E-Book, Deutsch, Band 006, 256 Seiten
Reihe: Französische Bibliothek
Ein dokumentarischer Roman aus dem Jahr 1818
E-Book, Deutsch, Band 006, 256 Seiten
Reihe: Französische Bibliothek
ISBN: 978-3-88221-164-1
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Am 2. Juli 1816 zerbrach die auf Grund gelaufene Fregatte Medusa vor der Küste Afrikas. Da nicht genügend Rettungsboote an Bord waren, wurde ein Floß gezimmert, auf dem nicht weniger als 150 Personen untergebracht wurden. Ohne Skrupel entfernten sich die Rettungsboote und ließen das weitgehend manövrierunfähige Gefährt zurück. Als das Floß durch Zufall nach zwölf Tagen entdeckt wurde, befanden sich nur noch fünfzehn Personen am Leben.
Der vorliegende Romanbericht zweier Überlebender beschreibt eindrucksvoll den Kampf auf hoher See sowohl gegen den Hunger als auch gegen die Leidensgenossen. Berühmt wurde der Text nicht nur durch die erstaunlich nüchterne Schilderung von Meuterei und Kannibalismus, sondern auch durch die politische Bedeutung, da nicht wenige Zeitgenossen in diesem Schiffbruch ein Bild des Staatsschiffs sahen. Die Medusa wurde sofort als allégorie réelle auf die Zustände im nach-revolutionären Frankreich bezogen.
Der Bericht lieferte aber auch den Impuls für eine der imposantesten Bildfindungen der Moderne. Gaben die beiden Autoren den politischen Misständen durch ihre Beschreibung des Schiffbruchs eine Stimme, so gab der junge Théodore Géricault ihm mit seinem gleichnamigen Monumentalgemälde ein Gesicht.
In seinem Essay geht Jörg Trempler auf die Beziehung zwischen Textquelle und Bildgestalt ein. Er kommt über die Rezeptionsgeschichte des Gemäldes auf aktuelle Fragen zur Bildpolitik zu sprechen und zieht eine Parallele zur heutigen Livebildberichterstattung.
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Wenn wir uns jetzt diese schrecklichen Auftritte vorhalten, so kommen sie uns vor wie jene grausigen Träume, die uns zuweilen peinigen und sich beim Erwachen mit allen den verschiedenen Umständen wieder darstellen, die uns im Schlafe so sehr quälten. Alle diese Schrecknisse, denen wir so wundervoll entkommen sind, scheinen uns wie ein Punkt auf unserm Lebenspfad, oder wenn man will, wie die Anfälle eines hitzigen Fiebers, bei welchem sich Wahnsinn einstellt. Tausend Gegenstände treten vor die Seele des Kranken; wieder genesen ruft er sich zuweilen alle Erscheinungen zurück, die ihn in dem fieberhaften Zustande gequält, der seine Geisteskräfte so mächtig überspannte. In der Tat litten wir an einer Art Hirnfieber, das von einer gewaltsamen Überspannung des Besinnvermögens herrührte. Sobald der Tag wieder anbrach, waren wir weit ruhiger; nur die Dunkelheit erfüllte unsern abgestumpften Geist mit Verzweiflung. Wir haben wahrgenommen, daß das so natürliche Entsetzen, welches uns unsere schreckliche Lage einflößte, in der Nachtstille ungemein heftiger wurde: dann kam uns alles weit fürchterlicher vor. Nach diesen verschiedenen Gefechten waren wir erschöpft vor Müdigkeit, Hunger und Mangel an Schlaf; wir versuchten einige Augenblicke Ruhe zu genießen, bis der Tag wieder über diese Greuel aufging. Viele der Meuterer hatten sich ins Meer gestürzt; wir fanden, daß 60 bis 65 in der Nacht umgekommen waren; ein Viertel mochte sich wohl in der Verzweiflung ersäuft haben; uns fehlten nur zwei Mann und kein einziger Offizier. Die tiefste Niedergeschlagenheit war auf allen Gesichtern zu lesen; jeder, der nun wieder zu sich gekommen, mußte das Schauderhafte seiner Lage durchblicken; einige unter uns vergossen bittere Tränen über ihr hartes Los. Noch mußten wir ein neues Unglück erfahren; die Aufwiegler hatten unter dem Tumult zwei Fässer Wein und die beiden letzten Tonnen Süßwasser, die noch auf dem Floß waren, ins Meer geworfen.20 Sobald Herr Corréard inne wurde, daß man den Wein in die See werfen wollte und die Tonnen schon hinabgelassen wurden, setzte er sich geschwind auf eine, die er, obgleich von den Wellen unaufhörlich hin und her geschaukelt, doch nicht losließ. Sein Beispiel spornte andere an, welche des zweiten Stücks ebenfalls habhaft zu werden suchten und mehrere Stunden auf ihrem gefährlichen Posten blieben. Nach unsäglicher Mühe war es ihnen gelungen, diese beiden Fässer festzuhalten, die ihnen unaufhörlich an die Beine prellten und sie stark verletzten. Da sie aber nicht länger ausdauern konnten, wendeten sie sich an die, welche gemeinschaftlich mit mir alles aufboten, um Ordnung zu bewahren und das Floß zu erhalten. Sie wurden von anderen abgelöst; allein diese hatten auch bald ihre Kräfte erschöpft und mußten abtreten, um so mehr, als ihnen die Meuterer noch heftiger zusetzten als jenen; und so wurde die Tonne dem Meere preisgegeben. Zwei Fässer Wein hatten wir schon den Tag zuvor verloren; es blieb uns nur noch eins, und wir waren noch über 60 Mann; so mußten wir uns denn auf halbe Ration setzen. Mit Tagesanbruch wurde die See ruhiger. Sogleich besserten wir unsern Mast aus und taten unser Möglichstes, um nach der Küste zu steuern. Mochte es uns nur so vorkommen oder war dem wirklich so, genug wir glaubten sie zu entdecken und den glühenden Himmel der Wüste Sahara zu erkennen; in der Tat ist es sehr wahrscheinlich, daß sie uns ziemlich nahe war, denn die Winde hatten bisher heftig von der See her getrieben. In der Folge richteten wir die Segel immer abwechselnd nach den Winden, je nachdem, ob sie vom Meer oder vom Land her strichen, dergestalt, daß wir heut uns der Küste näherten und morgen uns wieder auf offener See befanden. Sobald unser Mast wieder aufgerichtet war, wurde Wein ausgeteilt; die unglücklichen Soldaten murrten und gaben uns die Schuld an ihren Leiden, die wir doch so gut wie sie ertragen mußten; sie fielen vor Müdigkeit um; seit 48 Stunden hatten wir nichts zu uns genommen und beständig mit dem stürmischen Meere gekämpft; wie sie konnten wir uns kaum auf den Beinen halten, und nur der Mut gab uns noch einige Tatkraft. Jetzt kamen wir auf den Einfall, uns womöglich Fische zu verschaffen; wir nahmen alle Tressen der Soldaten und machten daraus kleine Angelhaken; mit einem krumm gebogenen Bajonett hofften wir sogar Haifische zu fangen; alles umsonst; die Strömungen trieben die Haken unter das Floß, wo sie sich verfingen. Ein Haifisch biß ins Bajonett, machte sich aber wieder los. Wir gaben unser Vorhaben auf. Aber so elend unser Leben war, wünschten wir es doch hinzufristen; wir schaudern, indem wir das Mittel angeben, welches wir einschlugen; die Feder schlüpft uns aus der Hand, eine Todeskälte fährt uns durch alle Glieder, die Haare sträuben sich auf unserm Haupt. Leser! Wehret eurem Abscheu vor Menschen, die nur zu unglücklich sind, beklaget sie vielmehr und weiht ihrem grausamen Schicksal einige Tränen. Die Unglücklichen, welche der Tod in der grauenvollen Nacht verschont hatte, fielen über die Leichname her, mit denen das Floß bedeckt war, und teilten sie in Stücke, die von einigen auf der Stelle verschlungen wurden; viele andere, und darunter die meisten Offiziere, rührten sie nicht an. Da man sah, daß diese schreckliche Speise denen, welche sie genossen, etwas Kräfte gab, so kam man auf den Einfall, sie zu trocknen, um sie womöglich ein wenig schmackhafter zu machen. Diejenigen, die sich nicht überwinden konnten, sie zu genießen, nahmen etwas mehr Wein zu sich. Wir versuchten Bandeliere und Tornisterriemen zu essen; es gelang uns, ein paar Bissen hinunterzubringen. Einige aßen Leinenzeug, andere Hutleder, woran ein wenig Fett oder vielmehr Schmutz war, allein wir hielten es nicht lange aus; ein Matrose machte sich sogar an Ausleerungen, konnte sich aber nicht überwinden, sie zu essen. Der Tag war ruhig und schön; ein Strahl von Hoffnung gab uns einen Augenblick neues Leben; wir schmeichelten uns immer, bald die Boote oder sonst ein Schiff zu erblicken; wir flehten zum Ewigen und setzten unser Vertrauen auf ihn; die Hälfte unserer Leute war zum Entsetzen schwach; die Unglücklichen trugen alle Merkmale ihrer nahen Vernichtung an sich. Der Abend verstrich, und niemand kam uns zu Hilfe; die Dunkelheit dieser letzten Nacht vermehrte unsere Besorgnisse, aber der Wind war gelind und das Meer nicht so stürmisch; wir genossen einige Ruhe, ein Zustand, der aber noch schrecklicher war als das Wachen; grausame Träume ängstigten uns unaufhörlich; verzehrt von Hunger und Durst, weckte unser Wimmern oft den Unglücklichen, der sich neben uns befand; das Wasser ging uns bis ans Knie, folglich konnten wir nur stehend schlafen, und zwar dicht aneinandergepreßt, um eine unbewegliche Masse zu bilden. Endlich ging die vierte Sonne seit unserer Abfahrt über unser Mißgeschick auf und zeigte uns zehn oder zwölf von unsern Gefährten, die auf dem Floß ohne Leben dalagen. Dieser Anblick griff uns um so mehr an, als wir uns sagen mußten, daß auch wir in kurzem dem Tode in die Arme sinken würden; wir warfen die Leichname ins Meer und behielten nur einen, welcher nun denen zur Nahrung dienen sollte, die noch den Tag zuvor seine zitternden Hände gedrückt und ihm ewige Freundschaft geschworen hatten. Dieser Tag war schön, ein neuer Strahl von Hoffnung! Abends gegen vier Uhr schöpften wir etwas Trost aus einem ganz unerwarteten Zufall; eine Herde fliegender Fische kam unter das Floß und verfing sich größtenteils in den Lücken. Wir fielen darüber her und machten einen ziemlich ansehnlichen Fang; wir taten noch an dreihundert, Stück für Stück, in ein leeres Faß, schnitten sie auf und nahmen die Milch heraus, welche wir vortrefflich fanden; aber es hätte tausend bedurft, um nur einen Menschen satt zu machen.21 Wir brachten Gott unsern innigsten Dank für diese unerwartete Wohltat. Früh hatte man eine Unze Schießpulver gefunden, das man sogleich an der Sonne trocknen ließ. In demselben Paket befand sich auch ein Feuerstahl, Flintensteine und Schwamm; nach unsäglicher Mühe gelang es uns, einige Fetzen Leinenzeug in Brand zu setzen; wir nahmen eine leere Tonne, machten eine weite Öffnung an einer Seite, legten auf den Boden einige stark angefeuchtete Sachen, und über denselben brachten wir eine Art von Herd an; dann setzten wir sie zur größeren Sicherheit noch auf eine andere Tonne, damit das Meerwasser das Feuer nicht auslöschte. Wir kochten Fische und aßen sie mit der größten Gier, aber unser Hunger war so heftig und unser Bissen Fisch so gering, daß wir uns doch wieder an die ruchlose Kost machten, die durch das Kochen wenigstens etwas von ihrem Gräßlichen verlor; diesmal langten auch die Offiziere danach. Von diesem Tage an genossen wir es fort, doch ohne es kochen zu können, weil uns alles abging, um Feuer zu machen, denn das Faß war ganz zu Asche verbrannt. Dazu fehlte es uns auch an Pulver und Schwamm, die beide bald aufgebraucht waren. Diese Mahlzeit stärkte uns alle so weit, daß wir wenigstens mit etwas mehr Fassung neuen Strapazen entgegengehen konnten. Die Nacht war leidlich, ja wir dürften...