E-Book, Deutsch, Band 2, 304 Seiten
Reihe: Die gnä' Frau ermittelt
Scheib Keine schöne Leich
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-311-70367-9
Verlag: OKTOPUS bei Kampa
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die gnä' Frau ermittelt
E-Book, Deutsch, Band 2, 304 Seiten
Reihe: Die gnä' Frau ermittelt
ISBN: 978-3-311-70367-9
Verlag: OKTOPUS bei Kampa
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Constanze Scheib wurde 1979 in Wien geboren, wo sie auch aufgewachsen ist. Das merke man, sagt sie: an der Färbung ihrer Sprache, an ihrer »manchmal bisserl ruppigen Liebenswürdigkeit« und an ihrem speziellen schwarzen Humor. Nach der Schule absolvierte sie eine Schauspielausbildung und stand in den folgenden Jahren auf diversen österreichischen Bühnen. Schon in dieser Zeit begann sie - »zum Amüsement meiner Lieben« -, Kurzgeschichten und Theaterstücke zu schreiben. Seit 2014 werden ihre Erzählungen veröffentlicht, seit 2019 ist sie Mitglied der »Mörderischen Schwestern«, einem Netzwerk zur Förderung der deutschsprachigen Kriminalliteratur von Frauen. Constanze Scheib lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Wien.
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2 Konferieren mit Toten
Frau Ehrenstein entschied sich mit mulmigem Gefühl gegen die Clutch, denn Portemonnaie, Puderdose, Kamm und Zigaretten passten nur in eine größere Tasche. Dass die in Kombination mit dem schicken Blazer etwas plump wirkte, musste sie in Kauf nehmen. Als sie angemessen majestätisch die breite Treppe in den Vorraum hinunterging, warteten ihre Eltern dort schon ungeduldig.
»Hach, Leni, da bist du ja! Ich hab gedacht, du kommst gar nicht mehr!«
Frau Ehrensteins Mutter eilte ihr mit trippelnden Schritten und sorgenvoller Miene entgegen. Veilchenduft und Kaffeeatem umwehten sie, als sie nach den Händen ihrer Tochter griff und ihr zwei Bussis auf die Wangen hauchte.
»Wieso sind deine Hände so kalt? Bist du krank?«
»Nein, Mama, ich …«
»Dein Vater hat ja gestern schrecklich gehustet!«
»Ich hab mich nur verkutzt!« Der Ton von Frau Ehrensteins Vater legte die Vermutung nahe, dass er diese Aussage heute nicht zum ersten Mal tätigte.
Frau Ehrensteins Mutter wedelte seine Bemerkung mit einer Handbewegung fort und fasste ihre Tochter am Ellbogen. »Geht es dir eh gut? Fühlst du dich kräftig genug?«
Frau Ehrenstein erwog für einen Moment, mit Nein zu antworten, allein, um die Reaktion ihrer Mutter zu erleben. Doch sie wusste, dass es keinen Zweck hatte, jetzt noch zu widersprechen, und begnügte sich wie immer mit einem simplen: »Ja, Mama.«
»Ist der Oskar da? Ich wollte ihn noch was fragen! Und wo ist eigentlich mein entzückender Enkel?« Die Stimme ihres Vaters war tief und rau, was wohl seinem jahrzehntelangen Pfeifenkonsum zuzuschreiben war. Jedes Mal, wenn er die Ehrenstein’sche Villa betrat, begutachtete er alles durch seine eckige Brille, als wäre er noch nie hier gewesen.
»Nein, Papa, der Oskar ist in der Arbeit und der Willi in der Schule. Woll’ ma jetzt vielleicht …?«
»Hach, Sie sind die Neue, nicht wahr? Lilli, hab ich recht?« Frau Ehrensteins Mutter betrachtete Marie mit zusammengekniffenen Augen.
»Nein, Mama. Das ist Marie. Marie Muskat. Und neu ist sie auch nicht, du kennst sie schon. Sie ist seit ein paar Monaten bei uns.«
»Ein paar Monate? Und du willst mir erzählen, das wär nicht neu?«
Tatsächlich hatte es im letzten Jahr in der Villa Ehrenstein eine ungewöhnlich hohe Fluktuation bei der Dienerschaft gegeben, und im Allgemeinen warf das kein gutes Licht auf die Haushaltsführung. Marie hatte den Posten eines Dienstmädchens übernommen, das schwanger geworden war. Dann hatte die gnä’ Frau ein anderes Dienstmädchen entlassen müssen, weil sie sich als Diebin entpuppt hatte, was Frau Ehrenstein bei ihren Ermittlungen zum Würger von Hietzing aufgedeckt hatte. 1972 war bisher ein großartig ereignisreiches und fürchterlich unruhiges Jahr gewesen. Sie hatte sich vorgenommen, die zweite Hälfte etwas gemächlicher angehen zu lassen.
»Hach, jetzt hamma aber genug getrödelt!«, rief Frau Ehrensteins Mutter. »Das wär eine Blamage, wenn ma zu spät kommen. Geh, Anton, jetzt lass doch die Vase! Leni, warum stehst denn da noch rum?«
Marie zwinkerte der Dame aufmunternd zu, während diese von ihrer werten Frau Mama unsanft aus der Tür geschoben wurde.
Es machte keinen Unterschied, dass sie mit ihren zweiunddreißig Jahren schon längst erwachsen war – wenn Frau Ehrenstein auf der Rückbank vom Mercedes ihres Vaters saß, fühlte sie sich wie ein kleines Mädchen. Ihre Eltern thronten wieder auf den Vordersitzen wie auf einem Kutschbock und redeten miteinander, als wäre ihre Tochter gar nicht anwesend. Nur ab und zu warfen sie einen Blick nach hinten, wie um sicherzugehen, dass sie sich auch brav benahm. Wie oft hatte sie als Kind durch das Fenster die vorbeihuschenden Menschen und Häuser betrachtet, während sie sich vorstellte, was sich in ihren Köpfen wohl abspielte, welche Geheimnisse hinter den Fenstern der Gebäude verborgen sein mochten.
Ihr Vater lachte einmal kurz auf, ihre Mutter gab ihm einen Klaps auf die Hand, die auf dem Schaltknüppel lag, und kicherte. Was auch immer der Witz gewesen sein mochte, die gnä’ Frau hatte ihn verpasst.
Man roch immer noch den süßlichen Pfeifengeruch, der sich in der Polsterung eingenistet hatte, obwohl Frau Ehrensteins Mutter vor Jahren das Rauchen im Auto verboten hatte. Sie hatte sich nicht unbedingt um die Gesundheit ihres Mannes gesorgt, war aber zunehmend nervöser geworden, wenn er während der Fahrt mit der Pfeife hantiert hatte. Zahllose kleine Brandlöcher rund um den Vordersitz trugen Zeugnis davon. Die Ausdünstungen in Kombination mit dem scharfen Aftershave ihres Vaters ergaben den typischen Muff der elterlichen Karosserie, der Frau Ehrenstein fast den Atem nahm. Insbesondere weil die Luft hier drinnen diverse Dekagramm schwerer wirkte.
»Leni, ich bitt dich, mach doch den Mund zu. Du schaust aus wie ein Karpfen!«
»Könnten wir vielleicht ein Fenster aufmachen, Mama?«
»Bist du denn wahnsinnig? Dein Vater hat gestern gehustet!«
»Ich hab mich verkutzt!«
»Ist schon gut, Mama.«
Frau Ehrenstein rutschte mit ihrem Hintern ein wenig zur Seite, in der Hoffnung, eine etwas bequemere Position zu finden. Der Erfolg war überschaubar. Durch den zugenähten Rock musste sie den Rücken durchdrücken und die Beine schräg halten.
Sehnsüchtig betrachtete sie ihre Tasche auf dem Nebensitz. Ihre Mutter würde der Schlag treffen, wenn sich Frau Ehrenstein jetzt eine Zigarette anzündete. Das wäre viel zu undamenhaft und verrucht. Wenn ihre Mutter ahnte, dass Frau Ehrenstein vor nicht allzu langer Zeit mit ein paar Hippies einen Joint geteilt hatte, würde sie vermutlich auch nach Luft schnappen wie ein Karpfen.
»Was kuderst denn so, Leni?«
»Ach, nichts, Mama.«
Frau Ehrenstein fächelte sich mit der Hand etwas Luft zu. Dadurch verlagerte sich die dicke, schwere Luft zwar nur von einer Seite zur anderen, doch wenigstens wehte so ein leichter Hauch über ihre aufgeheizte Haut.
Bis zu ihrer Erlösung würde es eine Weile dauern. Eine elendslange Autofahrt von Hietzing bis nach Simmering hatte sie vor sich, schief liegend am Hintersitz, in einem hitzeversiegelten Auto und mit Eltern, die darauf erpicht waren, das gesellschaftliche Ansehen ihrer Tochter wiederherzustellen.
Am Vortag hatte ihre Mutter sie wie jeden Dienstag angerufen. Frau Ehrenstein bildete sich ein, sie schon am durchdringenden Schrillen des Telefons erkennen zu können. Wie immer hatte sie mit sich gerungen und einige Sekunden lang überlegt, ob sie einfach nicht abheben oder eine ihrer Bediensteten bitten sollte, sie zu verleugnen. Besonders in den letzten Wochen war ihr bei diesen Telefonaten immer ein Knödel im Hals gelegen. Der Zeitungsartikel war stets in der Leitung geschwebt wie ein Geist, den man einfach nicht austreiben konnte. Doch beim gestrigen Gespräch hatte Frau Ehrensteins Mutter diese Themen ausgespart und ihrer Tochter unumwunden erklärt, dass sie am nächsten Tag zum Begräbnis einer wichtigen Persönlichkeit erscheinen müsse.
Die »schöne Leich« war tief ins kulturelle Bewusstsein der Wiener eingebrannt. Beerdigungen wurden mitunter zu gesellschaftlichen Ereignissen, teilweise schon lange zuvor von den Verstorbenen geplant, um einen glorreichen Abgang von Erden zu gewährleisten. Es gab Menschen – Frau Ehrensteins Eltern zählten dazu –, die die Todesanzeigen durchforsteten wie den Ballkalender.
Frau Ehrenstein hatte ihrer Mutter nachdrücklich mitgeteilt, dass sie mit Sicherheit nicht mitgehen werde. Das Letzte, wonach ihr momentan der Sinn stand, war, auf ein Begräbnis zu gehen, noch dazu von einer Person, die sie nicht einmal gekannt hatte. Sie hatte viel Vergnügen gewünscht und ihre Vorfreude auf ein baldiges Wiedersehen bei anderer Gelegenheit ausgedrückt.
Ihre Mutter hatte ihrer Tochter freundlich, aber bestimmt mitgeteilt, dass sie am nächsten Tag um Punkt neun vor ihrer Tür stehen werde.
Der Mercedes fuhr rumpelnd über ein Schlagloch.
»Außerdem kennst du ihn.«
Frau Ehrenstein schreckte aus ihren Gedanken hoch und blinzelte ihre Mutter verständnislos an.
»Wen?«
»Hach, den Verstorbenen, selbstverständlich. Es ist der Cousin dritten Grades von der Frau Kommerzialrat Wiesinger.«
Frau Ehrenstein schloss für einen Moment die Augen und rang um Beherrschung, ehe sie antwortete: »Mama, das sagt mir gar nichts.«
Ihre Mutter seufzte theatralisch und warf einen Blick zu ihrem Gatten, der aber weiterhin stoisch auf die Straße starrte.
»Die Frau Kommerzialrat hast du bei der Wohltätigkeitsveranstaltung für die Erdbebenopfer in Jugoslawien kennengelernt. Vor zwei Jahren. Im Palais Auersperg. Du hast das blaue Abendkleid mit den Rüschen angehabt. Viel zu viele Rüschen!«
»Mama, ich erinnere mich an den Abend und das Kleid, aber nicht an eine Frau Wiesinger.«
»Frau Kommerzialrat«, erwiderte ihr Vater emotionslos, während er den Blinker betätigte.
Ein dicker Schweißtropfen rann zwischen Frau Ehrensteins Schulterblättern hindurch ihre Wirbelsäule entlang. Um ihren Fingern etwas zu tun zu geben und nicht in Versuchung zu geraten, ihre Eltern anzuschreien, griff sie in ihre Tasche und holte ihre Puderdose hervor. Ihr Gesicht glänzte unansehnlich, doch wenigstens hielten die Wimperntusche und der Lidstrich. Sie presste die Puderquaste auf Nase, Wangen und Kinn und packte sie wieder weg.
»In Ordnung. Nehmen wir an, ich kenne die Frau … Kommerzialrat. Kenne ich denn auch den dahingegangenen Cousin?«
Ihre Mutter zuckte mit den Schultern und studierte ein dickes bedrucktes Papier, das...