E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Sand Die Erfindung des Landes Israel
12001. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8437-0342-0
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mythos und Wahrheit
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0342-0
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Shlomo Sand, geboren 1946 als Kind polnischer Juden in Linz. 1949 Übersiedlung der Familie nach Israel. Nach dem Studium der Sozialwissenschaften in Paris lehrt Sand Geschichte an der Universität Tel Aviv. Er zählt zu den führenden Intellektuellen Israels und zu den schärfsten Kritikern der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern. Bei Propyläen erschienen »Die Erfindung des jüdischen Volkes« (2010), »Die Erfindung des Landes Israel« (2012) und »Warum ich aufhöre, Jude zu sein« (2013).
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I. Ein Vaterland erschaffen:
Vom biologischen Imperativ zum
Eigentum der Nation
Was ist denn ein Vaterland? Ein Vaterland ist ein Stück Erde, an allen Seiten von Grenzen, meist unnatürlichen Grenzen, eingefasst. Engländer sterben für England, Amerikaner sterben für Amerika, Deutsche sterben für Deutschland, Russen sterben für Russland. Es beteiligen sich bereits fünfzig oder sechzig Länder an diesem Krieg, und ganz gewiss können es doch nicht alle diese Länder wert sein, dass man für sie stirbt.
Joseph Heller, Catch 22
Man muß, um die von Fichte in seinen »Reden an die deutsche Nation« von 1808 verwendete Terminologie aufzugreifen, dafür Sorge tragen, daß die »äußeren Grenzen« des Staates auch »innere Grenzen« werden, oder – was auf das Gleiche hinausläuft – daß die äußeren Grenzen ständig als Projektion und Schutz einer inneren kollektiven Identität gedacht werden, die jeder in sich trägt und die es ihm erlaubt, den Staat räumlich und zeitlich als einen Ort zu erleben, wo man immer gewesen ist und wo man immer »zuhause« sein wird.
Etienne Balibar, Immanuel Wallerstein,
Rasse, Klasse, Nation: Ambivalente Identitäten
In den theoretischen Diskursen zu Nation und Nationalismus, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts geführt wurden, hat die Frage der Konstruktion eines modernen Vaterlandes nur eine relativ marginale Rolle gespielt. Dem territorialen Raum, sprich: der Hardware, in dem die Nation ihre Souveränität verwirklicht, wurde nicht dieselbe wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil wie der Software – dem Verhältnis zwischen Kultur und politischer Herrschaft etwa, oder der Funktion historischer Mythen bei der Gestaltung des nationalen Körpers. Denn so wie das nationale Projekt sich ohne Staatlichkeit und ohne erfundene Vergangenheit nicht verwirklichen kann, so ist es auch auf die geographisch-materielle Phantasie von einem eigenen Territorium angewiesen, das ihm als Ansatzpunkt und leidenschaftlich verfolgtes Ziel dient.
Doch was ist ein Vaterland? Ist es der Ort, von dem Horaz einst behauptete, für ihn zu sterben sei »süß und ehrenvoll«? Unzählige Jünger des Nationalismus haben in den letzten zweihundert Jahren in vielen Sprachen und vielfältigen Varianten dieses bekannte Diktum zitiert.37 Doch ihre Absicht deckte sich nicht mit der Bedeutung, die der berühmte römische Dichter diesem Satz im 1. Jahrhundert v. u. Z. zugedacht hatte.
Da viele der Begriffe, die wir heute verwenden, aus den Beständen der Sprachen des Altertums geplündert wurden, fällt es heute schwer, zwischen ihrem früheren emotionalen Gehalt und den heutigen Sensibilitäten zu unterscheiden. Die Gefahr des Anachronismus schwebt schließlich über jedweder Begriffsprägung, sofern diese nicht von einem akribischen historiographischen Prüfungsverfahren begleitet wird. Sicherlich existiert in allen Sprachen der Begriff des »Vaterlandes«, doch transportiert dieser – wie bereits angedeutet – nicht immer dieselben Inhalte.
In den ältesten griechischen Dialekten findet sich die »patrida« () und etwas später die »patris« (), die in Form der »patria« in das antike Latein einfließen. Der Ursprung des Begriffes findet sich selbstverständlich im Substantiv »pater«. Diese »väterliche« Präferenz sollte einigen modernen europäischen Sprachen ihren Stempel aufdrücken. Das italienische, spanische und portugiesische »patria«, die französische »patrie« und noch einige Versionen mehr nähren sich aus der Sprache der alten Römer. Da der lateinische Ausdruck das »Land des Vaters« meint, wurde im Englischen »fatherland«, im Deutschen »Vaterland« oder im Niederländischen »Vaderland« daraus. Parallel dazu lassen sich jedoch auch alternative Grundlagen für die Definition von Vaterland finden, die etwa der Mutter den Vorzug geben, so etwa im englischen »motherland«, oder aber dem Haus, wie im englischen »homeland«, in der deutschen »Heimat« oder dem jiddischen »Heimland«. Im Arabischen hingen hat der Begriff »Watan« () eine etymologische Verwandtschaft zum hebräischen Ausdruck »Nachala« (Grundbesitz, Erbschaft).
Die zionistischen Gelehrten indes, die Begründer des modernen Hebräisch, deren eigene Muttersprache in aller Regel Russisch (und /oder Jiddisch) war, entnahmen, offenbar unter dem Einfluss des russischen »Rodina« (), der Bibel das Wort »Moledet«, das eher »Geburtsort« oder »Herkunftsregion der Familie« bedeutet. Auf jeden Fall gleicht das russische »Rodina« stark der deutschen »Heimat«, und das Mitschwingen eines romantischen (oder vielleicht auch sexuellen) Verlangens deckte sich offensichtlich mit der zionistischen Beziehung zur mythologischen Heimat.38
Wie dem auch sei, dem Begriff »Moledet« (Vaterland) wurden auf seiner Odyssee vom antiken Mittelmeerraum über das mittelalterliche Europa bis hin zur Schwelle der Moderne unterschiedliche Bedeutungen angeheftet, die in aller Regel nicht mit den Inhalten deckungsgleich sind, die ihm mit dem Aufkommen des Nationalismus zugewiesen wurden. Doch bevor ich dieser Sache auf den Grund gehe, gilt es, das Bewusstsein von einigen weitverbreiteten Vorurteilen zu befreien, Vorurteilen über die Beziehung von Menschen zu den territorialen Räumen, in denen sie leben.
1. Das Vaterland – ein natürlicher Lebensraum?
Im Jahre 1966 legte der bekannte Ethnologe Robert Ardrey einen kleinen soziobiologischen Sprengsatz, der erstaunliche Schockwellen in einer unverhofft breiten Leserschaft auslöste. Sein Buch The Territorial Imperative. A Personal Inquiry into the Animal Origins of Property and Nations39 trat mit keiner geringeren als der Absicht an, unser gesamtes Denken über Territorien, Grenzen und Lebensräume herauszufordern. Hatte es bis dahin so geschienen, als wäre die Verteidigung des eigenen Heims, des Dorfes oder des Vaterlandes von jeher ein Ausdruck bewusster Interessen und das Ergebnis einer kulturell-historischen Entwicklung, so versuchte Ardrey nachzuweisen, dass ein abgestecktes Territorium und das Bewusstsein für Grenzen tief in evolutionären biologischen Prozessen verankert sind. Von Geburt an sei den Menschen der Drang zu eigen, Territorium in Besitz zu nehmen und es mit allen Mitteln zu verteidigen. Dieser Drang sei ein erblicher Instinkt, der allen Lebewesen diktiere, wie sie sich unter bestimmten Umständen zu verhalten haben.
Nach ausgedehnten Beobachtungen unterschiedlicher Tierarten und Gattungen war Ardrey zu dem Schluss gelangt, dass, wenn auch nicht alle, so doch sehr viele Spezies ein Territorialverhalten an den Tag legen. Dieses Revierverhalten sei ein angeborener Instinkt bei Lebewesen unterschiedlichster Gattung, der sich durch natürliche Auslese und winzige genetische Veränderungen entwickelt habe. Eine gründliche empirische Studie zeige, so Ardrey, dass territoriale Tiere jeden Eindringling vehement angreifen, insbesondere, wenn es sich dabei um Artgenossen handelt. So seien etwa die Kämpfe zwischen männlichen Tieren in einem bestimmten Gebiet, die Forscher in der Vergangenheit für Duelle um die Weibchen gehalten hätten, in Wahrheit gnadenlose Kämpfe um Besitzrechte. Noch weitaus überraschender aber sei, dass die Herrschaft über ein Territorium den Besitzern offensichtlich Kräfte verleiht, die den Eindringlingen fehlen. Bei den meisten Spezies existiere so etwas wie eine »universale Anerkennung territorialer Besitzrechte«, die alle Machtverhältnisse unter ihnen bedingt und steuert.
Also stellte Ardrey die Frage, warum Lebewesen auf ein Territorium angewiesen sind. Dafür gebe es eine ganze Reihe von Gründen, doch entscheidend seien zwei: 1) Das gewählte Gebiet liefert die materielle Existenzgrundlage der Lebewesen, sprich: Nahrung und Wasser. 2) Das Territorium dient als Schutzzone und Zufluchtsstätte vor Fressfeinden. Diese beiden primären Territorialbedürfnisse seien in einem langen evolutionären Prozess Bestandteil des genetischen Erbes der »Territorialisten« geworden. Dieses Erbgut erzeuge ein Bewusstsein für Grenzen und sei die eigentliche, alles entscheidende Grundlage für das Entstehen von Herden oder Schwärmen. Der Zwang, einen Lebensraum zu verteidigen, sei Auslöser für die Gemeinschaftsbildung unter Tieren, und diese fest vereinigte Gruppe ziehe dann in Konflikte mit anderen Kollektiven derselben Spezies.
Hätte es Ardrey bei einer bloßen Beschreibung des Verhaltens von Tieren belassen, wäre seine Studie wohl nur Gegenstand einer Polemik unter Experten für Ethologie geworden und hätte deutlich weniger Aufmerksamkeit erfahren, ungeachtet seines fesselnden rhetorischen Talents und seiner bildstarken Sprache.40 Doch seine theoretische Zielsetzung und seine Schlussfolgerungen waren weitaus ambitionierter. Jenseits einiger empirischer Vermutungen auf dem Gebiet der Zoologie ging es Ardrey darum, die »Spielregeln« menschlichen Verhaltens über Generationen hinweg zu verstehen. Die Entdeckung der territorialen Dimension in der Fauna machte es, seiner Meinung nach, auch möglich, das Entstehen von Nationen und die Konflikte zwischen diesen in der gesamten Menschheitsgeschichte zu verstehen. Von dieser These ausgehend gelangte Ardrey zur folgenden höchst verstörenden Feststellung:
Wenn wir unseren Besitz oder unser Land verteidigen, so sind die Gründe hierfür die gleichen, ebenso angeboren und...