E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Saßmannshausen / Steenberg / Brockschnieder Pädagogische Ansätze in der Kita
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-451-82219-3
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-451-82219-3
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
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Franziska Martinet, Dipl. Päd., von 2009 bis 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen (FVM, Kandern), Forschungsprojekte zur au?erfamiliären Betreuung, zur kindlichen Entwicklung und zur Einschätzung von Kindeswohlgefährdung, Evaluation und Qualitätsentwicklung von Kindertageseinrichtungen. Seit April 2020 Lektorin beim Verlag Herder. Dr. Wolfgang Saßmannshausen ist Dipl.-Pädagoge und Lehrer. Er hat viele Jahre in verschiedenen Einrichtungen der Waldorfpädagogik gearbeitet. Heute ist er als Aus- und Fortbilder für die Internationale Vereinigung der Waldorfkindergärten tätig und berät Kindergärten und Ausbildungsstätten weltweit. Ulrich Steenberg, Montessori-Pädagoge, Germanist und Theologe, war langjährig Leiter einer Fachschule für Sozial-und Heilpädagogik. (Mit-) Gründer von Montessori-Krippen, -Kitas und -Schulen. Internationale Beratungs- und Vortragstätigkeit. Zahlreiche Veröffentlichungen. www.ulrichsteenberg.de Franz-J. Brockschnieder ist Lehrer und Psychologe und unterrichtet an einer Fachschule für Sozialpädagogik in Bielefeld. Gerhard Regel, Diplom-Sizialpädagoge und analytischer Kinder- und Jungendpsychotherapeut, war viele Jahre in der Fachberatung für Kindertagesstätten beschäftigt und ist heute freiberuflich in der Fortbildung tätig. Sonja Ahrens ist Erzieherin und leitet eine Kindertagesstätte. Sie hat Zusatzqualifikationen im Bereich Psychomotorik und Naturpädagogik sowie der Erwachsenenbildung. Studium der sozialen Arbeit. Daniela Kobelt Neuhaus ist u. a. Diplom-Heilpädagogin, TQM-Auditorin und Expertin für den Situationsansatz. Sie ist Vorstandsmitglied der Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie, publiziert und bildet fort zu allen Themen der frühkindlichen Erziehung und der Pädagogik der Vielfalt. Katrin Macha, Erziehungswissenschaftlerin (Diplom) und Expertin für Qualität im Situationsansatz (EfQuiS), ist stellvertretende Direktorin des Instituts für den Siutationsansatz (ISTA) an der Internationalen Akademie Berlin gGmbH und dort Leitung des Arbeitsbereichs Qualitätsentwicklung & Evaluation. Sie ist verantwortlich für verschiedene Forschungs- und Praxisentwicklungsprojekte. Ludger Pesch, Experte für Qualität im Situationsansatz (EfQuiS), ist Mitbegründer des Instituts für den Situationsansatz (ISTA). Er ist Direktor des Pestalozzi-Fröbel-Hauses (PFH) und Professor für Erziehungswissenschaft/ Kindheitspädagogik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB). Ingrid Miklitz ist Dipl.-Sozialwissenschaftlerin und seit 1997 der Wald-/Naturraumpädagogik in Theorie und Praxis verbunden. Seit 2000 ist Miklitz erste Vorsitzende des LV der Wald- und Naturkindergärten BW e.V. und Herausgeberin der Zeitschrift 'Draußenkinder'. Sie ist Autorin zahlreicher Bücher und Fachpublikationen zum Themenbereich 'Kind und Natur'.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1. Montessori-Pädagogik
Ulrich Steenberg
Montessori-Pädagogik ist in Deutschland flächendeckend angekommen. Das schien vor rund 30 Jahren noch nicht möglich. In Deutschland gibt es heute über 1.000 Montessori-Einrichtungen. Die meisten sind Kinderhäuser, aber auch Grundschulen, Sekundarschulen, Gesamtschulen, Gymnasien oder Fachschulen gehören dazu.
Wir haben es hier mit einem pädagogischen Konzept für alle Altersstufen zu tun. Montessori-Pädagogik ist ein Konzept, das seit über hundert Jahren weltweit erfolgreich ist, in optimaler Weise die Fähigkeiten eines jeden einzelnen Kindes zu entdecken hilft und aus diesen Fähigkeiten schließlich persönlichkeitsbildende Realitäten hervorbringen kann.
Das Geniale der Montessori-Pädagogik ist ihre Einfachheit. Und diese Einfachheit zu entdecken und für sich wirksam werden zu lassen – ganz gleich, ob in der Familie, in der Ausbildung zum Erzieherberuf, in der Kita-Praxis, im Pädagogik-Studium oder im Lehrberuf – ist Ziel dieses Kapitels.
1.1 Geschichte der Montessori-Pädagogik
Am 31. August 1870 wird Maria Montessori als einziges Kind des Finanzbeamten Alessandro Montessori und seiner Frau Renilde in Chiaravalle bei Ancona/Italien geboren. Nach dem Besuch der sechsjährigen Grundschule (1876–1883) setzt sie es durch, dass sie die naturwissenschaftlich-technische Sekundarschule (1883–1890) besuchen darf. Gegen den Willen zumindest ihres Vaters hat Maria Montessori es schließlich erreicht, als erste Frau Italiens von 1892 bis 1896 ein Medizinstudium zu absolvieren, das sie am 10. Juli 1896 erfolgreich mit der Promotion abschließt. Diese Tatsache erregt international Aufsehen.
Ein Schlüsselerlebnis in einer sogenannten Heilanstalt lässt sie nach neuen Wegen für die pädagogische Arbeit mit geistig Behinderten suchen. Im Jahr 1900 wird sie zur Leitern eines pädagogischen Instituts zur Ausbildung von Lehrern für behinderte Kinder berufen. Dort wird es ihr ermöglicht, ihre eigene Methode zur Erziehung und Unterrichtung geistig behinderter Kinder weiterzugeben.
Nach der Geburt ihres Sohnes Mario entschließt sich Maria Montessori im Jahr 1902, sich vertieft dem Studium der Pädagogik zu widmen.
Eröffnung des ersten „casa dei bambini“ 1907
Am 6. Januar 1907 eröffnet Maria Montessori das erste „casa dei bambini“ im römischen Proletarierviertel San Lorenzo. Die überraschenden pädagogischen Erfolge, die sie bei ihrer Arbeit mit geistig Behinderten verzeichnen konnte, wiederholen sich mit diesen Kindern aus sozial schwachen Familien.
In der Folge gibt sie ihre Erkenntnisse in Ausbildungskursen national und, nach weiteren großen Erfolgen, auch international weiter; ihr erster Kurs findet im Jahr 1909 statt. Gleichzeitig veröffentlicht sie ihre wesentlichen Grundgedanken.
Weltweite Verbreitung des Montessori-Ansatzes
Im Jahr 1911 gibt Maria Montessori ihre private Arztpraxis auf, um sich ausschließlich der internationalen Verbreitung ihrer Pädagogik zu widmen. Es folgen von großen Erfolgen begleitete Reisen in die Vereinigten Staaten. Im Jahr 1916 siedelt sie nach Barcelona über, um dort ein Haus der Kinder, die in der Kirche leben, zu gründen und pädagogisch zu betreuen.
Verschiedene Reisen führen Maria Montessori nach England, in die Niederlande, durch Italien, nach Deutschland, nach Frankreich. Parallel dazu finden ihre internationalen und nationalen Ausbildungskurse statt.
Weltweit werden nun Montessori-Kinderhäuser und Montessori-Schulen gegründet. Schließlich erstreckt sich der Einflussbereich der Montessori-Pädagogik, von Europa ausgehend, über die Vereinigten Staaten bis nach Indien und Japan.
Die unermüdlich reisende und tätige Maria Montessori kämpft in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts zunehmend für die Erhaltung des Friedens. In engagierten Vorträgen macht sie deutlich, in welchem Maße Frieden und Erziehung zusammenhängen.
Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus in Deutschland und dem Sieg der Faschisten in Spanien wird ihr bisheriges Werk in fast ganz Europa zerstört. Maria Montessori muss aus Barcelona fliehen und nimmt 1936 Wohnsitz in Amsterdam. Dort allerdings, wo sich Montessori-Pädagogik dem totalitären Zugriff entziehen kann, denn auch in der Sowjetunion ist Montessori-Pädagogik bald vernichtet, blüht sie weiter. Im Jahr 1939 verlässt Maria Montessori Europa und lebt mit ihrem Sohn Mario bis 1946 in Indien, wo sie die indische Montessori-Bewegung aufbaut.
Wiederaufbau und Wiederbelebung
Als Maria Montessori im Jahr 1946 und später noch einmal, nach einer weiteren Reise nach Indien, im Jahr 1948 nach Europa zurückkehrt, scheint ihr Lebenswerk in diesem kriegszerstörten Erdteil nahezu vernichtet. Unermüdlich reisend, Kurse und zahlreiche Vorträge haltend, kann die nahezu Achtzigjährige zumindest in den Niederlanden, zunehmend aber auch im übrigen Europa, eine Wiederbelebung ihres Lebenswerkes erfahren.
Am 6. Mai 1952 stirbt Maria Montessori überraschend in Nordwijk aan Zee in den Niederlanden. Dort findet sich auch ihr Grab.
1.2 Theoretische Grundlagen der Montessori-Pädagogik
„Die Kinder sind es, die mich alles gelehrt haben.“ Dieses Montessori-Zitat ist auf den ersten Blick überraschend. Viele pädagogische Entwürfe (mit dem Begriff Konzeptionen oder Konzepte sollte man eher behutsam umgehen) sind, ohne es abfällig zu meinen, eher Schreibtischprodukte und beruhen vornehmlich auf sogenannten Erkenntnissen aus der Perspektive der Erwachsenen. Montessori-Pädagogik setzt völlig anders an: Sie geht konsequent von dem aus, was zu beobachten ist; ihr Ansatzpunkt ist eine wissenschaftliche, naturwissenschaftliche Beobachtung.
Aus der Kinderperspektive
Der Montessori-Weg der „Entdeckung des Kindes“ ist durchaus anspruchsvoll. Er verlangt nämlich vom Pädagogen nichts weniger als den sogenannten Perspektivwechsel. Oft kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass kluge Köpfe sich Konzepte für Kinder ausgedacht haben und dann alles daransetzen, die Kinder „konzeptkompatibel“ zu machen. Doch diese Denkweise ist ein Irrtum. Und deswegen ist die Halbwertszeit mancher sogenannter pädagogischer Konzeptionen auch eher gering, denn es erweist sich, dass sie zu wenig konsequent von den Kindern ausgehen, sondern eher von der erwachsenen Vorstellung, wie Kindheit zu sein habe. Es geht nicht darum, mithilfe von möglichst perfekt ausgedachten Plänen möglichst perfekte Kinder zu erziehen. Die Forderung lautet vielmehr: Der Erwachsene muss sich in dem Maße zurücknehmen, wie das Kind an Fähigkeiten gewinnt, und die Realität des Kindes aus dessen Perspektive wahrnehmen – und nicht aus der seinen.
1.2.1 Montessoris naturwissenschaftlicher Zugang zur Realität des Kindes – der neue Weg
Zahlreiche bedeutsame Impulse für pädagogische Neuerungen stammen erstaunlicherweise von Naturwissenschaftlern, insbesondere von Medizinern. Hier sind zum Beispiel der polnische Kinderarzt, Schriftsteller und Pädagoge Janusz Korczak, die Budapester Ärztin Emmi Pikler oder eben Maria Montessori zu nennen. Sie alle verbindet ein starker, naturwissenschaftlich orientierter Ansatz zu Fragen der Bildung und Erziehung.
Naturwissenschaftliche Herangehensweise
„Im Unterschied zur Medizin, wo in Kliniken und Labors jede geringste isolierte Erscheinung zum mehrjährigen Forschungsobjekt wird, zeichnet sich die Pädagogik durch die Leichtfertigkeit und Schnelligkeit endgültiger Urteile aus“ (Korczak, zit. n. Dauzenroth 1989, S. 60).
Wenn Mediziner eines sehr konsequent und nachhaltig gelernt haben, dann ist das der medizinische Dreischritt: Anamnese – Diagnose – Therapie. Diesen Dreischritt übertragen sie auch und adaptieren ihn für die pädagogische Praxis. Dabei ist der erste Schritt der bedeutsamste: die wert- und vorurteilsfreie Wahrnehmung dessen, was ist. So wird gefordert: „Sehen – oder als Erzieher scheitern“ (ebd., S. 64).
Wahrnehmende Pädagogik
Pädagogisch orientierte Anamnese: Unermüdliche Beobachtung
Und genau das ist es, was auch Maria Montessori von jedem Pädagogen verlangt: die Fähigkeit, immer wieder und genau die konkrete Situation eines Kindes wahrnehmen zu können, ohne zu deuten. Man könnte auch sagen: Montessori fordert eine pädagogisch orientierte Anamnese. Doch das geht nicht so leichthin. Insofern muss die Qualifikation zur professionellen Wahrnehmung eine intensiv geübte Fähigkeit werden, die jeden angehenden Pädagogen in besonderer Weise auszeichnet. Wahrnehmen und nicht werten – das ist eine große Herausforderung, zumal Pädagoginnen und Pädagogen sich manchmal auch dabei ertappen, in eine Situation eher mit dem Gefühl und weniger mit professioneller Distanz hineinzugehen.
Individuelle pädagogische Antworten
Pädagogisch orientierte Diagnose: Vorsichtiges Urteilen
Auf eine pädagogische Anamnese folgt nun die pädagogische Diagnose. Einfach formuliert, ist das der Versuch, eine Antwort auf die Frage zu finden: Was ist mit dem Kind aktuell los? Was ist für seine Entwicklung aktuell notwendig? Vor welchen Herausforderungen steht dieses Kind? Und welche Herausforderungen mute ich dem Kind zu?
Wie in der Medizin jeder Patient eine individuelle Antwort auf seine konkrete Situation erwarten darf, gilt dies auch für die Arbeit mit Kindern. Jedes Kind hat ein Recht auf seine eigene pädagogische Antwort – und zwar in Bezug auf die Lebenssituation, in der es sich aktuell...