E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Saul Die Trauer der Tangente
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7518-0997-9
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-7518-0997-9
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Ich denke an dein Zögern. Nenne dich bei deinem Namen. Ich möchte irgendetwas für dich sein. Friedrichstraße, Berlin Vom Regen flohen sie unter die Kolonnaden, und meine nassen Füße wussten schon vom ersten Frühling ohne dich. Eine Nachricht auf dem Lockscreen: Es bleibt euch nicht mehr viel Zeit. Du solltest noch vor den Feiertagen in ein Hospiz verlegt werden, hat deine Schwester geschrieben. Die Tage waren gezählt. Freitag, zwei Tage vor Heiligabend, eine Woche nach Hannukah. Lange Schatten, tiefstehende Sonne, ein Halbmond im Kalender. Im Vorbeigehen: ein schweres Parfüm, und eine Hand aufs Herz. Und da sie nur diesen einen Tag Zeit hatte, schrieb deine Schwester weiter, würden die Möbel noch am gleichen Tag geholt werden. Die Möbel gehen schon morgen. Eine Baustelle, eine Öffnung, zwei Möwen kreisten, ich las die Nachricht in den Notifications, wischte sie weg. Deine Schwester schrieb dann noch von der Insel. Ihr fiel der Name nicht ein. Er ist mir gerade entfallen. Aber sie sprach noch davon, dass der Winter schon jetzt, Ende Dezember, zu lang gedauert habe; sie sehnte sich nach Sonne. Und dass sich die Fensterläden schon mittags schlossen, dass die Insekten in den Rissen des Hauses schliefen, bis die ersten Sterne aufgingen. Jemand rief mich aus der Hocke, und ich zählte das Kleingeld, das in meiner linken Hosentasche am Display kratzte. Du hattest noch vor den Feiertagen in ein Hospiz verlegt werden sollen. Am Ende der Nachricht: ein Stern-Emoji, das beim Öffnen zu einem Nachthimmel wurde. Und bis zur nächsten Straßenecke, und nicht weitergewusst. Am Kupfergraben, Berlin Ich war mit dem ersten Zug gekommen, lief in den leeren Morgen in die Georgenstraße, an den Viadukten entlang, unter dem Geräusch der S-Bahnen zum Kupfergraben, über die Brücke zum Monbijoupark, vorüber an Chamisso im Holzkasten, durch die Große Hamburger Straße, bis zur Linienstraße. Dort lagst du. Dort musstest du liegen. So, wie ich dich vor Jahren verlassen hatte. Monbijoupark, Berlin Hinter der Kurve zum Bodemuseum dachte ich ans Meer. Der Schatten der Statue fiel in die Einbuchtung der Mauer, in der Tiefe des Steins küssten sie sich. Gegenüber zogen sie die Vorhänge zu. In einem WeShare, das im Parkverbot gehalten hatte, verabschiedeten sie sich mit Händen an den Wangen, Stirn an Stirn. Die Bäume schnitten durch die Wolken, die Stationen waren leer. Im Hotel am Monbijoupark gingen schon jetzt, da die Sonne am gegenüberliegenden Haus untergegangen war, die Lichter an. Der Abendstern und der Morgenstern sind derselbe Himmelskörper: kein Stern, sondern der Planet Venus. Obwohl schon in der Antike bekannt war, dass es sich um den gleichen Himmelskörper handelte, hielt man an der mythologischen Unterscheidung zwischen Abend- und Morgenstern fest. Es ist derselbe Stern, und doch ein anderer: Er ist eine Nacht von sich selbst entfernt. Deine Schwester hatte mir noch die Nummer des Pflegers geschickt, der, so schrieb sie, dein Freund geworden war. Er schrieb, dass du schon auf halbem Weg seist. Die Tage seien wirklich gezählt. Linienstraße, Berlin Ich erinnerte mich an dein Zimmer, in dem alles an den Wänden lehnte. Die Postkarten aus dem Kino, die meistens unbeschrieben waren, die Bücher, in denen sich die Seiten bogen, die Fotos von deiner toten Mutter, die du neben immer neue Bilder von dir gestellt hattest. Ein Bild vom Mond an der Wand. Daneben ein Satz, high auf die gelbe Raufaser geschrieben: Hart im Nehmen, weich im Geben. Ein Foto aus dem Betonwerk, in dem du als Teenager die Löcher gezählt hattest. Ein Foto des kleinen Gemischtwarenladens deiner Urgroßeltern, an dem das Wort Kolonialwaren überstrichen worden war. In der Ecke zwei Hanteln, an denen Gewichte fehlten. Du weißt, dass ich deine Nachrichten liebte. Noch eine Nachricht von deiner Schwester: Danke, dass du da sein wirst. Der Winter war zu warm, im Pullover gingen sie Hand in Hand zur Museumsinsel, wo man das Schloss wiederaufgebaut und mit den gestohlenen Kunstwerken aus den kolonisierten Ländern gefüllt hatte, das Wort Beutekunst. Stück für Stück wurden noch die Fassadenteile angeklebt, nur an der Rückseite zum Wasser stand die stille Betonwand, an der die Farbe in den Fugen schon im Regen zerlief. Museumsinsel, Berlin Das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben. Mein Mund wurde trocken. Lass uns eine Runde drehen, unser Auto steht dort drüben, WeShare, hinter dem Bahnhof hielten wir an. Auf einen sanften Druck am Lenkrad gingen die Scheinwerfer aus. Ich fand die Stelle wieder, an der wir gestanden hatten. In der Blüte dieser kurzen Tage einen Wind gefunden, der noch von diesem letzten Frühling wusste. Die Gedanken gingen an der Straßenecke verloren. Wir haben alles geschluckt. Ich weiß, dass du gesagt hast, dass du mich überall hin mitnehmen würdest. Siehst du, du bist sanft, hast du gesagt. Ich könnte nicht bleiben, hast du gesagt. Deine Mutter, so ging eine deiner Geschichten, hatte dir kurz vor ihrem Tod ein Teleskop geschenkt. Das ganze Universum, diesen Satz hatte sie irgendwo gelesen, sei nichts anderes als Göttlichkeit, die versucht, ihren eigenen Namen zu singen. Man könnte singen, zum Beispiel. In meinem Traum gab es neben dem Mond noch eine Sonne, die nicht unterging und von einem anderen Mond verdunkelt wurde. Monbijoupark, Berlin Ocean Vuong Im Hotel waren jetzt alle Lichter an. Ich wartete an der Ecke und Monbijoupark, entsperrte mit dem Daumen den Screen, ohne hinzusehen. In dieser Reihenfolge kamen die Wörter: Venus am Nachthimmel. Night Sky with Exit Wounds. Erdschattenbogen. Armen Nachdem dein Vater gegangen war, ist deine Mutter mit dir im Auto bis an den Atlantik gefahren, bis an die Klippen von Armen, wie du sagtest. Wir wussten nicht viel von dir, aber von diesem Sommer, der nie endete, hast du uns erzählt. Im Auto bist du eingeschlafen. Und hast noch einmal die ersten Bilder gesehen. Das sind die ersten Bilder, hast du gesagt: eine Schlange von Autos, von der Rückbank, dein Kopf fällt auf deine Brust, die Scheiben sind beschlagen, vielleicht fehlt euch der Sauerstoff, vielleicht sind sie zerkratzt. Du hörst den Warnblinker, hörst das Wort Grenze, das Wort Todesstreifen, das Wort Schlagbaum, das Wort Fundmunition. Jahrelang würden wir diese Wörter mit uns tragen, ihnen Bedeutungen geben, sie drehen und wenden und sie nicht vergessen können, irgendwann würden wir sie nicht mehr hören. Das Auto schiebt sich um eine Kurve. Die Schlange der Autos reicht bis zum Horizont, wo sie nicht aufhört, sondern senkrecht in den Himmel wächst. Das sind die ersten Bilder. Wir haben uns in Paris getroffen, in einem anderen Sommer, in dem die Straßen schmolzen und die Preise stiegen. Wir hatten schon damals die letzten Lieder gesungen. Trocadéro, Paris Trocadéro, hast du gesagt, wann immer wir von diesem einzigen gemeinsamen Sommer sprachen. Und auch die Scooter waren dann verstummt. Du hast mich zum Bahnhof gefahren und ich habe genickt, weil es Frühling war und wir nie wieder einen Sommer zusammen verbringen würden. Das wussten wir. Kurz bevor deine Mutter starb, so ging eine deiner Geschichten, hat sie dir ein Teleskop geschenkt. Aber nehmen wir einen anderen Anfang. Er geht so: Ich ging noch einmal zurück und habe eine ganze Woche lang versucht, die Wohnung zu finden, in der wir diesen einen Sommer gewohnt hatten. Lange stand ich vor den Häusern, und immer wenn ich sicher war, dass es hier gewesen sein musste, fiel mir ein Detail auf, das meine Geschichte unwahrscheinlich machte; ich konnte diesen Ort nicht mehr finden. Vielleicht hatte man das Haus abgerissen, endlich die Straßen umbenannt, jedenfalls war der Ort nicht mehr auffindbar. Dies ist die Geschichte eines Jungen, der am heißesten Tag des Sommers aufbricht, um ein Eis zu kaufen, und der dann nicht mehr zurückfindet; der das Haus seiner Kindheit nicht mehr finden kann. Er steht an einer Straßenkreuzung, bis das Eis geschmolzen ist. Sonnenuntergang. Dies ist die Geschichte eines Jungen, der nach seinem Namen gefragt wird, der ihm – beim besten Willen, wie sie sagen – nicht einfällt. Er ist mir gerade entfallen, wird er sagen, leise, an der Ecke, beim Bach, wo die Trauerweide, wie sie sagen, an den Käfern verging. Ich ging die Straßen auf und ab, die Karten stimmten nicht mehr. Ich kann diesen Ort nicht mehr finden. Man könnte sagen: Der wahre Sonnenuntergang ist der Moment, an dem die Oberkante der Sonnenscheibe den wahren Horizont unterschreitet. Der wahre Horizont ist die senkrecht zum Lot des Beobachters stehende, durch den Erdmittelpunkt verlaufende imaginäre Ebene. In diesem Moment ist zwischen Sonne und Horizont ein Abstand zu sehen. In diesem Abstand habe ich deine Hand gehalten, zögerlich. Dann wurde es dunkel. Man könnte sagen, was wir als Unterschiede wahrnehmen, zwischen dem Blatt, den Dornen, deiner Hand, dem Stuhl, der fällt, der Diele, die nachgibt, meinem Daumen auf dem Display, ist eigentlich ein...