E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Schaad Giacometti hinkt
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-03855-181-2
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Fünf Wegstrecken, drei Zwischenhalte. Erzählungen
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-03855-181-2
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Giacometti? Das ist doch der mit den baumlangen Elendsgestalten, dem die Kunstwelt weltweit zu Füssen liegt? Bloss nicht der Student Luis K., der seine liebe Mühe damit hat. Der Sohn einer alleinstehenden Mutter, die diesen Alberto G. anhimmelt, macht sich seinen eigenen Reim auf dieses Werk und seine ungezählten Publikationen. Er gerät dabei auf eine abenteuerliche Fährte, die ihn bis nach Paris lotst; schliesslich mischt er mit einer kühnen These über G. die einheimische Kunstwelt gehörig auf. Auch die andern Heldinnen dieses Buches sind mit einem unkonventionellen Lebensentwurf zugange, für den sie kein soziales Wagnis scheuen. Helen G., Nationalrätin der Grünen, durchmisst die halbe Stadt, um die verhassten Militärschuhe ihres Mannes loszuwerden. Laura M., die gewitzte Anwältin, die nach einer gescheiterten Passion den Rollator zum Lebenspartner ernennt, macht mit einer Entführung aus einem Alters und Pflegeheim Furore. Und der plötzliche Abgang der beliebten Dozentin Claire H. setzt eine Hausgemeinschaft in Aufruhr. Rasant und packend erzählt Isolde Schaad von den modernen Gangarten in der grossen Kleinstadt und würzt sie mit Betrachtungen aus der Fussgängerpassage.
Autoren/Hrsg.
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Beiläufig, dann hin und weg
Ihr kennt nicht die Stunde, nicht den Tag. Der Bibelvers schlittert aus der Kindheitsschublade, wenn ein Tod mich überrascht. In diesem Fall war er ein Abgang, so schrecklich wie das Wort. Nicht dass er mich an einen Fötus erinnert hätte, der in der Kloschüssel sein Ende fand, ein grausliches, jedoch bekanntes Bild, während dieser Abgang zu keinem Bild fand und mir der kalte Schweiss ausbrach, als ich davon erfuhr. Die Umstände nannten die anderen «verblüffend» oder «ungewöhnlich» – was für eine Verharmlosung, ich habe sie noch nicht schlucken können, geschweige denn verdauen. Obschon es jetzt genau achtundzwanzig Tage her ist, seit ein Sarg aus dem Hause getragen wurde. Und wir eine Woche später an einem Gemeinschaftsgrab standen, peinlich berührt von den Floskeln, die darauf tropften, dann heftig niedergingen und prasselten, als sei eine Bestattung ein von Meteo Schweiz ausgelöstes Gewitter. Haben wir denn ein Wir? Seit diesem Todestag gibt es, der Not gehorchend, eine Hausgemeinschaft, die sich regelmässig in der Wohnung von Claire trifft, Claire Honold, um die es geht. Es wäre in ihrem Sinne, schlug jemand vor, und jemand ergänzte: im Gegensatz zu einer Abdankung, die sie selber wohl dankend abgelehnt hätte. Aber irgendwie muss der Mensch ja in die Erde zurück, aus der er kommt. Die Hausbewohner, das darf ich wohl verallgemeinern, sind dankbar, dass Sonnenmoser, unser Hauswart, die notwendigen Massnahmen traf und versprach, die anfallenden Formalitäten zu erledigen. Auch willigte er ein, mit der Meldung des Todesfalls an die Hausverwaltung der zuständigen Immobilienfirma zuzuwarten, es schien auch ihm ein Bedürfnis, unserer Hausgenossin zu gedenken, und zwar dort, wo sie gelebt hatte. Wir treffen uns also noch in der Aura, die Claire ausstrahlte, um herauszufinden, was geschehen ist, und was vorher geschah in einem Leben, von dem wir allem Anschein nach keine Ahnung haben. Wir knabbern Salznüsschen und fahnden nach dem Grund, warum eine lebensfrohe, lebenstüchtige, emsig Sudoku-Lösende und dem Backgammon-Brett frönende, kurzum eine mit allen Fasern dem prallen Diesseits zugewandte Endsiebzigerin plötzlich Schluss macht. Im kommenden Juni wäre sie achtzig geworden, und ich hatte mir schon über eine Geburtstagsparty Gedanken gemacht. Das Fläschchen, das war der Angelpunkt. Wir standen im Treppenhaus und nickten uns zu. Er, Sonnenmoser auf dem Absatz unter mir, bündelte Zeitungen, während ich mit zwei vollen Tragtaschen nach oben schoss, weil ich fürchtete, der Mann würde ausposaunen, was seit gestern in unserem Haus umging: der Rumor. Ein Rumor ist gravierender als ein Gerücht, unbedingter als jede Vermutung. Ein Rumor hat die Möglichkeitsform getilgt; er weiss schon, wie es war. Gestern nämlich hat Palowitsch den Verdacht geäussert, dass Claires Tod unter Umständen auf Fremdeinwirkung zurückzuführen sei. Obschon Sonnenmoser, der ehemalige Anwalt, ordnungsgemäss die Polizei orientiert und den diensttuenden Notfallarzt hat kommen lassen, ist bisher kein Verdacht gefallen, es könnte etwas faul sein an diesem plötzlichen Hinschied der geschätzten Hausgenossin. Erst jetzt bricht Alarm aus, es ist, als sei eine Landmine geplatzt, ich bin vom Stuhl geschnellt, Norbert verzog das Gesicht, und Ingrid zeigte mit Fingern auf ihn: Palowitsch, Sie sind eine Kassandra. Plötzlich avancierte dieser Zeitgenosse undefinierbaren Alters, der uns bisher wie ein Faktotum vorgekommen war – als einer, den die Weltgeschichte vorübergehend bei uns parkiert und dann vergessen hat –, zum Ankläger gegen uns. Der Mann ist ein vom KGB, dem berüchtigten sowjetischen Geheimdienst, drangsalierter Tscheche, der nach dem gescheiterten Prager Frühling bei uns gelandet ist und sich mit Gelegenheitsjobs durchbringt, obschon er in seiner Heimat ein gesuchter Diplomingenieur war und mehrere Sprachen spricht. Er habe jede Illusion über die wahren Absichten der westlichen Technokratie verloren, liess er einmal fallen, in einem dieser angekauten Gespräche, die abrupt vor der Wohnungstür enden. Der erfahrene Mann ist nicht zu unterschätzen, das wissen wir. Was fällt dir ein, Palowitsch, wie kommst du darauf? Sogar Sonnenmoser, der mit ihm auf Du und Du ist, scheint verärgert über die unerwartet eintreffende Komplikation, und Rachel äussert verdrossen: Herr Palowitsch, wie können Sie bloss so unverantwortlich daherreden, jetzt, da doch alles vorbei ist. Nichts ist vorbei, moine Dame, röin gar niichts. (Er platzierte die Dehnungen des tschechischen Akzents geniesserisch.) Bevor wir den Inhalt des Fläschchens kennen, das auf dem Beistelltisch gefunden worden ist. Von wem? Von Norbert, the Nerd, wie ich ihn heimlich nenne. Was habe der Herr Remscheid mit diesem Fläschchen angestellt?, fragt der Tscheche in die Runde. Das habe der diensttuende Arzt mitgenommen. Norbert klingt dumpf. Das Fläschchen, möine Damen, möine Herren, muss schleinigst in die Gerichtsmedizin. Der Tscheche ist furchteinflössend und Ingrid empört. Hier hört der Spass auf, Herr Palowitsch, die Sitzung ist beendet. Doch alle bleiben hocken und beaugapfeln den verstörten Norbert. Er scheint sich offenbar schuldig zu fühlen, denn Palowitsch hat seinem Verdacht gleich noch einen Vorwurf hinterhergeschickt: Der Herr Remscheid hätte sofort die Mordkommission verständigen sollen, damit sie die Wohnung versiegle. Mordkommission? Was für ein Quatsch. Dieser Mann leidet an Paranoia, da sind wir uns einig. Die Polizei war da und hat ihre Pflicht getan, sodass wir Claire beerdigen konnten. Die Polizei heisst jetzt Sicherheitsbehörde und hat ihr bedrohliches Image verloren. Bis an jenem Mittwoch in vier Monaten, wenn eine Schar bewaffneter Beamter vor unserer Haustüre stehen wird. Doch ich greife vor. Jede Woche jemand, den man gekannt hat, daran gewöhnt man sich, aber das, das ist … Der angebissene Satz drang von unten herauf und blieb in den frischpolierten Eisenstäben des Geländers stecken. Die Fortsetzung ist unverständlich, ich bekomme lediglich mit, dass Sonnenmoser über den Todesanzeigen brütet, bevor er die Zeitungen schnürt. Dann wird es unten wieder lauter: Da klinge so vieles falsch, all das Sentimentale, Kitschige, manchmal auch Neckische, das die Verblichenen beschäme, statt sie zu ehren, und die Forderungen, die daraus folgten, mit Angabe des Spendenkontos, die gehörten verboten, denn das grenze an Nötigung und verbreite bloss unangebrachte Schuldgefühle. Unser Hauswart erwartet keine Anwort von mir, er führt ein Selbstgespräch. Ich beeile mich, nach oben zu kommen, während der Treppenhausmonolog ins Philosophische pendelt: Das Leben ist die Krankheit zum Tode, haben Sie das gewusst, Frau Brüderlin? Ein Schlurfen, dann fällt die Türe ins Schloss. Ich bleibe stehen. Es berührt mich seltsam, dass er mich beim Nachnamen nennt, für gewöhnlich heisse ich Irma, das ist die handfeste Schrumpfung meines Taufnamens Irmelda, und weil kein Mensch in unsern Breitengraden Irmelda heisst, bin ich zufrieden mit Irma, das ist das unbeschriebene Blatt vom fünften Stock rechts. Dass ich einmal andere Ambitionen hatte, als Webdesignerin einer Import / Export-Firma zu werden, hat meine Ellbogen nicht gespitzt. Ich bin nicht tüchtig, für andere erschreckend genügsam und habe beruflich keinen Ehrgeiz. Jedenfalls nicht in dieser Branche, wenn schon, dann hätte ich ganz neu anfangen müssen, die Matura nachholen und Tierärztin studieren wollen. Claire Honold, dritter Stock links, war das Zentrum des Hausfriedens, das muss ja jetzt ins Präteritum, dachte ich, seltsam, Claire Honold ins Präteritum zu setzen, gegenwärtiger als Claire Honold konnte man gar nicht sein. Seit das Unbegreifliche geschah, sind meine Sinne getrübt, ich halte mich an Floskeln: Wir pflegen einen guten Umgang, auch eine dieser lavierenden Redensarten, Tode verbinden sich mit Redensarten, wahrscheinlich wegen der Begriffsstutzigkeit, die unsere Kultur dem Definitiven entgegenbringt. Anderswo ist das anders, doch bei uns ist der Tod nach wie vor die grösste Beleidigung für die am ewigen Leben herumwerkelnden Life Sciences, vorab die Humangenetik. Ich sitze den ganzen Abend steif auf meinem Stuhl und werde die Vorstellung nicht los, dass jemand kam, um ihr den letzten Wunsch zu erfüllen. War es wirklich ein Wunsch? Wenn nicht, ist dieser Jemand ein Mörder und hat Zutritt zu unserem Haus. Es fällt mir nicht auf, dass ich an einen Mann denke, obschon doch der Rumor die Frauen als Giftmischerinnen will. Das nächste Treffen verläuft behutsamer, wir sind jetzt auf der Hut. Palowitsch glänzt durch Abwesenheit. Wir seien ihn ein für alle Mal los, meint eine immer noch verdrossene Ingrid. Sie hat ihn zur Rede gestellt, und die Antwort war unmissverständlich, er hält uns für ein naives Kaffeekränzchen. Es sei ihm bisher nicht bewusst gewesen, wie konfliktscheu die Schweizer seien, sie hätten eben keine Ahnung vom Leben draussen. Wir sehen uns an und nicken ohne Schuldbewusstsein. Und bewegen uns auf leisen Sohlen in der Wohnung, in der unsere Nachbarin über vierzig Jahre zu Hause gewesen ist. Sonnenmoser hat sich auf den Eames Chair gepflanzt, was mir pietätlos vorkommt. Dort nämlich hat Norbert sie gefunden. Norbert, the Nerd. Dieser N. Remscheid, siehe Briefkastenschild, ist schon geraume Zeit mein Etagennachbar, aber ausser einem fadenscheinigen Hallo beim Kommen und Gehen verbindet uns nichts. Als sei sie eingenickt, ihr Kopf bloss ein wenig zur Seite geneigt, die Augen auf Halbmast, meint er, unpassend salopp für die prekäre Situation, denke ich. Und nun? Sonnenmoser erhebt sich, als hätte er den Fauxpas...