Sandig Flamingos
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-89561-867-3
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Geschichten
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-89561-867-3
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ulrike Almut Sandig wurde in Großenhain geboren. Bisher erschienen von ihr vier Gedichtbände, drei Hörbücher, zwei Erzählungsbände, ein Musikalbum mit ihrer Poetry-Band Landschaft sowie zahlreiche Hörspiele. Ihre Gedichte wurden verfilmt und übersetzt, für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Preise. Zuletzt wurde sie 2018 mit dem Wilhelm-Lehmann-Preis, 2020 mit dem Roswitha-Preis und 2021 mit dem Erich-Loest-Preis ausgezeichnet. 2023 gewann sie den Robert Gernhardt Preis. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.
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Über mich
Das ist die Geschichte von jemandem, den es nie gegeben hat. Sie handelt von mir. Ehrlich gesagt ist es keine Geschichte, in der besonders viel passiert. Ich kann weder berufliche noch familiäre Höhepunkte vorweisen, auf die ich hoffnungsvoll und gelegentlich auch größenwahnsinnig hingearbeitet hätte. Es gibt auch keinen Holzweg, den ich Ihnen später als den Lebensweg einer Frau präsentieren würde, die trotz oder vielleicht gerade wegen aller Fehler, aus denen sie nie gelernt hat, eine Person ist, in die Sie sich umso lieber hineinversetzen. Aber können Sie mit jemandem fühlen, den es nie gegeben hat? Nein. Können Sie nicht. Können Sie mich mögen? Auch nicht. Möglicherweise beneiden Sie mich, wenn in Ihrem eigenen Leben etwas schief läuft, weil Sie aus Ihren Fehlern mal wieder nichts gelernt haben. Aber vielleicht können Sie gar nichts dafür. Kann auch sein. Dann stehen Sie am Fenster Ihres Arbeitgebers, der eben das Büro verlassen hat, um die Kündigung noch schnell auf den Kopierer zu legen, Sie stehen so da und trinken den Multivitaminsaft, den er Ihnen angeboten hat, Sie stemmen die Hand ans Fensterglas, die wird später einen Fettfleck hinterlassen, aber daran denken Sie jetzt nicht, Sie denken: Wär ich bloß einfach nicht da. Dabei geht es gar nicht um mich, wenn Sie solche Sachen denken. Es gibt mich gar nicht. Aber es gibt diese Geschichte, auch wenn es nur eine Geschichte ist. Ich erzähle Ihnen, wer ich nie gewesen bin.
Ich fange richtig weit hinten an: viele Jahre nach dem Tod, den ich nicht gestorben bin. So viele Jahre danach, dass es schon keine Rolle mehr spielt, wie lange das eigentlich her ist. Man fragt sich auch gar nicht, wann es passiert ist und unter welchen Umständen, und das hat einen einfachen Grund: Man kennt mich nicht. Dieser Teil der Geschichte ist mir am liebsten, weil es nicht den geringsten Unterschied macht, ob ich von mir spreche oder von Ihnen. Auch an Sie wird man sich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nicht erinnern. Auch nach Ihnen wird keiner fragen: Wann ist der gleich gestorben? Was hat der immer getrunken, Multivitaminsaft? Man erinnert sich nicht an Sie. Man hat Sie nie gekannt. Sollte jemand doch nach Ihnen suchen, findet er Sie zwar in den Kirchenbüchern und den Archiven des Einwohnermeldeamts, aber er findet nichts als Ihren Namen und ein paar Daten: Geburtstag, Todestag und andere Nebensächlichkeiten. Aber was sagt das schon über Sie? Es ist ganz so, als hätte es Sie nie gegeben. An genau dieser Stelle sind Sie wie ich.
Anders sieht es aus, wenn nicht mehr als ein paar Jahre nach Ihrem oder meinem Tod vergangen sind. Man denkt sich: Hätte ich ihr doch noch was Schönes zum Anziehen gekauft, als sie schon nicht mehr aus dem Bett rauskam, sie hat es sich so gewünscht. Wär ich sie nur öfter besuchen gekommen. Warum bin ich nicht da gewesen, als sie gestorben ist? Warum hab ich mich nicht mehr verabschiedet? Und dieser Streit, als ich zum letzten Mal da gewesen bin, der war doch unnötig, oder. Aber sie war auch eine starrköpfige Person. Und launisch, vor allem am Schluss! Dass sie immer geweint hat, sie wolle wieder heim zu ihren Katzen, vor allem zur Mohrle: Die hat doch gerade gejungt, die Mohrle, die braucht mich doch jetze!, hat sie immer gerufen. Und dann wollte sie natürlich gleich aufstehen und ist aus dem Bett gefallen, und es hat zwei Pfleger gebraucht, um sie wieder reinzuheben, weil sie so dick gewesen ist. Aber kaum waren die aus dem Raum, hat sie es noch mal versucht und ist spätestens an der Zimmertür wieder umgefallen. Und da hat sie natürlich geweint, dabei hätte sie doch auch liegen bleiben können, aber sie war eben ein Starrhals, ja, das war sie. Und wenn sie sich wirklich in den Kopf gesetzt hat, vor meinem nächsten Besuch zu sterben, dann hat es jedenfalls geklappt. Ich hab es so satt gehabt. Ich war richtig erleichtert.
Aber das denkt man nur, man spricht es nicht aus. Oder wenn doch, dann nur in den eigenen vier Wänden, und am Ende wird man getröstet und ein Weilchen im Arm gehalten, und dann geht es schon wieder besser, danke. Andere, die mich nicht so gut kennen, reden lauter. Sie fragen: War das nicht die Frau von dem Parteisekretär? Quatsch, die war doch keine rote Socke. Das sag ich auch gar nicht, dass sie eine rote Socke war, ich sag ja nur, dass sie mit dem Parteisekretär verheiratet gewesen ist. Aber sie war wirklich keine rote Socke, sie hat ja sogar noch Leuten geholfen, die rüber wollten. Leuten geholfen, woher willst du das denn wissen? Hat sie mir selber erzählt. Und das glaubst du dann, wenn dir die Frau vom Parteisekretär erzählt, sie hätte Leuten geholfen, die rüber wollten? Warum denn nicht? Am Ende hat sie noch Berichte über die getippt! Hat sie das wirklich? Und wie sie das hat, sie war doch immer so freundlich und hat sich ständig nach einem erkundigt. Sieh mal einer an. Was soll das heißen, sieh mal einer an? Das soll heißen, dass ich mir schon so was gedacht hab. – Und so wird geredet und geredet, bis in die tiefe Nacht hinein, und am Ende aller Gespräche geht die Sonne wieder auf und niemand weiß mehr so recht, was wahr und was falsch ist und um wen genau es am Ende ging.
Es könnte auch um Sie gehen. Aber was, wenn ich einen Schritt zurück gehe? Dann bin ich gerade dreiundachtzig geworden und bei klarem Verstand, ich habe eine ziemlich lange Geschichte hinter mir und so viele Erinnerungen parat, dass ich am liebsten in der Vergangenheitsform spreche. In Wirklichkeit habe ich natürlich keine andere Geschichte als die, die Sie gerade lesen, aber nur mal angenommen: In der obersten Schublade liegt ein Portraitfoto von mir im Firmungskleid, auf dem bin ich richtig schön: braungebrannte Arme in schneeweißen Puffärmeln und die blitzenden Augen unterm Fotografenhimmel. Meine Enkelin Fanny sitzt auf dem Bettrand und kramt in meinen Sachen herum, bis sie dieses Bild in den kleinen weichen Händen hält. Wer ist das?, fragt sie mich und runzelt dabei die Augenbrauen, die wie die Augenbrauen des Mädchens auf dem alten Bild aussehen. Ich bin das, sage ich. Wer sonst? Dass ich mich seitdem kein bisschen verändert habe, dass ich immer noch die mit dem versponnenen Dickschädel bin, dass ich mich bei Gewitter genauso fürchte wie damals, obwohl auf die Blitzableiter inzwischen Verlass ist, dass mir der Krieg noch so in den Knochen sitzt, dass ich immer essen könnte, wirklich immer, dass ich überhaupt so einen schrecklichen Appetit auf alles Süße habe, als läge das ganze große Leben noch vor statt hinter mir, das alles sage ich Fanny nicht. Ich sage nur: Ich bin das. Wer sonst? Aber Fanny hört nicht auf, die Augenbrauen zu runzeln. Du sollst das sein? Das glaub ich nicht!, ruft sie, du veräppelst mich bloß! Und weil ich ja selber ein Mädchen bin, das bloß unterm Faltenkostüm versteckt gehalten wird, lasse ich es drauf ankommen und stelle Fanny die unmöglichste Frage überhaupt: Denkst du denn, ich war nicht auch mal jung? Fanny legt den Kopf schief und überlegt. Und dann drückt sie ihre kleinen weichen Hände an meinen Hals und lacht: Nein, Oma, du warst doch nicht jung!
Kleine steife, faltige Menschen sind wir. Wir leben in der Gegenwart unserer Enkel, als wären wir nie etwas anderes gewesen als alt, und als müssten wir niemals sterben. Ob wir wirklich ein Leben hatten, ein eigenes Leben ganz für uns allein, oder nicht, spielt keine Rolle. Vielleicht haben die Jungen recht und wir sind schon immer so alt gewesen wie heute, unser Gehirn gaukelt uns alles bloß vor. Dann ist unsere Lebensgeschichte nichts weiter als ein biochemischer Traum. Wir haben einfach keine Beweise, dass wir das wirklich gewesen sind.
Und jetzt kommt das Loch in meiner Geschichte, weil ich nichts von dem, an das Sie sich erinnern, selber erlebt habe. In den Sommerferien war ich mit Fanny nicht im Freibad und über Silvester mit meinem Sohn nicht in Venedig, wir hatten nicht dieses kleine Hotelzimmer auf dem Lido mit dem glatzköpfigen Hotelier am Nachtschalter, mit dem ich mich unterhalten habe, während ich vor lauter Schlaflosigkeit ganze Stapel von Ansichtskarten beschrieb. Ich habe die schwankenden Ufer Venedigs überhaupt nicht gesehen und auch nicht den Mann hinter dem Gepäckschalter der Basilica di San Marco, der an einer Komposition mit fünf Instrumenten schrieb, wenn gerade niemand seinen Rucksack abgeben wollte. Zu Hause hab ich nicht dieses Fertigteilhaus aus Schweden und auch nicht diesen redseligen Mann, der mir mit den Jahren immer ähnlicher wird, so ähnlich, dass er manchmal errät, was ich von uns beiden halte, und dem ich deswegen aus dem Weg gehe. Ich habe meinen Sohn nicht gesehen, wie er jeden Morgen seine ersten flaumigen Barthaare nassrasiert hat, immer schön vorsichtig um die Pickel herum. Und ich hatte nicht diese Stelle an der Frauenklinik, in der ich Kindern auf die Welt geholfen habe oder aus ihr heraus, und von der ich jeden Abend mit dunkel verschmierten Armen und den Ohren voller erster Schreie nach Hause gefahren bin, auf dem Rennrad, das mir mein Mann zum zweiten Hochzeitstag geschenkt hat und das ich viel lieber hatte als alle eleganten Damenräder in späteren Jahren. Aber ich habe ja kein Rennrad und keinen Mann, ich habe nie geheiratet und ich war niemals verliebt. Wir waren nie zusammen im Karpfenteich schwimmen, mitten in der Nacht und mit einer brennenden Fackel ausgerüstet, die er aus einer mit der Sonntagsschürze seiner Mutter umwickelten Zaunlatte und ein bisschen Teer gebastelt hatte. Der erste Sex mit ihm hat nicht so fürchterlich wehgetan, dass ich ihn danach drei Wochen lang nicht treffen wollte, und in dieses Mädchen habe ich mich auch nicht verknallt, dieses Mädchen mit dem kinnlangen, feuerroten Haar an meiner Schule. Überhaupt diese Schule, sie ist nur ein böser Traum, ich war gar...