E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Saini Die Patriarchen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-446-27738-0
Verlag: hanserblau in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Auf der Suche nach dem Ursprung männlicher Herrschaft
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-446-27738-0
Verlag: hanserblau in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'Angela Saini ist eine unheimlich kluge Autorin, die komplexe Sachverhalte einfach und lesenswert vermitteln kann.' Alice Hasters
Was ist das Patriarchat, und wie ist es entstanden? Jahrhundertelang sahen Gesellschaften männliche Vorherrschaft als natürlich an. Was aber, wenn wir nicht davon ausgehen, dass Männer stets über Frauen herrschten? Wenn wir die Ungleichheit der Geschlechter als etwas Fragiles wahrnehmen, das immer wieder neu durchgesetzt werden muss?
Die preisgekrönte Autorin Angela Saini erzählt radikal neu, was wir 'Patriarchat' nennen. Sie erforscht die Ursprünge männlicher Herrschaft in den frühesten menschlichen Siedlungen, in kulturellen Praktiken aus der ganzen Welt und aktuellsten Daten aus der Wissenschaft. Entstanden ist eine umfassende Geschichte des Patriarchats: vielschichtig, von Ort zu Ort unterschiedlich, zutiefst menschengemacht - und endlich.
Angela Saini, geboren 1980 in London, lebt in New York. Die dekorierte Wissenschaftsjournalistin arbeitete für die BBC, schrieb unter anderem für den Guardian und National Geographic und ist Teil der Berliner Humboldt Residency 2022. Die Patriarchen ist ihr erstes Buch, das auf Deutsch erscheint.
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Einleitung
Während ich dieses Buch schrieb, haben mich Bilder von Göttinnen beschäftigt. Es gibt besonders eines, zu dem ich immer wieder zurückkehre.
Dabei handelt es sich um eine weitverbreitete indische Lithografie, die vor etwas mehr als einem Jahrhundert entstand. Kali, die Dämonentöterin, Symbol des Todes und der Zeit, fordert uns auf, das von ihr angerichtete Blutbad zu betrachten. Ihre Augen sind aufgerissen und ihre Zunge gebleckt, ihre blaue Haut leuchtet auf dem Papier. Gewelltes schwarzes Haar fällt ihr bis zur Taille, auf der sie einen Rock aus körperlosen Armen trägt. Abgeschlagene Köpfe sind wie ein Blumenkranz um ihren Hals geschlungen. In einer Hand hält sie ein Schwert, in der zweiten den Kopf eines Dämons, in einer dritten einen Teller, um sein tropfendes Blut aufzufangen, und die vierte Hand deutet ausgestreckt auf die blutige Szene um sie herum.
Altindische Göttinnen und Götter erscheinen oft grenzüberschreitend, wie aus anderen Universen herbeigerufen. In der Zeit des Britischen Weltreichs fürchteten die britischen Behörden und die christlichen Missionare in Indien Kali so sehr, dass nationalistische Revolutionär:innen sie als Symbol gegen die Kolonialherrschaft erkoren. Es gibt Darstellungen, in denen sie Leichen als Ohrringe trägt, ganze Körper, die durch ihre Ohrläppchen gefädelt sind. »Was für ein schreckliches Bild«, schrieb eine Engländerin 1928 in einem von der Bible Churchmen’s Missionary Society veröffentlichten Traktat. »Und diese unzivilisierte wilde Gottheit nennen sie die sanfte Mutter!«
Das Widersprüchliche an Kali ist, dass sie eine göttliche Mutter ist, die jede moderne Annahme über Weiblichkeit und Macht infrage stellt. Ob als Spiegelbild der Menschheit oder eine Umkehrung davon, die Tatsache, dass sie überhaupt erdacht wurde, bleibt erstaunlich. Im 21. Jahrhundert bezeichnen Frauenrechtlerinnen von Neu-Delhi bis New York sie als die »feministische Ikone, die wir heute brauchen«. In Kali können wir immer noch unser Potenzial erkennen, die soziale Ordnung zu zerstören. Wir können uns die übermächtige Wut im Herzen der Unterdrückten vorstellen. Wir können uns sogar fragen, ob das die Köpfe der Patriarchen unserer Geschichte sind, die sie um den Hals trägt.
Das ist die Macht, die unsere Vergangenheit auf uns ausübt. Warum muss uns im 21. Jahrhundert eine Figur aus der antiken Geschichte unsere Macht, die Welt zu verändern, vor Augen führen? Was kann uns Kali schenken, das wir nicht in uns selbst finden können? Der Philosoph Kwame Anthony Appiah fragte einmal, warum einige von uns an eine gleichberechtigtere Vergangenheit glauben müssen, um sich eine gleichberechtigtere Zukunft vorstellen zu können. Diese Frage beschäftigt Historiker:innen, Wissenschaftler:innen, Anthropolog:innen, Archäolog:innen und Feminist:innen noch heute. Als Wissenschaftsjournalistin, die über Rassismus und Sexismus schreibt, denke auch ich oft darüber nach. Uns interessiert, wie unsere Gesellschaften so strukturiert wurden, wie sie es heute sind — und wie sie vorher waren. Wenn wir Kali sehen, versuchen wir, denke ich, nach der Idee zu greifen, dass es eine Zeit gab, in der Männer nicht herrschten, eine verlorene Welt, in der Weiblichkeit und Männlichkeit nicht das bedeuteten, was sie heute bedeuten.
Dieser Wunsch nach einem historischen Vergleich sagt uns noch etwas anderes. Er deutet darauf hin, wie hoffnungslos sich unser Leben manchmal anfühlen kann. Das Wort, mit dem wir heute die Unterdrückung von Frauen beschreiben — »Patriarchat« — ist niederschmetternd und allumfassend und schließt jeglichen Missbrauch und jegliche ungerechte Behandlung von Frauen und Mädchen auf der ganzen Welt ein, von häuslicher Gewalt und Vergewaltigung bis hin zum Lohngefälle zwischen Männern und Frauen und der Doppelmoral, mit der sie behandelt werden. Nimmt man all das zusammen, scheinen diese Realitäten aufgrund ihres bloßen Ausmaßes und ihrer Tragweite außerhalb unserer Kontrolle zu liegen. Das Patriarchat beginnt wie eine riesige Verschwörung auszusehen, die bis weit in die Vergangenheit zurückreicht. Irgendetwas Schreckliches muss in dunkler Vorzeit geschehen sein, um uns dorthin zu führen, wo wir jetzt sind.
Wenn es nur so einfach wäre.
*
Seit Langem bemühen sich Menschen, die Ursprünge des Patriarchats zu verstehen.
1680 verteidigte der englische Politiktheoretiker Sir Robert Filmer in Patriarcha das Gottesgnadentum der Monarchie mit dem Argument, der Staat sei wie eine Familie, mit Königen in der Rolle der Väter und ihren Untertanen als Kindern. Das königliche Staatsoberhaupt war der ultimative irdische Patriarch von Gottes Gnaden, dessen Handlungsmacht auf die Patriarchen der biblischen Zeit zurückging. In Filmers Vision des Universums — der Vision eines eigennützigen Adeligen — war das Patriarchat naturgegeben. Es begann im Kleinen in der Familie, wo der Vater über seinen Haushalt herrschte, und endete im Großen, wo es sich in den Institutionen der Politik, des Rechts und der Religion widerspiegelte.
Mitte des 19. Jahrhunderts und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigten sich Intellektuelle erneut mit der Frage, was das Patriarchat sei und wie es zustande gekommen sei. War es die umfassende Herrschaft aller Männer über alle Frauen, oder handelte es sich um etwas Spezifischeres? Ging es um Geschlecht, oder ging es um Arbeit? Wurde das Patriarchat vom Kapitalismus gestützt, oder war es unabhängig davon? Hatte es überhaupt eine Geschichte, oder war es ein universelles, von der menschlichen Natur bestimmtes Muster?
Robert Filmers These der Wiederholung des Kleinen im Großen überzeugte auch Jahrhunderte später noch. In Sexus und Herrschaft, einem klassischen Text der feministischen Theorie aus dem Jahr 1970, definierte die US-amerikanische Aktivistin Kate Millett das Patriarchat als die Machtausübung älterer Männer auf jüngere Männer sowie die Machtausübung auf Frauen durch Männer im Allgemeinen. Man ging also weiterhin davon aus, dass die geschlechtsspezifische Macht, ausgehend vom Vater, vom Haus auf die Gemeinde und den Staat ausstrahle.
Es blieb jedoch die Frage, wie Männer überhaupt zu dieser Macht gekommen waren. 1979 stellte die britische Soziologin Veronica Beechey bei der Lektüre eines inzwischen reichhaltigen Kanons an feministischen Schriften über das Patriarchat fest, dass männliche Vorherrschaft häufig auf Sex und Fortpflanzung zurückgeführt wurde. Der pathologische Drang von Männern, die Körper von Frauen zu kontrollieren, wurde als Grund für die Unterdrückung von Frauen angesehen. »Doch«, so schrieb Beechey, »es wird nie deutlich, was dafür verantwortlich ist, dass Männer Frauen sexuell unterdrücken, geschweige denn welche spezifischen Merkmale bestimmter Gesellschaftsformen Männer in Machtpositionen gegenüber Frauen bringen«.
Laut Beechey wird jede universelle Theorie des Patriarchats dadurch erschwert, dass geschlechtsspezifische Ungleichheit und Unterdrückung nie für alle überall gleich waren. Die Göttin Kali stellt schließlich ein Symbol für weibliche Macht dar. Sie mag nur ein Mythos sein, aber sie hätte nicht eine derart große Anhänger:innenschaft, wenn wir nicht auch einen Teil von uns selbst in ihr erkennen würden.
In Indien, wo ich früher lebte, beschäftigen indische Frauen der Ober- und Mittelschicht oft sowohl männliche als auch weibliche Angestellte, die für sie kochen und putzen, und zwar für einen Hungerlohn. Ich war zweiundzwanzig und lebte allein, als zwei Männer für mich arbeiteten. Diejenigen am unteren Ende der Kastenhierarchie verrichten die schmutzigsten und am schlechtesten bezahlten Arbeiten, einschließlich der Entsorgung menschlicher und tierischer Abfälle und Ausscheidungen. Während des ersten Lockdowns im Jahr 2020, als ihre Angestellten nach Hause zurückkehrten und nicht arbeiten konnten, sahen sich die wohlhabendsten Frauen des Landes plötzlich gezwungen, Hausarbeit zu verrichten — in einigen Fällen zum ersten Mal in ihrem Leben. Anfang 2021 begann eine Partei im indischen Bundesstaat Tamil Nadu eine politische Kampagne für die Zahlung eines Monatslohns an Hausfrauen.
Chandra Talpade Mohanty, eine Professorin für Frauenforschung, fragte einmal: »Wie kann man sich auf ›die‹ geschlechtliche Arbeitsteilung beziehen, wenn sich die...