Schacherreiter Wo die Fahrt zu Ende geht
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7013-6231-8
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 300 Seiten
ISBN: 978-3-7013-6231-8
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dora und Hannes lernen einander kennen, als sie noch an die Utopie der klassenlosen Gesellschaft glauben. Im studentischen Umfeld der 70er Jahre bahnt sich eine verquere Liebesbeziehung mit Komplikationen an. Die unerwartete Wiederbegegnung nach mehr als dreißig Jahren schwemmt viele Erinnerungen an die Oberfläche, und beide sehen sich mit den ramponierten Idealen ihrer Vergangenheit konfrontiert. Einem sanften Aufglühen ihrer gemeinsamen Geschichte im "Nachsommer der Revolution" stehen abermals Hindernisse, Verwirrungen und offene Fragen über bislang unbekannte Bedürfnisse entgegen. Sie stören jene Lebensruhe, die Hannes mittlerweile so sehr schätzt.
Auf pointierte, unterhaltsame Weise erzählt Christian Schacherreiter Lebensgeschichten, die geprägt sind von der Suche nach Sinnstiftung und Zugehörigkeit.
Autoren/Hrsg.
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1 Weiche dieser Begegnung aus! Das war mein erster Gedanke, als ich sie wiedererkannte. Noch war die Gelegenheit günstig, denn Dora hatte mich nicht gesehen. Sie wartete auf den Linienbus. Ich kam soeben aus der Bäckerei, wo ich Salzgebäck für den Abend gekauft hatte. Ich stand im Türrahmen, ich hätte umkehren können, hätte mich unter dem Vorwand, auf einen Einkauf vergessen zu haben, an die Verkäuferin wenden und mit ihr plaudern können. Ich bin Stammkunde seit mehr als zwanzig Jahren. In der Zwischenzeit wäre der Bus gekommen, Dora wäre eingestiegen, und ich wäre wieder frei gewesen vom Vergangenheitsgespenst, das ich gerne auf dem Dachboden verstauben lasse oder im Keller vor dem Tageslicht schütze. Ich brauche keine Vergangenheit, die Gegenwart genügt mir, und die Zukunft überlasse ich den Fortschrittsfuchtlern. Eine merkwürdige Haltung für einen Historiker? Nein. Ich spreche nicht von den Gegenständen der Wissen schaft, ich spreche vom Privaten. Ich bin Experte für regionale Kulturgeschichte, aber nicht für meine Bio grafie. Niemand ist Experte für seine eigene Biografie. Weil ich nicht meinem ersten Schreckgedanken folgte, sondern einer stärkeren, möglicherweise verlockenderen Kraft, überquerte ich trotz des starken Frühabendverkehrs die Straße und sagte: „Hallo, Dora“. Hallo ist eine sehr dumme Grußformel. Trotzdem verwende ich sie immer öfter. Hallo geht mir mit ärgerlicher Selbstverständlichkeit über die Lippen, während ich mich für ein Grüß dich oder Servus sehr bewusst entscheiden muss. Meiner Erinnerung zufolge antwortete Dora auf mein „Hallo“ auch mit „Hallo“, beziehungsweise mit „Ja, hallo!“, auf diese Weise Überraschung signalisierend. Ihre Überraschung war für mich keine Überraschung, denn wir hatten uns seit dem 1. Mai 1977, 23.23 Uhr, nicht mehr gesehen, also seit dreiunddreißig Jahren, fünfundzwanzig Tagen, siebzehn Stunden und dreiundfünfzig Minuten. Trotz dieser langen Zeitspanne, in der sich Menschen naturgemäß verändern, nüchtern gesagt: in der sie altern, hatte ich Dora sofort wiedererkannt. Ihr Gesicht war nicht das übliche Gesicht einer Vierundfünfzigjährigen, eher das einer Fünfundvierzigjährigen – biologischer Ziffernsturz sozusagen – und es war schön. Als wir damals, am 1. Mai 1977, im Streit auseinandergegangen waren, war Dora mit ihrem schönen Gesicht einundzwanzig Jahre jung gewesen. Verzichten will ich jetzt auf Betrachtungen darüber, dass ein an sich schönes, also mehr oder weniger zeitlos schönes Gesicht im Alter von einundzwanzig Jahren eine andere Art Schönheit zeigt als im Alter von vierundfünfzig Jahren, und zwar unter besonderer Berücksichtigung des Umstands, dass – wie in Doras Fall – dieses vierundfünfzigjährige Gesicht eher einem fünfundvierzigjährigen ähnelt. Verlieren wir uns nicht in Details. Es geht um Varianten des Schönen. Dora und ich wechselten einige Sätze, wie sie üblicherweise von Menschen gesprochen werden, die einander sehr lange nicht gesehen und kaum etwas voneinander erfahren haben: Dass man überrascht sei, einander sofort erkannt zu haben, obwohl man doch so lange … Dass es gut und gern dreißig Jahre her sei, als man … Ob das denn die Stadt sei, wo man jetzt lebe … Und überhaupt: Was man denn so anstelle mit seinem Leben … „Wie geht es dir?“ Diese banale Frage nach dem Allgemeinbefinden ist, wenn die letzte Begegnung so weit zurückliegt, monströs. Eine Bushaltestelle an einer stark frequentierten Kreuzung ist nicht der geeignete Ort, um vom eigenen Leben in drei Jahrzehnten zu erzählen, und so war meine Frage, ob Dora Zeit und Lust hätte, in einem Café weiterzureden, naheliegend. Dora bedauerte – und ihr Bedauern war keine höfliche Ausrede –, sie habe heute noch eine berufliche Verpflichtung, sei schon etwas in Eile, aber sie würde gerne ohne Zeitdruck und in ruhigerem Ambiente mit mir reden, sie wisse ja fast gar nichts von meinem Leben. Der Linienbus näherte sich. Wir tauschten unsere Handynummern aus und nahmen Abschied, mit flüchtig angedeuteten Küssen auf beide Wangen. Der Bus war da. Dora stieg ein. Wir winkten einander zu. Ich ging nachhause, füllte mein Salzgebäck mit Schinken, Frischkäse und Tomaten und öffnete eine Flasche Weißwein. Ach, Dora … Am 1. Mai des Jahres 1977 saß ich in Salzburg in meiner gemieteten Garçonnière und schrieb an meiner Doktorarbeit über die katholische Soziallehre. Ich kam gut voran, ich war zufrieden. Das Thema hatte ich nicht gewählt, weil ich der katholischen Kirche besonders nahe gestanden wäre oder starke religiöse Gefühle verspürt hätte. Meinem Selbstverständnis zufolge gehörte ich damals immer noch zur politischen Linken, was bei Studierenden der Geisteswissenschaften in den Siebzigern eher die Regel als die Ausnahme war. Tatsächlich war es meine linke Orientierung, die mein Inter esse an der katholischen Soziallehre des 19. Jahrhunderts geweckt hatte, denn ich hatte zu meiner Überraschung bemerkt, dass ihre Vertreter antikapitalistische Thesen und Analysen erstellt hatten und sich gelegentlich sogar explizit auf Marx und Engels beriefen, wenn sie die sozialen Auswirkungen des Kapita lismus kritisierten. Armut und Elend des Proletariats, die Überlebensprobleme des Kleingewerbes und des Handwerks im Konkurrenzkampf gegen die Großindustrie wurden von den katholischen Sozialtheoretikern keineswegs beschönigt oder geleugnet oder – was zu befürchten wäre – Gottes unerforschlichem Ratschluss angelastet. In ihrer radikalen Kritik des Kapitalismus kamen sie Marx und Engels erstaunlich nahe. Dennoch gab es einen entscheidenden Unter schied. Während sich Marx’ Kritik der Ökonomie geschichtsphilosophisch aus dem historischen Mate rialismus nährte, griff die katholische Soziallehre auf die göttliche Offenbarung zurück, insbesondere auf die jesuanische Botschaft der Nächstenliebe. Der Mensch ist vom Schöpfer gewollt, jeder einzelne, also darf er nicht ins Elend geraten. Das Leid kann nach katholischer Welterklärung dem Menschen auf Erden zwar nie ganz erspart bleiben, aber strukturelles Elend sollte nicht damit gerechtfertigt werden, dass Adam und Eva aus dem Paradies hinausgeworfen worden sind. Anders als Marx sahen die antikapitalistischen Katho liken die Lösung des sozialen Übels nicht in proletarischer Revolution und klassenloser Gesellschaft, sondern in Nächsten liebe und Ständeordnung. Naja, und so weiter … Mit solchen Dingen beschäftigte ich mich im Jahr 1977 und insbesondere auch an jenem 1. Mai, an dem mir Dora mitteilte, dass sie ihre Affäre mit mir beende, weil sie sich endgültig für Konrad entschieden habe. Mein Tag hatte schlecht begonnen und schlechter sollte er zu Ende gehen. Dora hatte die Nacht bei mir verbracht. Ihren Konrad hatte sie angelogen. Sie besuche ihre Tante am Wolfgangsee und komme erst am Morgen des 1. Mai zurück. Bei der Mai-Demonstration werde sie ihn treffen. Die Mai-Demonstration der Salzburger Kommunisten und ihre welthistorische Bedeutung! Das war ihr erster und einziger Gedanke nach dem Aufwachen. Ich hingegen wäre in Laune gewesen, noch einmal mit ihr zu schlafen, auf diese langsame, sanfte, morgenmüde Weise. „Komm doch mit, Hannes, bitte! Tu es für mich.“ „Ich kann doch nicht zu einer kommunistischen Mai-Demonstration gehen, um einer Frau meine Liebe zu beweisen. Die KPÖ ist eine moskauhörige Sekte. Meine Vorstellungen von Sozialismus haben mit denen so viel gemeinsam wie Marx mit Stalin.“ „Über die politische Rolle der KP kann man bei aller Kritik auch anderer Meinung sein. Im historischen Prozess ist die Sowjetunion …“ „Bitte, Dora, bitte! Ich will nicht mit dir im Bett die historische Rolle der Sowjetunion diskutieren. Aber wenn dir dieser stalinistische Pensionistenaufmarsch so wichtig ist, dann reih dich meinetwegen ein. Dora hört die Signale! Ich höre sie leider nicht, ich bleibe daheim und arbeite.“ „Ja, eben. Was hätten wir denn davon, wenn ich nicht zur Demo ginge. Du willst arbeiten. Da setzt du mich sowieso immer vor die Tür.“ „Ich habe dir das erklärt. Ich kann nicht konzentriert arbeiten, wenn jemand anderer im Zimmer herumhängt und die Internationale summt.“ „He, heute ist der 1. Mai, der Kampftag der Arbeiterklasse. Als Linker kann man da vielleicht Relevanteres tun als die reaktionären Bücher katholischer Faschisten lesen.“ Schon damals ärgerte es mich, dieses Agitprop-Vokabular: fortschrittlich, reaktionär, faschistisch, anti-kapitalistisch, bürgerlich. Und wie unangenehm mich Doras Gesichtsausdruck berührte, wenn sie dieses Vokabular mit ihrem Wir-sind-das-Bauvolk-der-kommenden-Welt-Habitus hinausposaunte. Ich wurde deutlicher. Ich wurde lauter. „Weißt du, was ich glaube, Dora, es geht dir nicht um Politik. Du möchtest, dass ich zur Demo gehe, weil auch Konrad dort ist. Das gibt dir doch sicher ein ziemlich geiles Gefühl, wenn der offizielle Freund und der heimliche Liebhaber gleichzeitig um dich...