Sauytbay / Cavelius | Die Kronzeugin | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Sauytbay / Cavelius Die Kronzeugin

Eine Staatsbeamtin über ihre Flucht aus der Hölle der Lager und Chinas Griff nach der Weltherrschaft
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-95890-331-9
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Staatsbeamtin über ihre Flucht aus der Hölle der Lager und Chinas Griff nach der Weltherrschaft

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

ISBN: 978-3-95890-331-9
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Infolge einer Reihe von Anschlägen in Xinjiang 2014 errichtete die chinesische Regierung in den letzten Jahren dort ein riesiges Netz von Straflagern für ethnische Minderheiten, vorwiegend muslimische Uiguren und Kasachen. 2017 gerät die Staatsbeamtin und Direktorin mehrerer Vorschulen Sayragul Sauytbay selbst in die Mühlen des chinesischen Unterdrückungsapparates, wird mehrmals verhört und schließlich in ein Umerziehungslager gesteckt, wo sie ihren Mitgefangenen von morgens bis abends die chinesische Sprache, Kultur und Politik beibringen muss. Die Bedingungen sind unmenschlich: Gehirnwäsche, Folter und Vergewaltigung, dazu erzwungene Einnahme von Medikamenten, die die Inhaftierten apathisch macht oder vergiftet. 2018 kommt Sayragul Sauytbay 2018 wieder frei und flieht nach Kasachstan. Seitdem sieht sie es als ihre Aufgabe an, der Welt Zeugnis abzulegen von den chinesischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und sie will die Welt warnen vor der Politik Pekings, das mit "Softpower" wie beim "Seidenstraßenprojekt" großzügige Kredite vergibt, andere Länder in Abhängigkeit bringt und langfristig die Unterwerfung der freien Welt anstrebt. Modell steht dabei Xinjiang – der größte Überwachungsstaat, den die Welt je gesehen hat, in dem Faschismus und Tyrannei regieren.

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Flehende Frauen in der Nacht
Jede Nacht versammeln sich die weinenden Mädchen um mein Bett herum. Ihre dunklen Augen aufgerissen, ihre Köpfe kahlgeschoren. »Rette uns!«, flehen sie mich an, »bitte rette uns!« Uns Frauen trifft es an den Orten der Welt, wo die Willkür regiert, immer am härtesten. Es ist so leicht, uns mit den Dämonen der Ohnmacht, Scham und Schuldgefühlen zu ersticken. Doch es sind nicht wir Frauen, die sich für die Wunden schämen müssen, die uns die Männer gerissen haben. Nur muss ich mir das selbst erst noch verinnerlichen, Ich versuche, mich hochzurappeln, aber ich bleibe wie eine Tote liegen. Seitdem ich im Straflager war, komme ich manchmal nicht vom Bett hoch. Das liegt daran, dass ich dort so lange auf kaltem Betonboden schlafen musste. Meine Glieder und Gelenke schmerzen vom Rheuma. Vorher war ich vollkommen gesund, heute bin ich mit 43 Jahren eine kranke Frau. Sobald ich voller Unruhe für wenige Sekunden einnicke, wecken mich meine Albträume wieder auf. All diese Frauen, Kinder, Männer und Alte hinter den hohen Mauern aus Stacheldraht haben kein Verbrechen begangen, außer dass sie wie ich als Kasachen, Uiguren oder andere muslimische Nationalitäten in der Nordwestprovinz Chinas geboren worden sind. Dass sie muslimische Namen wie Fatima oder Hussein tragen. Mein Name ist Sayragul Sauytbay. Ich bin verheiratet, habe vor meiner Inhaftierung als Direktorin fünf Kindergärten geleitet und liebe meine Familie über alles. Wir stammen aus der Nordwestprovinz Chinas, die flächenmäßig größer als Deutschland, Frankreich und Spanien zusammen ist und knapp 3000 Kilometer Luftlinie entfernt von Peking liegt. Umschlossen von bis zu 7000 Meter hohen Gebirgsketten, hat unser Land die meisten gemeinsamen Grenzen mit ausländischen Staaten wie der Mongolei, Russland, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan sowie Afghanistan, Indien oder Pakistan. Von hier aus ist China dem fernen Europa am nächsten. Seit dem Altertum befindet sich dort das Gebiet der mehrheitlich vertretenen Uiguren, aber auch zahlreicher anderer Ethnien wie der Mongolen, Kirgisen, Tartaren oder der zweitgrößten Gruppe, der Kasachen, zu denen ich gehöre. Unser Land hieß Ostturkestan, bis sich das benachbarte Riesenreich China dieses strategisch günstig liegende »Tor zum Westen« unter Mao Zedong 1949 mit Gewalt einverleibt und in die Autonome Region Xinjiang (»Neue Grenzen«) umbenannt hat. Für uns aber bleibt es Ostturkestan, die angestammte Heimat unserer Vorfahren. Offiziell garantiert Peking uns Einheimischen Selbstständigkeit, Unabhängigkeit und Willensfreiheit. Inoffiziell aber behandelt uns die Regierung wie eine Kolonie Sklaven. Ab 2016 hat sich unsere Provinz in den größten Überwachungsstaat der Welt verwandelt. Ein Netz von mehr als 1200 oberirdischen Straflagern überzieht nach Schätzungen internationaler Experten mittlerweile unser Land, doch immer öfter dringen auch Nachrichten über unterirdische Lager ans Licht. Etwa drei Millionen Menschen sind nach unseren eigenen Schätzungen inhaftiert. Ohne Prozess. Ohne ein Verbrechen begangen zu haben. Es handelt sich um die größte systematische Internierung eines ganzen Volkes seit Ende des Nationalsozialismus. Die Parteikader haben mich gezwungen, über all das zu schweigen, was ich als leitende Staatsbeamtin in dieser Hölle von Ostturkestan erlebt habe, »sonst bist du tot«. Ich selbst musste meine Unterschrift unter mein eigenes Todesurteil setzen. Gegen alle Widerstände ist mir jedoch am Ende die Flucht aus dem größten Freiluftgefängnis der Welt bis nach Schweden gelungen. Mein Fall ist außergewöhnlich, da ich als Ausbilderin in einem dieser Straflager arbeiten musste. Dadurch habe ich den innersten Kern dieses Systems kennengelernt, die bis ins Detail geplante und bürokratisch gelenkte Maschinerie, deren Anweisungen direkt aus Peking kommen. Es geht dabei nicht nur um systematische Folter, Demütigung und Gehirnwäsche. Es geht um das gezielte Auslöschen eines ganzen Volkes. Während wir hier sitzen, betreiben auch große Firmen aus dem Westen lukrative Geschäfte im Nordwesten Chinas. Gleichzeitig werden nicht weit weg von ihren Firmengebäuden Kinder, Frauen, Männer, Junge und Alte auf engstem Raum wie Tiere zusammengepfercht und auf unaussprechliche Weise gequält. Jeder zehnte muslimische Einwohner in meiner Heimat, so heißt es in Menschenrechtsberichten, ist mittlerweile interniert. Aus eigener Erfahrung kann ich diese Zahlen bestätigen. Ich selbst war in einem Lager mit 2500 Gefangenen. In diesem Bezirkszentrum namens Mongolkure, das auf Chinesisch Zhaosu heißt und etwa 180 000 Einwohner hat, gibt es noch zwei große Gefängnisse und drei weitere Lager, umgewandelt aus einer alten Parteischule und verlassenen Gebäuden. Geht man von etwa der gleichen Anzahl an Gefangenen aus, sind allein in so einem kleinen Gebiet wie meinem Heimatbezirk etwa 20 000 Menschen eingesperrt. Mittlerweile ist jede muslimische Familie von diesen Inhaftierungen betroffen. In Xinjiang lebt keiner mehr, der nicht mehrere Verwandte vermisst. Da die Beweislage aufgrund von Satellitenbildern und dokumentierten Zeugenaussagen und zuletzt sogar dank eines chinesischen Whistleblowers mit der Offenlegung der »China Cables« erdrückend war, hat Peking nach langem Abstreiten die Existenz dieser Lager endlich eingeräumt. Weiterhin sprechen jedoch die hohen Politiker Chinas beschönigend von »Berufsbildungszentren« und zeigen in Propagandafilmen tanzende und lachende Studenten, die dort geschminkt und hübsch angezogen in hellen, schön eingerichteten Klassenräumen den Unterricht besuchen und »zu besseren Menschen umerzogen« werden. Die ausländischen Medien indessen würden »böswillig Lügen verbreiten«, alle »Schüler« seien freiwillig dort, und die meisten wären bereits ohnehin entlassen worden, lässt die Regierung verbreiten. Wenn ich so etwas höre, frage ich mich, wo all meine Freunde, Nachbarn und Bekannten abgeblieben sind. Warum kann niemand sie anrufen, wenn sie doch wieder auf freien Fuß sein sollen? Und wenn es sich tatsächlich um »Berufsbildungszentren« handelt, wie die Regierung in Peking unverdrossen behauptet, wieso entreißt man kleine Kinder ihren Familien und ihren Schulklassen und schickt sie dorthin? Wieso sollen jene »Internate den Platz der Eltern einnehmen«, wie es die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) verlangt? Was hat in so einer »Umschulung« eine 84-jährige Greisin verloren? Wozu brauchen Schriftsteller, Professoren, erfolgreiche Geschäftsleute und Künstler, die alle bereits hochgebildet sind, solche »Fortbildungsmaßnahmen« hinter Stacheldraht? Wer in Ostturkestan die Wahrheit über diese Straflager verbreitet, wird als ausländischer Spion, Lügner oder Terrorist gebrandmarkt. Alle Fakten im Netz eliminieren Chinas Zensoren sofort, und derjenige, der sie im eigenen Land weitergibt, verschwindet am nächsten Tag spurlos. Sobald eine westliche Delegation mit Journalisten einen Besuch in Ostturkestan ankündigt, wie im Herbst 2019 geschehen, verwandeln die Parteigenossen ein Umerziehungslager kurzerhand in eine normale Schule. Der Stacheldraht verschwindet von den Mauern genauso wie die schwer bewaffneten Wachen vor den Toren. Die entlassenen Lehrer, die sich zuletzt als Straßenkehrer oder Fabrikarbeiter herumschlagen mussten, werden für die Dauer dieses Pressebesuchs wieder eingestellt. Schnell werden mit kasachischen und uigurischen Schülern neue Klassen gebildet und bunte Bilder fürs Fernsehen gedreht. Ein Freund, der in dieser Zeit eine Besuchserlaubnis für meine Heimat bekommen hatte, um dort seine Mutter zu beerdigen, hat mir berichtet, wie alle Lehrer und Schüler Parteitexte für die Besucher aus dem Westen auswendig lernen mussten. Wer beim Wiederholen auch nur ein Wort oder ein Komma vergessen hat, der wurde ins Lager verbannt. Die Instruktionen der Parteikader lauteten: »Schüler, ihr dürft nicht sagen, was in den letzten Jahren wirklich passiert ist. Ihr erzählt, wie gut die Partei und wie schön euer Leben hier ist …« An solche Theateraufführungen und Täuschungen der KPCh sind wir von Kindheit an gewöhnt. Denke ich an diese Vergangenheit zurück, würgt es mich, und ich muss mich erbrechen, als hätte ich Parasiten im Körper. Ich muss mir den Kopf mit einem Schal zusammenbinden, weil ich den Eindruck habe, dass er sonst zerplatzt. Vielleicht liegt es an den Erinnerungen, vielleicht auch an den Auswirkungen der Folter. Doch ganz gleich, wie sehr mich das Sprechen über meine Erfahrungen quält, ich halte es für meine Pflicht, die Welt zu warnen. Dabei betone ich ausdrücklich, dass ich nicht die chinesischen Bürger für diese grauenhaften Verbrechen anklage, sondern die Verantwortung dafür tragen allein die Regierung in Peking und die Kommunistische Partei Chinas. Als Kronzeugin teile ich mein Wissen über das Innerste dieses faschistischen Systems mit. Das tue ich nicht nur für mich selbst, sondern ich spreche im Namen...


Sayragul Sauytbay, geboren 1976 in dem autonomen kasachischen Bezirk Ili in der chinesischen Provinz Xinjiang, studierte Medizin, arbeitete zunächst als Ärztin in einem Krankenhaus und wurde später vom chinesischen Staat als Direktorin für mehrere Vorschulen eingestellt. Als die chinesische Regierung massiv gegen uigurische und kasachische Minderheiten vorgeht, reisen ihr Mann und ihre Kinder 2016 nach Kasachstan aus. Sie selbst erhält kein Ausreisevisum, wird mehrmals verhört, schließlich verhaftet und in einem Umerziehungslager gezwungen, als Ausbildern zu arbeiten. Dadurch erhält sie Einblick in das Innerste dieses Systems. Als man ihr nach drei Tagen in Freiheit erneut das Straflager androht, flieht sie nach Kasachstan, wo ihr Prozess zu den größten Protesten in der Geschichte des Landes führt, denn auch in Kasachstan vermissen Tausende Menschen ihre Verwandten in den Straflagern Xinjiangs. Trotzdem wird sie monatelang inhaftiert, ehe Schweden ihr und ihrer Familie Asyl gewährt. 2020 wird sie vom Außenministerium der USA mit dem International Women of Courage Award ausgezeichnet, 2021 erhielt sie den Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreis, der 2022 – aufgrund der Corona-Pandemie mit leichter Verspätung – an sie vergeben wird.

Alexandra Cavelius ist freie Autorin und Journalistin. Sie publizierte in renommierten Magazinen und schrieb politische Sachbücher wie "Die Zeit der Wölfe" sowie in mehrere Sprachen übersetzte Bestseller wie "Die Himmelsstürmerin" und "Leila – ein bosnisches Mädchen". Zu ihren jüngsten erfolgreichen Werken zählen die Geschichte der Jesidin Shirin "Ich bleibe eine Tochter des Lichts" und "Die Psychologie des IS", die sie in Zusammenarbeit mit dem international anerkannten Traumatologen Jan Ilhan Kizilhan verfasst hat. In verschiedenen Werken hat sie sich intensiv mit schwertraumatisierten Überlebenden und radikalisierten Tätern auseinandergesetzt. Zuletzt schrieb sie auf der Basis ihrer vielfachen Recherchen über Krieg, Glauben und Ideologien den Historienroman "Die Assassinin".



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