E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Schaad Das Schweigen der Agenda
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-03855-267-3
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Geschichten vom Innehalten und Aufhören
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-03855-267-3
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Auch eine Jugendrevolte bleibt nicht ewig jung, die Revolutionärinnen beginnen die Haare zu färben, dann hören sie damit wieder auf und beugen sich über ihre Patientenverfügung. Sie sitzen am Fenster und schauen von oben auf das Leben, das nicht mehr ihres ist. Es findet in weissen Turnschuhen statt, mit blossen Knöcheln in überlangen Mänteln, Jogging-Dresses und Strickmützen.
Seit Jahrzehnten wirft Isolde Schaad ihr Argusauge auf die akuten gesellschaftlichen Vorgänge, ihre eigene Generation eingeschlossen. Ein satirisches Auge, wenn die Bürogemeinschaft, die über vollen Aschenbechern den Journalismus revolutioniert, dann in die Falle der eigenen Fantasie tappt. In kaltem Licht erscheint der frühe Tod der Jahrhundertkünstlerin Sophie Taeuber-Arp, wenn ein lokales MeToo-Komitee ihn als Kriminalfall aufrollt. Ob nun eine ältere Dame am Grab der besten Freundin um die ausbleibenden Tränen bittet oder überm Ozean ein berühmter Grossschriftsteller den ersten Tag nach dem Schreiben begeht, immer erfrischt das Erzählen von Isolde Schaad mit maliziösem Humor und menschenfreundlicher Ironie. Und dazwischen funkt als Warnung vor der ausbleibenden Genderkorrektheit die allerneueste Auflage des Grossen Duden.
Isolde Schaad, geboren 1944 in Schaffhausen, lebt seit 1967 in Zürich und gehört zu den namhaften Schweizer Autorinnen der 68er-Generation. Ihre Spezialität ist die kritische Gesellschaftsbetrachtung, die sie mit Scharfsinn, Humor und hohem sprachlichen Können ausführt. Ihre mehrfach preisgekrönten Bücher erscheinen seit 1984 im Limmat Verlag, zuletzt «Giacometti hinkt. Fünf Wegstrecken, drei Zwischenhalte. Erzählungen». Im Frühjahr 2014 erhielt sie für ihr literarisches und publizistisches Schaffen die Goldene Ehrenmedaille des Kantons Zürich.
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Leitmotiv
Aufhören! Dieser Zeigefinger auf den Jahrgang, dieser Imperativ des Kalenders, der uns als ausgemustert anzeigt – was tun wir, wenn die Endlichkeit an die Türe klopft? Ergreifen wir die Flucht nach vorn, eine, wie es heute heißt, proaktive Maßnahme, um sich gegen Enttäuschung und Resignation zu schützen? Aufhören, der schwerste Anfang. Alte Frauen schauen zum Fenster hinaus, die Umwelt im Blickfeld. Sie möchten den Anschluss an das Leben nicht verpassen, denn das Leben spielt sich jetzt außerhalb ihrer Wohnung ab, sie stellen sich vor, von oben, aus der Vogelschau den Überblick zu haben, aber das Leben, das sie von oben erblicken, ist nicht mehr ihres, es findet in weißen Turnschuhen statt, mit bloßen Knöcheln in überlangen Mänteln, Joggingdressen und Strickmützen. Die Eleganz, die ihre Generation gepflegt hat, ist verschwunden, Eleganz ist ein Fremdwort geworden. Alte Frauen werden übersehen, es sei denn, sie sind Künstlerinnen, die oft erst im Alter eine blendende Karriere hinlegen, Stichwort Louise Bourgeois. Als Autorinnen sind sie hingegen bloß das unscheinbare Pendant zu den überaus präsenten alten weißen Herren, die von jungen Genderbewegten, von farbigen Zeitgenossinnen abgetischt werden wollen. Alte weiße Frauen? Ein Seitenwagen der MeToo-Bewegung, die einen neuen Sexismus entfacht? Das könnte noch kommen. Bald werden alte weiße Frauen eine identitäre Minderheit sein, die dann jemand für schützenswert erklärt. Dann kommen sie in den Zoo der Genderkorrektheit. Das ist nicht der Himmel, oh nein. Aufhören, der schwerste Anfang. Aufhören, die Haare zu färben. Aufhören, High Heels zu tragen. Aufhören, wütende Pamphlete in die Maschine zu hämmern, oder Leserbriefe zu verfassen, die dann doch im Papierkorb landen. Aufhören, die Kalorien zu zählen, aufhören, abnehmen zu wollen, abnehmen als der seit Jahrzehnten diktierte verinnerlichte Weiblichkeitsreflex. Aufhören, von alpinen Landschaften zu träumen, die man in Schneeschuhen überquert. Aufhören, Reisen zu planen, die seit Jahren auf der Pendenzenliste stehen, das Gebirge, den Gipfel, das Land, die Stadt der Sehnsucht zu sehen, bevor es zu spät ist. Es ist längst zu spät. Überhaupt aufhören mit den unstillbaren Wünschen, etwa nach einem unsichtbaren, lautlosen Heinzelmann, der alles Unangenehme stillschweigend erledigt, die administrativen Unannehmlichkeiten, die Bürde des Haushalts. Ein Heinzelmann, der mit starken Armen und großem Herzen einfach und arglos ist. Aufhören mit Widerworten, die sich impulsiv regen und nach außen wollen – anlässlich der haarsträubenden Ansichten, die etwa Gäste äußern, die der Nachbar, sogar die beste Freundin von sich gibt. Heißt das auch aufhören, sich zu wehren? Gegen Missverstehen, gegen falsche Annahmen, gegen Verleumdungen, gegen abstruse Behauptungen? Ist dann das Aufhören die kampflose Preisgabe einer Lebenshaltung, die einen rebellischen Charakter mit kritischem Intellekt zusammenballt und bis dato ankert? Wäre dann Aufhören ein Akt der Feigheit, Ingeborg Bachmann würde sagen «die Preisgabe der Tapferkeit vor dem Freund». In ihrem Gedicht Alle Tage ist das Ende der Zivilisation angesagt: «Das Unerhörte ist alltäglich geworden.» Weiterdenken ist gefährlich, weiterdenken führt zur letzten Konsequenz. Die schieben wir in der Vorstellung immer hinaus. Nehmen wir uns das Handlichere vor. Die Quizfragen, die die Tage der Rentnerin begleiten. Die Kreuzworträtsel-Beschäftigungen, die uns die letzten Fragen vom Leib halten. Wie lautet der Schlusssatz von Thomas Manns Zauberberg? Wie heißt die Hauptstadt von Kolumbien? Wie hieß der Mann, der den Nordpol entdeckte? Was steht am Ende von Elfriede Jelineks Kinder der Toten, ihrem ungelesenen Monumentalroman? Von Beethoven, dessen Jubeljahr wegen Corona so ziemlich in die Hosen ging, heißt es, dass er seine Kompositionen nicht abzuschließen wusste; am wenigsten gelang ihm das bei seinen Klavierkonzerten, die sich ins Finale stürzen, dort in ein brausendes Crescendo steigern bis zum erwartbaren Schlussakkord, der noch und noch einen draufgibt; das Hämmern hört nicht auf. Der Mann soll tagelang um seinen geliehenen Flügel herumgestampft, gewütet haben, weil ihm kein plausibler Schluss einfiel. Diese zur schnöden Anekdote geronnene Annahme ist zu bezweifeln. Weiter. Wie lautet die letzte Zeile von Goethes Wahlverwandtschaften, einem Schlüsselwerk der Moderne? Wie schließt Marcel Proust seine nicht enden wollende Suche nach der verlorenen Zeit ab? Hat er sie überhaupt abgeschlossen? Robert Musils unvergänglicher Roman Der Mann ohne Eigenschaften hat nie einen Schluss gefunden, er gilt als unvollendet, obschon kein Leser, keine Leserin einen Schluss vermisst. Das Ende ist schwieriger als der Anfang, das ist keine sklerotische Altersweisheit. Werden wir persönlich: Wann haben Sie aufgehört, Französisch zu lesen oder sich ein Buch auf Spanisch vorzunehmen? Warum quittierten Sie den Konversationskurs in Englisch? War’s die Aussichtslosigkeit, vorwärtszukommen, oder der Umstand, dass die Lektüre mit Wörterbuch wesentlich an Reiz verliert? Warum haben Sie aufgehört, ein Instrument zu spielen? Ist es die Frustration über das Unvermögen oder die Erkenntnis, dass Aufwand und Ertrag in keinem vernünftigen Verhältnis stehen? Wann haben Sie sich entschlossen, den Führerschein abzugeben? War der Anlass die Vernunft oder der Druck der Öffentlichkeit? Haben Sie aus eigenem Antrieb mit einer Tätigkeit, mit einem Ansinnen, mit einem Verhalten aufgehört oder wurde Ihnen nahegelegt, damit aufzuhören? Diese Erwägungen liefen mir durchs Vorderhirn, als ich zur Busstation tappte, mein Knie spürte, diesmal war’s das linke, das nie durch einen Sturz oder eine Verletzung tangiert gewesen war, es muss Arthrose sein, was es zwackt und zwickt, nahm ich an, um das Wort Schmerz zu vermeiden. Ich stand also an der Bushaltestelle mit diesem Klumpen im Magen, ein schwer zu beschreibendes Unbehagen, das auf die Seele drückt und den Atem flach hält, diese Ganzkörperempfindung des Nichtmehr, des Allesvorbei, die tiefer geht als die manchmal ganz angenehme Nostalgie. Dann hielt mein Blick an der Litfaßsäule nebenan, die ich sonst nie betrachte, doch jetzt fiel mir unter kunterbuntem Popgeschmeiß der ahnungsvolle weißhaarige Kopf mit den verwitterten Zügen auf, ein grantiger Kerl, aber ein Kerl, der eine Gitarre in der Linken hielt und sich als John Mayall herausstellte. So ein alter Sack, dachte ich, was will der hier und heute? Ich war beleidigt, dass dieser ausgelaugte Greis sich erlaubte, mein Jugendidol gleichen Namens zu beschatten, ja, regelrecht zu beschämen. Ich war hingerissen gewesen von der Platte Turning Point, die in mir ausgelöst hatte, was gewöhnlich das ganz große Gefühl heißt, das sonst nur für den berühmten Coup de foudre reserviert ist. Auch der nicht enden wollende Mick Jagger gefiel mir nicht. Wenn er in seiner provokant lasziven Ledrigkeit vor den Teenies im Hallenstadion herumstakte. Ich rümpfte die Nase, als eine Kollegin fragte: Kommst du mit? Der alte Knabe ist immer noch auf Achse. Nein. Auf keinen Fall. Und ich ging in mich, um nach den Gründen zu fahnden, weshalb diese Oldies, die mich früher begeistert haben, heutzutage anwidern, besonders wenn sie sich in ihrer Erfolgsgeilheit vor der Jugend produzieren. Und die alten schwarzen Herren? Die störten mich nicht, im Gegenteil, ich empfand den Auftritt von schwarzen Jazzstars jeden Alters als angemessen und würdig, Oscar Peterson etwa oder Erroll Garner, B. B. King oder McCoy Tyner, die durften in alle Ewigkeit auftreten, nicht zu reden von den schwarzen Sängerinnen von Soul und Blues. Hatte das damit zu tun, dass die schwarzen Jazzmusiker für helle Augen von vornherein neutraler wirken, angezogen und alterslos, während Nacktheit auf der Bühne ein weißes Phänomen bleibt? Außerdem benehmen sich die alten schwarzen Herren des Jazz selten anzüglich dem Publikum gegenüber. Dann trat ich zurück und fragte mich, weshalb alte weiße Musiker keinen Heranschmeiß-Blues mehr offerieren sollen, der über Jahrzehnte Millionen von Fans beglückt hat. Sie können nicht aufhören. Das irritiert mich. Sie wollen immer noch das Eine, und das Eine ist das Alte. Sie schmeißen sich an die Jugend heran, in himmelhoher Selbstüberschätzung und pochen auf ihren offenbar auf ewig geltenden Kredit. Sprich Sex-Appeal. Ein schwerwiegenderer Fall war Bob Dylan. Hatte sich das Nobelpreiskomitee in der Kategorie getäuscht oder war das eine schamlose Anbiederung bei der Popularität? Ich konnte nicht fassen, dass das, was ich bisher für eine Festung der Integrität gehalten hatte,...