglichkeit darstellt, mich der Welt außerhalb meiner sozio-ökonomischen Bedingungen mitzuteilen. Zu Beginn ist das meine kleine, heimliche Fantasiewelt. Doch schon bald entdecke ich das Internet und die damit verbundene Alternative, anonym meine Texte und Entwürfe in die Welt setzen zu können. Ich bin davon überzeugt, dass die Art und Weise, wie wir aufwachsen, welche Beziehungen uns in die Wiege gelegt werden und wie sich diese auf uns projizieren, eine große Auswirkung auf unser späteres Handeln haben. Deswegen ist es unerlässlich darzulegen, woher ich komme und was mich bewegt hat, wodurch sich mein Verständnis von Beziehung und Familie, vielleicht sogar des Lebens im Allgemeinen, erschlossen hat. Ich stamme aus einer Familie, in denen Frauen von jeher die starke Rolle übernehmen mussten. Ich wurde von einer Frau großgezogen, die schon sehr jung gelernt hat, was es bedeutet, für sich einzustehen. Meine Mutter ist neunzehn Jahre alt, als sie ohne Sprachkenntnisse ihr Heimatland verlässt und nach Österreich auswandert, um es einmal besser zu haben. Sie verrichtet schwere körperliche Arbeit für wenig Lohn, wird mit 21 Jahren schwanger und zieht praktisch allein eine Tochter groß. Mit vielen Kompromissen. Sie erfährt am eigenen Leib, was es bedeutet, ausgebeutet und unfair behandelt zu werden. Nicht ernst genommen und benachteiligt zu sein, allein aufgrund des Umstands, eine junge Migrantin zu sein. Große Teile meiner Kindheit verbringe ich bei meiner Urgroßmutter in einem kleinen ungarischen Grenzdorf. Sie lehrt mich, was Familie bedeutet, kümmert sich um mich, wenn ich krank bin und erklärt mir die Welt. Meine Großmutter mütterlicherseits arbeitet an ihren freien Tagen als Reinigungskraft in österreichischen Familien, um sich ihr Einkommen aufzubessern. Meine Tante wird Opfer von häuslicher Gewalt in der Ehe, bis sie sich schließlich trennt und beschließt, ebenfalls nach Österreich auszuwandern. Meine Großmutter väterlicherseits wird im Zweiten Weltkrieg geboren, sie ist fast vollkommen blind, und zum Zeitpunkt meiner Geburt plagen sie bereits etliche Erkrankungen. Sie ist in ihrem täglichen Leben stark eingeschränkt, doch als Kind merke ich davon wenig. Ich erlebe sie als widerstandsfähige und lebenslustige Frau. Sie bringt mir bei, keine Angst vor den großen und kleinen Dingen im Leben zu haben. Im Wiener Gemeindebau ist sie eine Institution, man könnte sie als resolut bezeichnen. Sie verstirbt früh, und erst später begreife ich durch Erzählungen, wie hart ihr Leben tatsächlich war, und wie bescheiden und frohsinnig sie es dennoch gestalten konnte. Was all diese Frauen gemeinsam haben: Sie haben auch unter widrigen Bedingungen nicht aufgegeben, für den Zusammenhalt der Familie gesorgt und sind ihrer Philosophie gefolgt, stets einen Schritt vor den anderen zu setzen. Das Aufgeben ist ein Begriff, der in meiner Familie keine Verwendung findet. Das wird sich später stark auf die Art und Weise auswirken, wie mit psychischen Erkrankungen umgegangen wird. Die mütterliche Seite meiner Familie, meine ungarische Herkunft, ist stark geprägt von den Frauen, die sie tragen. Ich wachse größtenteils in der Abwesenheit männlicher Bezugspersonen auf, und eben diese Tatsache wird mich stark beeinflussen. Denn meine Perspektive auf eine Familie ist keine klassische, sie besteht nicht aus Mutter, Vater, Kind. Der Blickwinkel, den ich durch sie bekomme, ist zu einem großen Anteil ein weiblicher. Meine Eltern trennen sich zu einer Zeit, an die ich keine Erinnerungen habe. Die Beziehung zu meinem Vater ist durchwachsen. Aus heutiger Sicht kann ich behaupten, dass das daran liegt, dass wir uns so ähnlich sind. Ich betrachte es nie als Nachteil, einen Wochenendvater zu haben, schließlich kenne ich es nicht anders. Erst im Erwachsenenalter wird mir bewusst, welche Auswirkungen seine Abwesenheit in meinen prägendsten Jahren auf mich gehabt hat. Mein Vater ist stets bemüht, kann jedoch seine Gefühle nicht artikulieren, nicht so zum Ausdruck bringen, dass ich es als Kind oder Jugendliche verstehe. Seit ich erwachsen bin, begegnen wir uns auf Augenhöhe. Wir haben uns die Verletzungen der Jahre davor verziehen und eine enge Bindung zueinander aufgebaut. Mein Vater ist ein tief emotionaler Mensch, der viele Überlegungen über die Welt in sich trägt. Obwohl wir unsere Beziehung unter schwierigen Umständen starteten, hat er mir nie das Gefühl gegeben, als Frau weniger erreichen zu können als ein Mann. Im Gegenteil, er hat hohe Ansprüche an mich gestellt in der Hoffnung, dass mir alles möglich sein wird. Unerwartete Räume entdecken
Aus heutiger Sicht kann ich nicht mehr genau festmachen, wann ich das erste Mal mit dem Begriff Feminismus in Berührung gekommen bin. Es ist lange Zeit ein Begriff, der sich für mich nicht konkretisiert. Ich weiß nicht, was er bedeutet oder welche Abstufungen innerhalb der Definition möglich sind. Was ich weiß, ist, dass sich mein Selbstverständnis und später auch mein Selbstbewusstsein aus starken Frauenvorbildern schöpft. Mir wird erst in der digitalen Welt bewusst, dass Feminismus eine Strömung, eine politische Einstellung und vor allem ein Wert ist, den es zu verfolgen gilt. Meine Eltern würden sich nicht als Feminist*innen bezeichnen. Diese Haltung passt weder in ihre Lebensrealität noch in ihren Wortschatz. Als Jugendliche hat mich das gestört, ich bin teilweise in ausladenden Kämpfen dagegen angegangen. Heute verstehe ich, dass ihre Auffassung in vielen Punkten revolutionär war, ohne dass sie ein Label dafür benötigt hätten. Schließlich haben sie mich großgezogen und zu einem kritisch denkenden Menschen heranwachsen lassen. Sie haben mir die Freiheit gegeben, zu werden, was tief in mir verankert lag, und haben stets dafür gekämpft, mir die Umstände zu erleichtern, in eine andere Welt einzutauchen als ihre eigene. Obwohl ich aus einer Arbeiter*innenfamilie komme, habe ich einen Studienabschluss gemacht. Bewege mich heute in Kreisen, die mir Kunst und Kultur vermitteln. Eben diese Kreise sind es, die mich zur kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen bringen. Mein Studium der Sozialen Arbeit ermöglicht mir die Erkenntnis, dass Frauen benachteiligt werden, marginalisierte Gruppen und Menschen mit Migrationshintergrund eine untergeordnete Rolle in der Gesellschaft spielen. Ich verspüre zum ersten Mal Wut und Unbehagen über die ungleiche Verteilung von Privilegien, die mir unter anderem selbst zuteilwurde. Ich verstehe, wieso meine Mutter wollte, dass ich einen österreichisch klingenden Nachnamen trage und trotz meiner Mehrsprachigkeit akzentfreies Deutsch spreche. Meine Herkunft hat mich geprägt, hat mir zu denken gegeben und bewusst gemacht, dass viele Dinge, die ich für selbstverständlich hielt, für viele in weiter Ferne liegen. Dinge wie: eine selbstbewusste Frau zu sein, die für ihre Ziele einsteht, oder dass Chancengleichheit herrschen sollte, wo sie es noch lange nicht tut. Erst in den letzten Jahren wurde mir...


Jaqueline Scheiber, geboren 1993 im Burgenland, seit 2012 Wahlwienerin, ist Sozialarbeiterin, Mitbegründerin des Young Widow_ers Dinnerclub Wien, Kolumnistin, Autorin und eigens ernannte Selbstdarstellerin. Von 2010 bis 2017 veröffentlichte sie unter dem Pseudonym "minusgold" Lyrik und Prosa auf ihrem Blog. Auf dem gleichnamigen Instagram-Account bespricht sie gesellschaftskritische Themen, teilt Teilrealitäten ihres Alltags und verarbeitet Eindrücke in kurzen literarischen Erzählungen.



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