E-Book, Deutsch, 512 Seiten
Saramago Das Evangelium nach Jesus Christus
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-455-81339-5
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 512 Seiten
ISBN: 978-3-455-81339-5
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In José Saramagos Version der Geschichte Jesu trifft man auf eine Christusfigur, die durch und durch menschliche Züge aufweist: Lebenshungrig und sinnenfroh, aber auch ängstlich und zweifelnd geht sie durch die Welt. Der bedeutende portugiesische Schriftsteller rüttelt in seiner gewagten Interpretation der "Heilandsgeschichte" an den Fundamenten unserer Kultur und stellt mit beeindruckender Radikalität Geschichte, Religion und Legende in Frage.
Autoren/Hrsg.
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Cover
Titelseite
Für Pilar
Schon viele haben es [...]
Quod scripsi, scripsi.
Die Sonne zeigt sich [...]
Die Nacht wird noch [...]
Es lebten Josef und [...]
Im Übergang vom Monat [...]
Drei Tage später, als [...]
Sie hatten auf dem [...]
Wie stets, seit die [...]
Josef, Zimmermann unter Zimmerleuten, [...]
Schon waren acht Monate [...]
Als langte es dem [...]
So verstrichen die Monate, [...]
Wenn dieser Krieg endet, [...]
Zwei Tage später verließ [...]
Schon herrschte Getümmel auf [...]
Viel war die Rede [...]
Auf Zeit folgt Zeit, [...]
Wie soll ich gehen [...]
Die Sonne war gerade [...]
Monate später, an einem [...]
Wenn Jesus mit den [...]
Da begann die Zeit [...]
Dunstiger Morgen. Der Fischer [...]
Jesus und die Seinen [...]
Wie ein eisiger Hauch, [...]
Über José Saramago
Impressum
Die Sonne zeigt sich in einem der oberen Winkel des Rechtecks, auf der linken Seite, vom Betrachter aus gesehen, das Königsgestirn hat das Aussehen eines Menschenkopfs, von dem im Schwall Strahlen grellen Lichts und gewundene Flammen ausgehen, als wäre sich da eine Windrose unschlüssig über die von ihr anzupeilenden Himmelsrichtungen, und dieser Kopf hat ein Antlitz, das weint, verkrampft in einem Schmerz, der nicht nachläßt, und der offene Mund preßt einen Schrei heraus, den wir nicht hören können, denn nichts von all diesen Dingen ist wirklich, was wir vor uns haben, ist Papier und Tinte, mehr nicht. Unterhalb der Sonne sehen wir einen an den Schaft eines Baumes gefesselten nackten Mann, dessen Lenden ein Tuch umschlingt und jenen Körperteil bedeckt, den wir Geschlecht oder Scham nennen, und die Füße hat er abgesetzt auf das, was von einem gekappten seitlichen Ast übrig ist, allerdings, zu besserem Halt, damit sie von dieser natürlichen Stütze nicht abgleiten, halten zwei Nägel sie fest, tief eingeschlagene. Der Miene zufolge, die verinnerlichtes Erleiden ausdrückt, und der Richtung des Blicks nach, hoch hinan, ist es gewiß der Gute Schächer. Das Haar, ganz in Kringellocken, dürfte ein weiteres untrügliches Zeichen sein, weiß man doch, daß Engel und Erzengel es so tragen, und der reuige Verbrecher ist augenscheinlich schon aufwärts unterwegs, in die Welt der Himmelsgeschöpfe. Nicht feststellen läßt sich, ob dieser Stamm noch Baum ist, nur eben durch gezielte Verstümmelung Hinrichtungsinstrument wurde, sich jedoch durch die Wurzeln weiter nährt aus der Erde, denn seinen unteren Teil verdeckt in Gänze ein Mann von langem Bart, der kostbare, weite, reich wallende Gewandung trägt und ebenfalls in die Höhe schaut, aber nicht zum Himmel auf. Die feierliche Haltung, dieses betrübte Antlitz, das kann nur Josef von Arimathäa sein, denn Simon von Zyrene, zweifellos eine andere mögliche Erwägung, hat sich nach ihm auferzwungener Müh, nachdem er dem Verurteilten beim Tragen des Kreuzes geholfen, zu seinem Tagwerk begeben, weitaus besorgter um die Folgen der Verspätung in einem verabredeten Geschäft denn um die tödlichen Bekümmernisse des zur Kreuzigung bestimmten Unglücklichen. Nun, besagter Josef von Arimathäa ist jener gütige und wohlhabende Mann, der eine ihm gehörende Grabstätte zur Verfügung stellte, damit in sie der erlesene Leib gelagert würde, doch so edle Freigebigkeit wird ihm nicht viel nutzen in der Stunde der Heiligungen, noch nicht einmal der Seligsprechungen, denn sein Haupt umhüllt nur eben ein Turban, mit dem er alle Tage ausgeht, im Gegensatz zu dieser Frau hier im Bildvordergrund, sie mit gelösten Haaren über den krumm gebeugten Schultern, aber geschmückt von der höchsten Gloriole eines Heiligenscheins, der sich bei ihr wie hausgemachte Stickerei abhebt. Mit Sicherheit heißt die da kniende Frau Maria, wußten wir doch von vornherein, daß alle hier versammelten Frauen diesen Namen tragen, nur eine, weil außerdem Magdalena geheißen, unterscheidet sich onomastisch von den anderen, allerdings wird jedweder Beobachter, sofern hinlänglich vertraut mit den elementaren Tatsachen des Lebens, schon beim ersten Hinschauen fest versichern, eben sie sei die erwähnte Magdalena, denn nur eine Person wie sie, von ausschweifender Vergangenheit, könne es gewagt haben, in der Stunde des Verhängnisses mit so offenem Dekolleté aufzutreten, und einem so straff sitzenden Mieder, daß es ihr die Rundungen der Brüste hebt und hervorkehrt, weshalb sie, unvermeidbar, den lüsternen Blick der vorbeigehenden Männer auf sich lenkt und festhält, sehr zum Schaden der Seelen, die der schändliche Leib solcherweise ins Verderben zieht. Allerdings ist ihre Miene Zerknirschung und Trauer, und des Körpers Hingabe drückt nur den Schmerz einer Seele aus, einer freilich von verführerischen Fleischmassen umhüllten, die wir zu beachten haben, wir meinen die Seele, freilich, denn diese Frau könnte gar auch splitternackt sein, gesetzt man hätte sie lieber in solchem Zustand dargestellt, und wir müßten ihr dennoch Achtung und Ehre erweisen. Maria Magdalena, sofern sie es ist, hält schirmend und offenbar zu küssen bereit, mit einer in Worten nicht ausdrückbaren Geste des Erbarmens, die Hand einer anderen Frau, die nun in der Tat zur Erde gesunken ist, wie aller Kräfte bar oder auf den Tod verwundet. Auch ihr Name ist Maria, sie die zweite im Ablauf der Vorstellung, aber, ohne Zweifel, dem Range nach die allererste, sofern die zentrale Stelle, die sie in der unteren Region der Komposition einnimmt, irgend von Belang ist. Ausgenommen das tränenüberströmte Gesicht und die schlaffen Hände, ist von ihrem Körper nichts zu sehen, da ihn die vielen Falten des Umhangs verhüllen als auch der Tunika, die ein derber Strick gürtet, wie man errät. Sie wirkt älter als die andere Maria, und das ist doch wohl ein guter, indes nicht der einzige Grund, weshalb ihre Aureole komplexere Zeichnung hat, das zumindest dürfte mutmaßen, wer, auch wenn nicht genau in Kenntnis der diese Welt regierenden Vorränge, Patente und Hierarchien, zu einem Urteil genötigt wäre. Nun aber, bedenkt man den Grad der Verbreitung, dank höherer und niederer Künste, von solchen Ikonographien, würde nur ein Bewohner von anderem Stern, sofern sich auf jenem dieses Drama nicht irgendwann wiederholte oder dem unseren voraus abspielte, würde nur dieses in Wahrheit unvorstellbare Wesen nicht wissen, daß jene schmerzvoll bekümmerte Frau die Witwe eines Josef genannten Zimmermanns ist und Mutter vieler Knaben und Mädchen, aus deren Schar sich, vom Schicksal erkoren, oder jenem, der es regiert, indes nur ein einziges ihrer Kinder fruchtbar hervortat, mittelmäßig zu Lebzeiten, mehr aber nach dem Tode. Maria, die Mutter Jesu, denn hier war soeben er gemeint, beugt sich über ihre linke Seite vor und stützt den Unterarm auf die Hüfte einer weiteren knienden Frau, die ebenfalls Maria heißt und letztlich, obwohl wir ihr Dekolleté nicht sehen noch es erahnen, vielleicht die wahre Magdalena ist. Wie die erste in der Dreiheit von Frauen hat auch sie auf die Schultern fallendes loses langes Haar, dieses nun aber wirkt sehr blond, sofern der abweichende Pinselstrich nicht reiner Zufall, leichter hier und Freiräume lassend zwischen den Strähnen, was dem Graveur, verständlicherweise, Gelegenheit gab, die Frisur im Farbton aufzuhellen. Solche Überlegungen mögen nicht zur Behauptung herhalten, Maria Magdalena sei in der Tat Blondine gewesen, wir fügen uns lediglich dem Drall der Meinungsmehrheit, die sich darauf versteift, in jenen, die blond sind, ob von Natur oder gefärbt, die wirkungsvollsten Instrumente der Sünde und der Verderbnis zu erblicken. Da Maria Magdalena, weiß man allgemein, ein so sündiges Weib war, so verderbt wie selten eine, müßte sie, den von der halben Menschheit im Guten als auch im Schlechten erworbenen Überzeugungen gerecht, blond gewesen sein. Allein, nicht weil diese dritte Maria im Vergleich mit der anderen von Antlitz und in Haarfarbe heller dünkt, wollen wir, gegen die umwerfenden Augenscheinlichkeiten eines tiefen Ausschnitts und einer anbieterisch gezeigten Brust, erwägen und vorschlagen, sie sei die Magdalena. Ein anderer, höchst überzeugender Beweis stützt und bestätigt unsere Mutmaßung, und zwar hebt besagte Frau, obschon sie mit zerstreuter Hand die hinfällig erschöpfte Mutter Jesu schirmt, hebt sie, jawohl, den Blick in die Höhe, und dieser Blick, von wahrer und inbrünstiger Liebe, schwingt sich so kraftvoll auf, daß er, meint man, den Körper in Gänze mit fortträgt, all sein fleischliches Sein, gleichsam strahlende Aureole und imstande, den Lichthof zu überstrahlen, der ihr Haupt bereits umgibt und Gedanken und Gefühle mindert. Nur eine Frau, die so heftig liebte wie unserer Vorstellungnach Maria Magdalena, wäre eines solchen Blickes fähig, womit letztendlich bewiesen ist, daß sie es ist, keine andere, und also ausgeschlossen auch jene neben ihr befindliche, vierte Maria, die in frommer Gebärde dasteht, die Hände halb erhoben, jedoch mit vagem Blick, auf dieser Seite der Gravüre einem jungen Mann Gesellschaft leistend, der kaum mehr als ein Jüngling ist und geziert das linke Bein winkelt, so, am Knie, während die geöffnete rechte Hand affektiert theatralisch auf die gegen den Boden geduckte Frauengruppe weist, der es oblag, das Dramatische des Vorgangs ins Bild zu setzen. Besagte noch so junge Person mit lockigem Haar und bebender Lippe ist Johannes. Wie Josef von Arimathäa verdeckt er mit dem Körper den unteren Teil eines weiteren Baumstammes, der in der Höhe, da, wo sonst die Nester, ebenfalls einen nackten Mann trägt, auch er mit Nägeln angeheftet, jedoch von glattem Haar, und sein Kopf hängt herab, er schaut zur Erde, sofern er das noch vermag, und sein mageres und schmutziges Gesicht dauert einen, im Gegensatz zu dem des Räubers der anderen Seite, der uns selbst noch in den letzten Zügen, im leidensvollen Hinsterben, ein Gesicht vorzeigt, das wir uns, auch wenn hier der Farbe bar, ohne Mühe als rosig vorstellen können, denn er führte einst genüßliches Diebesleben. Dieses jämmerliche Überbleibsel aber, ausgemergelt, strähnig, sein Kopf herabgesackt, zur Erde hin, die ihn verschlingen wird, zweimal verdammt, zum Tode und zur Hölle, er kann nur der Böse Schächer sein, ein höchst aufrechter Mann gleichwohl, von genügend Bewußtheit und Schneid, um, unter dem Druck der göttlichen und der menschlichen Gesetze, nicht so zu tun, als glaubte er, eine Minute der Reue reichte aus, mit ihr ein ganzes Leben voller Schurkereien oder eine Stunde der Schwachheit wettzumachen. Über ihm, ebenfalls weinend und klagend wie die Sonne vornan, sehen wir den Mond, vom Antlitz einer Frau, der, unpassend, ein Ring das Ohr ziert, eine Kühnheit, die sich ehedem kein Künstler oder Dichter erlaubt haben mag, und wohl...