Schami | Sehnsucht | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 180 Seiten

Schami Sehnsucht


1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-86913-852-7
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 180 Seiten

ISBN: 978-3-86913-852-7
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein zartes Ziehen, schmerzvoll und süß. Ein brennendes Verlangen von ungeahnter Vehemenz. Voller Hoffnung – und doch unstillbar? Wer kennt sie nicht, die Kraft der Sehnsucht ... nach der Ferne oder dem Nach-Hause-Kommen, nach dem Meer oder den Bergen, nach Freiheit und Erlösung. Nach der Gegenwart eines Menschen, nach vollkommener Liebe und Verschmelzung. "Das Dunkelste und damit Tiefste der menschlichen Natur ist die Sehnsucht", schrieb Schelling. Monika Helfer, Franz Hohler, Root Leeb, Michael Köhlmeier, Nataša Dragni? und Rafik Schami gehen ihr nach, erkunden das Geheimnis ihrer Macht, die Formen ihres Ausdrucks, ihre Wirkung, ihr Ziel. Sie erzählen Geschichten von Menschen, die sich ihr hingeben, gegen sie ankämpfen, ihr erliegen, die Verwurzelung in Realität und Gegenwart verlieren oder das Glück der Erfüllung erleben: in Kurzgeschichten von sprachlicher Sensibilität, Poesie und großer literarischer Kunst.

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  Liebe am falschen Platz Ein Lastwagenfahrer, ein haariger Mann mit freundlichen Augen, fuhr und träumte auf der Landstraße. Er war gerade in einem Wohngebiet angekommen, da streikte sein Fahrzeug. Der Mann hielt an und kroch unter das schwere Gefährt, um den Fehler zu finden. Öl tropfte auf den Asphalt. Eine junge Frau mit zwei Kindern ging an ihm vorbei, er sah gerade ihre Beine, die Schnürstiefel der Frau und die Sandalen der Kinder. Die Kinder zerrten an der Mutter. Sie wollten sehen, wer darunter liegt. Die Mutter mahnte die Kinder, sie habe keine Zeit. Der Lastwagenfahrer dachte: Ihre Stimme klingt zwar genervt, aber das Rauchige darin gefällt mir. Er kroch unter dem Lastwagen hervor, um zu sehen, zu wem die Stimme gehörte. Er stand aufrecht, rieb sich die Hände an der Brust und grüßte, erst die Frau, dann die Kinder. Sein Hemd war ölverschmiert. Die Frau musterte ihn. Er fand sie ziemlich süß, fast ein Mädchen, mit toupierten Haaren und kurzem Rock. Sie schaute ihn an und fand, dass er gemütlich aussehe, und Hintergedanken bedrängten sie. Sie fragte, ob er bei ihr einen Kaffee trinken wolle, sie habe nämlich Lust auf einen Kaffee. Der Lastwagenfahrer dachte sich: Wird wohl hoffentlich nicht nur an mir liegen, dass das, was sie sagt, zweideutig klingt, und er sagte: »Ich komme gern auf einen Kaffee, wenn Ihnen meine Aufmachung nicht zu schmutzig ist.« »Ist ja nur Öl«, sagte sie leichtfertig, »Dreck von der Arbeit kann gar nicht schlecht sein.« Der Lastwagenfahrer, ermutigt durch ihre Reden, ging schwungvoll neben ihr her, er achtete darauf, dass sie seinen kleinen Gehfehler nicht bemerkte. Er schleifte ein wenig das rechte Bein, das kam von einem Unfall. Die junge Frau aber, ganz in Gedanken, sah zu ihm auf, denn er war um einiges größer als sie, und dachte: Er wirkt vertrauenswürdig. Die Kinder saßen bereits auf seinem Schoß, er hatte den Kaffee getrunken, und ihm fiel auf, dass die Frau ständig auf ihre Uhr schaute. Das gefiel ihm nicht. Den Kindern gefiel es aber sehr, auf seinem Schoß zu schaukeln, er brummte wie ein Lastwagen, bremste wie ein Lastwagen, beschleunigte und überholte. Dabei hob er seine Stimme, und sie klang wie eine Sirene. Da sagte die Frau: »Wenn ich jetzt zwei, drei Stündchen weggehe, könnte ich die Kinder bei Ihnen lassen?« Aha, dachte der Mann, so läuft der Hase, und er war enttäuscht, hatte er ihre Zweideutigkeit doch völlig falsch eingeschätzt. Sie ist ein Luder, dachte er sich, und hat zwei so liebe Kinder, aber ich werde auf sie aufpassen. Die Frau wiederum dachte sich, während sie sich schminkte, nämlich vor den Augen des Lastwagenfahrers sich puderte, sich die Lippen grell anstrich, an den Augen herummalte, dieser Mann, dem kann ich trauen, irgendwie erinnert er mich an den Pfarrer, den ich als Kind in Religion hatte. Der Lastwagenfahrer, obwohl er überhaupt keine Zeit hatte, verschenkte sich an die Kinder, spielte mit ihnen und tat, was ein guter Vater tut. Er suchte nach Gegenständen, die auf einen Ehemann schließen lassen könnten, fand aber keine. Er sagte fragend zu den Kindern: »Wo ist euer Papa?« Aber sie schauten nur ungläubig. Anzunehmen, dass ihnen keiner in Erinnerung war. Der Lastwagenfahrer, ein sentimentaler Mensch mit gescheiterten Beziehungen und einer verpfuschten Ehe, malte sich aus, wie es sein könnte, käme die Frau nach Hause und würde anstelle der Kinder auf seinem Schoß sitzen. Er kochte Milchreis, weil ihn das an seine eigene Kindheit erinnerte, auf dem Bauernhof, als seine Mama in ihrer weißen Schürze am Herd gestanden war und alles nach Zimt roch, wie im Morgenland. Außerdem waren es die einzigen Zutaten, die er fand, die nach Mahlzeit aussahen, Geld war da nicht viel in diesem Haus. Das Mädchen fand auf dem hintersten Regal noch ein Glas Brombeermarmelade. Hoffentlich nicht schimmlig. In diesen Stunden lag die junge Frau mit einem Mann im Bett. Für den war sie nur ein Abenteuer, ihre kleinen Brüste gefielen ihm, und dass sie wie ein Knabe aussah. Es war nur ein Abenteuer für ihn, und er dachte bei sich, ausprobieren, bis ich endlich weiß, wohin ich gehöre. Er war in Wirklichkeit verklemmt und erlaubte sich nicht, an junge Männer zu denken. Wenn er die Augen schloss und über die Hüften der jungen Frau strich, fühlte es sich an, als sei sie ein Kerl. Was dem Liebhaber gar nicht gefiel, war, dass sie viel von ihren beiden Kindern sprach und ihn offensichtlich als Vater aufreißen wollte. Nicht mit mir, dachte er sich. Als er dann ihren BH, obwohl sie ja wirklich keinen gebraucht hätte – bei ihren Knospen –, an der Stuhllehne hängen sah, wurde ihm flau im Magen, und er rollte sich aus dem Bett. Er wollte ihr sagen, dass es aus sei, ihr Liebesverhältnis nicht mehr weiter bestehen könne, weil, ja weil, was sollte er für einen Grund nennen. Die Frau sagte, »bleib, ich hab noch eine halbe Stunde.« »Für uns«, stammelte er, »kann es keine Zukunft geben, ich kann nicht zwei fremde Kinder aufziehen und will das auch nicht, verstehst du. Ich brauche einen klaren Schnitt. Ich möchte überhaupt nie Kinder haben, auch keine eigenen. Mein Leben ist ohne Struktur, und jetzt will ich das ändern. Ich habe mich in der Abendschule eingeschrieben und will alles abbrechen, was mich an mein altes Leben erinnert. Verstehst du?« »Nein«, sagte sie, »das verstehe ich nicht, ich kann nicht verstehen, dass man etwas Schönes nicht mehr will, und unsere Beziehung ist doch etwas Schönes. Du musst mich nicht heiraten, und meine Kinder sind meine Sache, ganz allein meine Sache.« Sie wusste, dass sie unglaubwürdig klang. »Du sollst mich nicht mehr besuchen, mich nicht anrufen, mir keine SMS mehr schreiben, kapiert, denn das alles belastet mich und macht mich unfähig für Neues.« Die Frau versuchte, nicht zu weinen, trotz alledem schossen ihr die Tränen in die Augen, und sie wischte sie mit dem Handrücken weg. »Versager«, sagte sie, als sie ihr federleichtes Kleid über den Kopf zog, in ihre Schnürstiefel schlüpfte, die Schuhbändel offen ließ, fast darüber stolperte, sich die Haare nach hinten strich und sich verbot, auch nur einen Blick zurückzuwerfen. Sie sah zu Hause den Lastwagenfahrer und erwog, ob er für sie infrage käme, fand ihn aber zu alt, er hätte ja ihr Vater sein können. Deshalb bedankte sie sich nur bei dem Fremden, sie fand, seine Augen wirkten so traurig, und deshalb gab sie ihm einen Kuss mitten auf den trockenen Mund, der nach Brombeermarmelade schmeckte. Die Zunge ihres Liebhabers kam ihr in den Sinn, die so weich und eilig gewesen war, aber sie wollte es sich verbieten, an diesen Versager zu denken, er hatte für sie keinen Namen mehr, aber vergessen konnte sie ihn trotz allem nicht. Die Kinder jammerten, als sie sahen, dass der Lastwagenfahrer weggehen wollte, sie sagten: »Aber Mama, dein Bett ist so breit, da hat er doch leicht Platz.« Sie wussten noch nichts vom Leben, waren noch so unschuldig, der Bub fünf, das Mädchen gerade drei Jahre alt. Der Lastwagenfahrer stieg in sein Gefährt und brauste davon, er nahm sich vor wiederzukommen, vielleicht in einem Monat, wenn er von seiner Tour zurück war, er könnte in Italien eine Puppe für das Mädchen kaufen, in so einem Seidenkleid, und für den Bub ein Löschfahrzeug, denn davon hatte er die ganze Zeit gesprochen. Die Frau würde er nicht beschenken, sie hatte es nicht verdient. Er würde die Sachen einfach nur abgeben und wegfahren, im besten Fall Sehnsucht zurücklassen. Die Frau dachte bei sich, als sie den Lastwagen wegfahren sah: Ich habe vielleicht etwas falsch gemacht; sollte er wiederkommen, will ich ihn ausprobieren. Noch aber war die Geschichte mit ihrem Liebhaber nicht zu Ende, Sehnsucht plagte die Frau, und sie dachte, sie könnte ihn gewiss umstimmen. Sie schickte ihm SMS, eine nach der anderen, bis zu zwanzig am Tag. Sie ließ die Kinder allein und stellte sich hinter einen Baum, sodass sie auf seine Haustür sehen konnte, er kam und ging. In einer Anwandlung schlechten Gewissens rannte sie nach Hause, fand ihre Kinder spielend auf dem Teppich. Weiter schrieb sie SMS, und dann erreichte sie ihn nicht mehr. Garantiert hatte er sich ein neues Handy angeschafft. Wieder versteckte sie sich nahe bei seinem Haus, und einmal tat sie so, als treffe sie ihn zufällig. Er war gerade mit einem anderen Mann im Gespräch, und sie sagte: »Was für ein schöner Zufall« und ging auf ihn zu. Er sagte: »Ich kenne Sie nicht, Sie verwechseln mich« und ging weiter. Sie war so fassungslos, dass ihr nichts einfiel. Wieder lief sie nach Hause. Das kleine Mädchen saß in der vollen Badewanne, und der Bub spielte mit einem Schiffchen. Er hatte seiner Schwester ein Bad einlaufen lassen, aber das Wasser war schon kalt, und die Kleine zitterte. Für die Frau wurde es zu einer fixen Idee, ihren ehemaligen Liebhaber zu sehen. Immer öfter ließ sie ihre Kinder allein, manchmal bis in die Nacht. Einmal hatte sie ihm ein Kellerfenster eingeschlagen und sich versteckt. Es war das Haus seiner Eltern, in dem er wohnte. Sie hörte ihn kommen und verschwand. Einmal erwischte er sie im Heizungskeller, und er holte die Polizei. Sie fuhren in ihre Wohnung und fanden die Kinder in der Küche. Das Radio lief laut, und der Junge stand am Herd, und Eier waren in einem Topf ohne Wasser, es stank fürchterlich. »Man wird Ihnen die Kinder wegnehmen«, sagte ein Polizist. Die Frau flehte ihn an, es würde nie wieder vorkommen, und lange kam es auch nicht wieder vor. Sie kümmerte sich in ihrer fahrigen Art um die Kinder, spielte mit ihnen unter dem Tisch, als wär sie selber noch ein Kind. Jeden Monat wurde ihr die Sozialhilfe...


Rafik Schami, 1946 in Damaskus geboren, lebt seit 1971 in Deutschland. Er studierte Chemie und promovierte 1979 in diesem Fach. Seit 1982 arbeitet er als freier Schriftsteller. Heute ist Rafik Schami in Marnheim (Pfalz) zu Hause und zählt zu den erfolgreichsten Autoren deutscher Sprache. Für sein Werk, das in 27 Sprachen erschienen ist, erhielt er zahlreiche Auszeichnungen und Preise, unter anderem für Eine Hand voller Sterne, Erzähler der Nacht und Die dunkle Seite der Liebe. Seit 2002 ist Rafik Schami Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.

Franz Hohler, 1943 in Biel geboren, aufgewachsen in Olten, studierte fünf Semester Germanistik und Romanistik in Zürich und arbeitet seither freischaffend für Bühne, Radio und Fernsehen. Er lebt mit seiner Frau in Zürich, schreibt Erzählungen, Romane, Gedichte, Kabarettprogramme, Theaterstücke und Kinderbücher. Zuletzt wurden von ihm veröffentlicht: Immer höher (Bergtexte, 2014), Der Geisterfahrer (gesammelte Erzählungen, 2013), Gleis 4 (Roman, 2013), Es war einmal ein Igel (Kinderverse, 2011).

Monika Helfer, 1947 in Au/Bregenzerwald geboren, lebt als Schriftstellerin mit ihrer Familie in Vorarlberg. Sie hat Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht, zuletzt Bevor ich schlafen kann (2010), Oskar und Lilli (2011) und Die Bar im Freien Aus der Unwahrscheinlichkeit der Welt (2012). Gemeinsam mit Michael Köhlmeier veröffentlichte sie 2010 Rosie und der Urgroßvater. Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem mit dem Robert- Musil-Stipendium (1996) und dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur (1997) ausgezeichnet.

Root Leeb, 1955 in Würzburg geboren, studierte Germanistik, Philosophie und Sozialpädagogik. Sie arbeitete zwei Jahre als Deutschlehrerin für Ausländer, danach sechs Jahre als Straßenbahnfahrerin in München. Heute lebt sie als Autorin, Malerin und Zeichnerin in der Nähe von Mainz. Bei ars vivendi erschien 2001 Mittwoch Frauensauna, 2003 folgte Tramfrau. Aufzeichnungen und Abenteuer der Straßenbahnfahrerin Roberta Laub, 2012 ihr Roman Hero. Impressionen einer Familie und 2013 Die dicke Dame und andere kurze Geschichten.

Michael Köhlmeier, 1949 in Hard am Bodensee geboren, lebt als Schriftsteller in Hohenems (Vorarlberg) und Wien. Er schreibt Kurzprosa, Lyrik, Bühnenstücke, Drehbücher sowie Hörspiele und hat zahlreiche Romane veröffentlicht, darunter Abendland (2007, Finalist beim Deutschen Buchpreis), Madalyn (2010) und Die Abenteuer des Joel Spazierer (2013). Mit Zwei Herren am Strand war er 2014 auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis vertreten. Seine Werke sind in mehreren Sprachen erschienen. Ihm wurden etliche Literaturpreise verliehen, zuletzt der Walter-Hasenclever-Literaturpreis der Stadt Aachen 2014.

Natasa Dragnic , 1965 in Split (Kroatien) geboren, schloss nach dem Germanistik- und Romanistikstudium in Zagreb eine Diplomatenausbildung ab. Seit 1994 lebt sie in Erlangen und war viele Jahre als Fremdsprachenund Literaturdozentin tätig. Ihr Debüt Jeden Tag, jede Stunde erschien in rund 30 Sprachen, ihr zweiter Roman Immer wieder das Meer wurde 2013 veröffentlicht. Nata a Dragnic erhielt den IHK-Kulturpreis der Stadt Nürnberg 2012, den August Graf von Platen Förderpreis 2013 und den italienischen Premio Fondazione Francesco Alziator 2013.



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