E-Book, Deutsch, Band 2014, 366 Seiten
Reihe: Phantastische Stories
Scheib Schattenschwarz
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-95719-323-0
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 2014, 366 Seiten
Reihe: Phantastische Stories
ISBN: 978-3-95719-323-0
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
'Schwarz. Schwärzer. Schattenschwarz. Ein Ort, auf keiner Landkarte verzeichnet. Abgeschottet, obskur, unmenschlich. Bevölkert von Dingen und Geschöpfen, die die Sonne scheuen und die der menschliche Verstand ausblendet. Doch nichts und niemand bleibt für alle Zeiten verborgen. Diese 13 Erzählungen wollen einige Schicksale aus jenem Territorium ergründen. Nichts ist mehr wie zuvor. Begegnen Sie Krabbelviechern, resignierten Kriegern und Muschelmädchen. Erfahren Sie Wahn, Rache, Verzweiflung, das Ende der Welt.'
Autoren/Hrsg.
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Das Muschelmädchen
„Hilfe … Hilfe …“ Karsten Röhm trifft der Schlag. Die Serviette entgleitet seinen Fingern, driftet geräuschfrei auf seinen Schoß. Diese Stimme – sie ist so ... so ... „Hilfe … Hilfe …“ ... gleichermaßen filigran wie Furcht einflößend. Ihm fällt das delikate Zupfen einer Violinsaite ein; gepaart mit einer immer dünner werdenden Nadel aus kaltem Stahl, die man gnadenlos in einen Hinterkopf treibt. Hektische Standortbestimmung. Haben die anderen Gäste auch etwas vernommen? Falls dem so ist, lässt es sich niemand anmerken. Man speist, lacht, plaudert. „Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“ Nicht viel, und Karsten hätte aufgeschrien. Stattdessen fährt er zusammen und der Kellner rückt ab. „Ich ...“ Er weiß nicht, was er antworten soll. Prompt schießt ihm das Blut in die Wangen. Als er schluckt, schmeckt er die würzig-fischigen Miesmuscheln. Ihm bricht der Schweiß aus. Sein Blick schweift umher. Bemerkt die Muschel auf seinem Teller – und das Ding darin. Seine Augen weiten sich. Schwindel wie Furcht vereinigen sich zu einer höchst brisanten Kombination. Reflexartig knallt er die Hände auf den Tisch und stemmt sich ab. Das schrille Kreischen der Stuhlbeine sorgt dafür, dass er binnen eines Wimpernschlags die Aufmerksamkeit aller Anwesenden hat. Er kann sie spüren. Jeden Einzelnen. „S-S-Sehen Sie das?“ Sein zitternder Finger deutet auf die Muschel. Karsten erschrickt ein zweites Mal. „Hilfe …“ Der Kellner schenkt ihm einen fragenden Ausdruck. Man merkt: Es fällt ihm schwer, die Ruhe zu bewahren. „Hören Sie es nicht?“ „Bitte um Verzeihung, aber ich kann Ihnen nicht ganz folgen.“ Die Stimme des Mannes klingt gefasst. Mit einem unterschwelligen Hauch leichter Panik. „Sind die Muscheln schlecht?“ Er beugt sich vor. Fächert. Inspiziert die aufgeklappten Schalen. Bis auf ein paar Furchen auf der Stirn – keine Regung. Warum? WARUM? Bildet er sich das alles nur ein? Unmöglich. Die filigrane Stimme existiert und mit ihr auch ... auch ... Räuspernd hebt Karsten die Serviette auf. Säubert seinen Mund. „Nein, nein, ganz im Gegenteil“, antwortet er. „Sie sind ausgezeichnet. Es ist einfach ... ich bin wohl etwas überdreht, schätze ich. Stress und Schlafmangel. Ganz schlechte Kombination. Bitte entschuldigen Sie.“ Überdreht? Was für eine beschissene Ausrede ist denn das? Besseres ist ihm einfach nicht eingefallen. Soll der Kellner – sollen alle – doch denken, was sie wollen. Wobei: Die Sache mit dem Stress und dem Schlafmangel stimmt eindeutig. Deswegen hat er ja den Nordsee-Urlaub angetreten. Unter anderem. Damit scheint die Sache erledigt. Die Gäste wenden sich wieder ihren Gerichten zu, der Kellner zieht sich dezent zurück. Diesmal ist er derjenige, der zusammenzuckt, als Karsten die Hand auf seinen Arm legt. „Eine kleine Bitte hätte ich noch“, murmelt dieser kleinlaut. „Wäre es möglich, ein kleines Plastiktütchen zu kriegen? Oder eventuell einen Frischhaltebeutel?“ „Natürlich“, entgegnet der Kellner. Karsten bedankt sich höflich und wendet sich wieder seinen Muscheln zu. Der Kellner stapft kopfschüttelnd und augenrollend von dannen. So leise wie möglich schiebt Karsten seinen Stuhl wieder zurück an den Tisch. Jeder Herzschlag ist ein Fausthieb. Er versucht, Normalität vorzutäuschen. Mit dem Löffel greift er nach der nächsten Muschel. Tut so, als würde er weiter essen. Keine leichte Aufgabe. Jedes Mal, wenn er sich absichern möchte, wenden sich die Gäste gerade ab. Vorsichtig lässt er die Muschel auf den Teller gleiten; darum bemüht, dass weder sie noch das Besteck in Berührung mit dem Ding kommen. Als wäre sie kontaminiert. Karsten weiß, wie lächerlich das Ganze ist – und dass er seinen Augen und Ohren trauen kann. Dies ist kein Hirngespinst, verdammt! „Bitte … Hilfe …!“ Hören sich so Halluzinationen an? Wie verzweifelte Hilferufe? Nein. Auf keinen Fall. Und das Ding in der Muschel – es existiert. Warum nur er es sehen und hören kann, verschließt sich seinem Verstand, doch ist er gewillt, das Problem zu lösen. Hinter diesem Rätsel, diesem bizarren Mysterium, muss sich einfach eine rationale Antwort verbergen. Wie bei allem anderen auch. Der Kellner ist zurück. Legt einen transparenten Frischhaltebeutel auf den Tisch. Karsten bittet nach der Rechnung und zahlt schnell. Wartet noch einen Moment. Als die Luft rein ist, hebt er die Muschel vom Teller und in den Beutel. Er hat einen Druckverschluss. Das Wehklagen verstummt, als er ihn versiegelt. Gut. Er kann wieder die arrogante Neugier der anderen spüren, als er das Restaurant verlässt. Die trockene Wärme wird vom klammen Nordseewind abgelöst. Er ist allein. Im bleichen Licht der Reklameleuchte holt er den Beutel hervor. Betrachtet ihn eingehender. Es. Sie. Den winzigen Körper einer nackten Frau. Die Realität ist zu einem vagen Konstrukt verkommen. Unwirklich. Waten durch dichten Nebel. Karsten erinnert sich nicht, wie er seine Pension erreicht hat. Die Begrüßung der Betreiberin, die hinter dem kleinen Empfangstisch Kreuzworträtsel löst, bekommt er nur nebenbei mit. Er schwebt die Treppen hinauf. Erst, nachdem er die Zimmertür hinter sich geschlossen hat, kehrt seine Umgebung zu Form und Kontur zurück. Ungeduldig zerrt er den Beutel aus seiner Manteltasche, öffnet ihn – und wird von einem Schrei begrüßt, der ihm bis ins Mark fährt. Seine Züge werden zu einer Fratze. Er lässt den Beutel fallen, presst die Hände gegen die Ohren. Zu spät bemerkt er seinen Fehler. Die Muschel ist auf den abgewetzten Läufer neben dem Bett gefallen. Die kleine Bewohnerin darin ringt mit ihren Schmerzen. Erst jetzt fallen Karsten die grauen und hellbraunen Stränge auf, welche die winzige Kreatur festhalten. So kann er sie nicht liegen lassen. Auch wenn sich alles in ihm sträubt: er hebt die Muschel auf, rennt ins Badezimmer. Legt die Muschel ins Waschbecken. Verschließt den Ausguss. Öffnet den Wasserhahn. Kaltes Wasser. Die Schreie hören auf. Erleichtert lässt sich Karsten auf dem Badewannenrand nieder. Genießt die Friedlichkeit. Irgendwann steht er schließlich auf, macht Licht. Auf Zehenspitzen schleicht er ans Becken. Lugt hinein. Das Mädchen in der Muschel hat sich wieder beruhigt. Fast scheint es, als schlummere sie. Der Schlummer der Erschöpfung. Ihm fällt Botticelli ein. Die Geburt der Venus. Die winzige Gestalt im Becken hat eine frappierende Ähnlichkeit mit der Göttin auf dem Gemälde. Sieht man mal davon ab, dass ihr Schädel kahl und ihre Behausung eine Mies- und keine Jakobsmuschel ist. Ansonsten ist sie praktisch perfekt. Jede Proportion ist makellos. Vollkommen. Es ist ein delikater Moment ungezwungener Intimität, der ein jähes Ende findet, als Karsten das drängende Pochen seiner Erektion bemerkt, die sich ungeduldig von innen gegen seine Cordhose zwängt. Vielleicht ist es besser, wenn er es für heute damit bewenden lässt. Morgen ist auch noch ein Tag. Es ist einiges auf ihn niedergeprasselt und das in ziemlich kurzer Zeit. Da verliert man durchaus den Unterschied zwischen oben und unten. Und außerdem ist er hundemüde. Karstens Glieder sind bleischwer, als er sich vom Becken entfernt und das Badezimmer verlässt. Er hält inne, als jemand gegen die Zimmertür klopft. „Herr Röhm? Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“ Es ist Frau Eriksen, die mit ihrem Mann die Pension betreibt. Sie klingt besorgt. „Alles gut“, entgegnet Karsten, während er sich die Augen reibt. Gott, er braucht wirklich etwas Schlaf. „Warum fragen Sie?“ „Nun ja ich ... Sie sind vorhin so überstürmt nach oben gerannt, da dachte ich ...“ „Mir geht es bestens. Danke der Nachfrage. Und eine gute Nacht.“ Schlurfend setzt Karsten seinen Weg fort. „Gute Nacht, Herr Röhm.“ Frau Eriksens Antwort kommt verzögert; wirkt überrascht. Unsicher. Seufzend plumpst Karsten auf die Bettkante. Zieht sich aus. Aus irgendeinem Grund ist er davon überzeugt, heute Nacht kein Auge zuzubekommen. Trotz dieser Bleischwere. Als er im Bett liegt, starrt er zur Decke. In der Ferne rauschen die Wellen der Nordsee. Die mit salziger Würze getränkte Nachtluft wabert durch das aufgeklappte Fenster. Keine zwei Minuten, und Karsten schlummert tief und fest. „Hilfe … Hilfe …“ Ausgestreckte Arme wenden sich einem grauen, wolkenlosen Himmel zu. Das Atmen wird schwerer. Unsichtbare Tentakel schmiegen sich um den Brustkorb. Ziehen sich fester zusammen. „Hilfe!“ Die Stimme überschlägt sich. Seine Stimme. Er blickt nach unten. Erst jetzt wird ihm bewusst, dass es seine Schreie sind; sein Körper, der … „Mein Gott!“ Blanke Panik zertrampelt seinen Verstand, als ihm die Aussichtslosigkeit seiner Lage klar wird. Die Hälfte seines Körpers ist bereits im Treibsand verschwunden ... Sekunde. Treibsand? Aber wie … Spielt keine Rolle. Er muss hier raus. Das ist das einzige, was zählt. Verzweifelt wendet er sich dem Rand der Grube zu. Eine Bewegung, die der Sand dankbar annimmt und Karsten die nächsten Zentimeter sinken lässt. Sein Schrecken schraubt sich in ungeahnte Sphären, als er die Gesichter erblickt, die keinen Armwurf entfernt seinen Kampf verfolgen. Er kennt sie...