Gegen Mittelmaß und Abstieg in Politik und Wirtschaft
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-451-83154-6
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Fachgebiete
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Warum ich wirklich Schluss gemacht habe: das radikale Ende meiner Berliner Hoffnung
19. Mai 2022, der Donnerstag einer Sitzungswoche. Am Morgen hatte ich mich mit Professor Michael Baumann vom Deutschen Krebsforschungszentrum ausgetauscht. Nun nahm ich seit 11 Uhr virtuell an einer Sitzung des Senats der Fraunhofer-Gesellschaft teil, der heute drei neue Vorstände berief. Parallel verfolgte ich in kurzen Abständen meine Mail- und Messenger-Apps. Plötzlich erreichte mich die Kurznachricht eines Kollegen aus dem Haushaltsausschuss. Die Koalitionsmehrheit hatte soeben meine beiden großen Projekte für diese Legislaturperiode zerschossen. Die Deutsche Agentur für Transfer und Innovation (DATI) erhielt nur minimale Gelder. Mehr Mittel gebe es erst, wenn wir ein »schlüssiges Konzept« vorlegten. Und für die Bundesagentur für Sprunginnovationen (SprinD) hielt der Haushaltsausschuss einen Großteil der Mittel zurück. Für die Entfesselung der SprinD hatte ich seit 2018 mit Herzblut gekämpft. Unverschämt war die Begründung für die Budgetverweigerung bei der DATI: auf dem Tisch lag das schlüssigste Konzept. Wenn die Opposition sowas fordert: geschenkt! Wenn es die eigenen Fraktionskollegen und Koalitionäre tun, greift man sich nur noch an den Kopf. Und bei SprinD war das schlüssige Konzept schon als Referentenentwurf in der interministeriellen Abstimmung unterwegs – dies aber war den Haushältern keine Silbe wert. Mein Herz und meine Seele erstarrten. Mein Entschluss stand binnen Sekunden fest. Ich nahm mein Mobiltelefon und tippte sofort meine Rücktrittserklärung als Parlamentarischer Staatssekretär an Ministerin Bettina Stark-Watzinger. Sie versuchte mich umzustimmen, aber mein Entschluss war unumstößlich. So wie die Entscheidung des Haushaltsausschusses in Stein gemeißelt war; sie lag dem Bundesfinanzministerium bereits offiziell vor. Jahrelange Arbeit für die Katz! Selbst wenn ich mit Zähnen und Klauen dafür gekämpft hätte, das Geld in der nächsten Haushaltsrunde doch noch zu bekommen, hätten wir die entscheidende Zeit verloren, um DATI und SprinD wetterfest in dieser Legislaturperiode aufzustellen. Der sich abzeichnende Bundestagswahlkampf ab dem Jahreswechsel 2023/24 würde zudem sämtliche pragmatischen Entscheidungen wieder verhageln. Nicht im schlimmsten Albtraum hätte ich eine derartige standrechtliche Erschießung meiner beiden Babys erwartet. Vor Tagen noch hatten SPD-Haushälterin Wiebke Esdar und ich uns ausgetauscht; und ich hatte geglaubt, ihre letzten Bedenken gegen DATI und SprinD ausgeräumt zu haben. Ich war ihr an mehreren Stellen entgegengekommen: etwas weniger Avantgarde, dafür etwas mehr Herz-Jesu-Sozialismus. Ich hatte Frau Esdar dabei klar gesagt, wo meine rote Linie im Haushalt verläuft: zum Beispiel bei einem Mindestbudget für DATI und SprinD über mehrere Haushaltsjahre hinweg sowie bei einer Projektförderlogik für die DATI, die nicht staatlich geprägt ist, sondern durch Entscheidungsprozesse vor Ort. Daneben war mir wichtig, dass die SprinD unabhängig werden müsse von der Fachaufsicht des Ministeriums. Ich hätte es bei ihr, einer Sprecherin der Parlamentarischen Linken in der SPD-Bundestagsfraktion, besser wissen müssen. Ein junger Berufspolitiker hätte sich eine solche Demütigung gefallen lassen und sich taktisch für die weitere Karriere entschieden. Ich aber war 73. Ich wollte kein Geld mehr verdienen und auch nicht mehr Karriere machen. Das hatte ich alles schon hinter mir. Alles, was ich wollte, war: einige wenige wichtige Projekte aufs Gleis zu setzen, damit Deutschland bei seiner Innovationskraft nicht noch weiter zurückfällt, sondern wieder aufholen kann. Die Pressemitteilung über meinen Rückzug aus der Politik enthielt keine Silbe über den Haushaltsausschuss. Ich selbst schlug vor, von persönlichen und gesundheitlichen Gründen in meinem engsten Umfeld zu sprechen, um die Ministerin zu schützen. Das war zwar nicht die volle Wahrheit. Es war aber auch nicht geschwindelt. Nur die Ministerin und meine engsten Mitarbeiter in Bundestag und Ministerium wussten, dass mein Ehemann Steven gesundheitlich schwer angeschlagen war und meine hochbetagte Mutter seit vielen Wochen schwerkrank im Krankenhaus lag. Hinzu kam meine akute Arbeitsbelastung, die mir kaum Zeit ließ, mein Privatleben zu balancieren (dies beschreibe ich näher im Kapitel »Radikal neu: Quereinstieg in die Politik«). Ich arbeitete wie ein Schwein, schlief kaum, kam wenig dazu, zuhause anzurufen. Ich verzweifelte ab und an, aber ich managte es. Doch der Beschluss des Haushaltsausschusses hatte jetzt das Fass zum Überlaufen gebracht. Kurz rang ich mit mir, ob ich mein Bundestagsmandat behalten sollte. Dann aber gingen mir Armin Laschet und Martin Schulz durch den Kopf, die beide so oft wie lahme Enten durch die Reihen im Plenarsaal watschelten auf der Suche nach Menschen, die sich noch für sie interessieren. Viele politische Freunde fragten mich, warum ich nicht wenigstens das Mandat behielte. Erst später erkannte ich, dass sie eigentlich wissen wollten, wieso ich 150.000 Euro im Jahr einfach so in den Wind schlug. Beim Lesen haben Sie es vielleicht schon festgestellt: Ich kann nicht halbe Kraft. Nur volle Kraft voraus. Und mir war auch schlagartig die Lust auf einen politischen Betrieb vergangen, der jahrelang mit Schweiß, Tränen und Gehirnschmalz vorbereitete Projekte mit geschlossenem Visier und ohne Vorwarnung guillotinierte, weil egozentrische oder ideologische Interessen dagegen standen. Jetzt fragen Sie sich wahrscheinlich, wie die Ampelmehrheit im Haushaltsausschuss urplötzlich auf die Idee kommen konnte, DATI und SprinD und damit die beiden Forschungsleuchttürme des BMBF notzuschlachten. Niemand wüsste das lieber als ich. Und auch ich kann nur Indiz an Indiz reihen. Nach allem, was ich weiß, war der zweite Judas Otto Fricke, FDP-Chefhaushälter im Bundestag. Bis 2013, als die FDP aus dem Bundestag flog, war er Parlamentarischer Geschäftsführer, zwischen 2005 und 2009 saß er dem Haushaltsausschuss vor. Als die FDP 2017 in den Bundestag zurückkehrte, erhielt er keine relevante Position in der Fraktion. Und dies wiederholte sich 2021. Ich habe gehört: Otto Fricke war zwar in der Fraktion als kühler Rechner geschätzt, aber nicht als Mensch. Dass ich selbst einmal Gegenstand seines Spiels werden würde, hatte ich nicht vorausgesehen. Man unterliegt ja bisweilen der Gefahr, den wirklichen Gegner nicht zu erkennen. Freund, Feind, Parteifreund. Hätte ich es riechen müssen? Otto Fricke war aschfahl im Gesicht, als am 7. Dezember 2021 in der Fraktionssitzung meine Ernennung zum Staatssekretär öffentlich wurde. Er hingegen war erneut komplett leer ausgegangen. Seitdem konnte er mir nicht mehr in die Augen sehen. Physiognomie und Psychognomie. Über Neid und Missgunst hinaus habe ich allerdings noch einen weiteren handfesten Anhaltspunkt. Und der hat mit der Fraunhofer-Gesellschaft zu tun und deren damaligem Präsidenten Reimund Neugebauer. Ihm war ich wegen unzähliger Verfehlungen als Führungskraft seit vielen Monaten auf der Spur, und schließlich musste er Ende Mai 2023 vorzeitig von seinem Amt zurücktreten. Ich gehe im Kapitel »Radikal neu: Quereinstieg in die Politik« näher darauf ein. Ein Jahr zuvor jedoch war er noch im Amt, wähnte sich in Saft und Kraft und baute fleißig Wagenburgen, um seine autoritäre Herrschaft bei Fraunhofer zu sichern. Nicht zuletzt hatte Neugebauer nach der Bundestagswahl 2021 begonnen, Anfang 2022 Mitglieder des Haushaltsausschusses für seinen Senat auszuwählen. Das hatte er zwar nicht zum ersten Mal gemacht. Unsittlich, statuten- und compliancewidrig war es trotzdem. Nur war vor mir niemand dagegen vorgegangen. Ich nehme an, um den inner- wie zwischenparteilichen Frieden zu wahren und den mit der Fraunhofer-Gesellschaft. Doch ich wollte wie ein getreuer Eckart den Koalitionsvertrag erfüllen, der aufgab, die Compliance der Wissenschaftsorganisationen zu verbessern. Wir Forschungs-Koalitionsverhandler von SPD, Grünen und FDP hatten gegen Ende der Verhandlungen beschlossen, gemeinsam auf Bärbel Bas zuzugehen, die damals noch im Fraunhofer-Senat saß. Wir baten sie, dort explizit Stellung zu beziehen zu Neugebauers mangelndem Compliance-Gebaren, bevor sie ob ihres neuen Amts als Bundestagspräsidentin den Senat verlassen würde. Leider lehnte sie ab. Gleichwohl wollten wir Vertreter aller drei Parteien Neugebauers schmutzigem Spiel ein Ende setzen. Folgenden Satz verankerten wir im Forschungskapitel des Koalitionsvertrags: »Standards für Führung und Compliance-Prozesse sind im Wissenschaftssystem noch stärker zu berücksichtigen.« Wer mich kennt, weiß: Seit Jahrzehnten ist es mir ein unverzichtbares Anliegen, dass Führungshandeln mit gesetzlichen Vorgaben, Statuten, Leitbildern, Führungsgrundsätzen im Einklang steht. Mein Wertekanon ist an dieser Stelle unbeugsam. Die Satzung des Fraunhofer-Senats sieht keine Abgeordneten als Mitglieder vor, dafür andere Personengruppen (zum Beispiel externe Wissenschaftler), die Neugebauer seit Jahren übergangen hatte. Vorschriftsmäßig ist auch nicht, dass Regierungsfraktionen auf Vorschlag des Fraunhofer-Präsidenten Kandidaten finden und für den Senat nominieren – erst recht nicht, ohne zuvor den Senatswahlausschuss der Fraunhofer-Gesellschaft (dem ich als Staatssekretär damals angehörte) inhaltlich einzubinden. Zudem: Wie sollen Haushälter im Parlament unbefangen einen Haushalt genehmigen oder ablehnen, den sie vorab schon bei Fraunhofer abgesegnet haben? Einer von Neugebauers Wunschkandidaten hieß Otto Fricke. Ich habe Neugebauer dreimal warnen lassen, Fricke und andere Haushälter nicht zu nominieren. Als er dies trotz Warnung wenige Tage vor der Senatswahl doch tat und die offizielle Tagesordnung samt den Namen seiner Kandidaten...