E-Book, Deutsch, 223 Seiten
Saavedra Blaue Blumen
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-406-67568-3
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 223 Seiten
ISBN: 978-3-406-67568-3
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Frau schreibt Briefe an einen Mann, der sie verlassen hat, aber der Mann, der sie erhält und liest, der von ihnen berührt und ergriffen wird, so sehr, dass er nicht mehr zur Arbeit geht, ist gar nicht der richtige Adressat. Er selbst lebt in Trennung von seiner Frau und seinem Kind, ist ebenfalls verlassen worden und so wechselt sich seine eigene Geschichte ab mit den Briefen, die offenbar irrtümlich bei ihm landen und auf die er zu warten beginnt. Welche Wirkung werden diese Briefe über Liebe und Lust, Abhängigkeit und Verrat, über Nähe und Gewalt am Ende haben? Und wer ist ihr wahrer Adressat? Ein kluger, intensiver und leidenschaftlicher Roman über Gefühle und Sprache, über die Liebe und ihre Macht, über Trennungen und Neuanfänge.
Weitere Infos & Material
19. Januar Liebster, eine Trennung, sagt man, ist nie abgeschlossen, kommt nie plötzlich. Man sagt, eine Trennung beginnt mit ihrem Gegenteil. Sie beginnt genau im sanftesten Moment, bei der ersten Begegnung, mit dem ersten Blick. Ich möchte glauben, eine Trennung kennt kein Ende, und der letzte Tag, die letzte Nacht wiederholen sich unaufhörlich, mit jedem Warten, jeder Wiederkehr, immer dann, wenn du mir fehlst, immer dann, wenn ich deinen Namen sage. Ich glaube, wenn ich deinen Namen rufe wie eine Zauberformel, bewirke ich, dass du dich umdrehst und mich ansiehst, und ohne dass du es begreifst, verläuft dann zwischen uns ein Pfad, spannt sich eine Brücke. Wie aber ruft man einen Menschen, der fortgegangen ist? Einen Menschen, der weit weg ist? Die Distanz zwingt uns zu einem ernsten Ton, einem weniger intimen. Wie aber kann ich einem Menschen gegenüber distanziert sein, der mir gerade noch ganz nah, der eben noch an meiner Seite war, vor Kurzem noch neben mir lag, in meinem Bett, wo man jeden Tag, jede Nacht etwas so Intimes wie die Decken und Laken miteinander geteilt hat, bis der Tag angebrochen ist und nur die Laken zurückgeblieben sind, kalt und nackt, befleckt und von Nacht durchtränkt? Wie steht man auf aus dem gemeinsamen Bett und geht zur Förmlichkeit über? Ich stelle mir vor, du bist jetzt in deiner Wohnung, sitzt auf deinem Sofa, in deinem Lieblingssessel oder auf irgendeinem Stuhl, der achtlos an den Tisch in der Küche oder den Esszimmertisch gestellt worden ist. Dort sitzt du wahrscheinlich mit einem Glas Wasser oder einer Tasse Kaffee. Du hältst diesen Brief in der Hand und wunderst dich, fragst dich, vielleicht verärgert, wozu das jetzt, du hast dich doch längst getrennt, bist gegangen, warum so weitermachen, warum solltest du noch mal gehen, wieder und wieder, das könntest du dich fragen. Die Antwort ist, ich weiß es nicht, aber vielleicht, um etwas zu retten, etwas, das nicht zu retten ist, warum sonst? Vielleicht ein Versuch, dich davon abzuhalten, dass du aufstehst, das Fenster schließt, auf einen Schalter drückst oder gar ans Telefon gehst; das Telefon, das klingelt; der Wind, der wütet; jemand, der dir von einem anderen Balkon aus zuwinkt, wieder das aufdringlich klingelnde Telefon, aber du bleibst sitzen, fremd und stumm, diesen Brief in den Händen, in deinen Händen, die ich so sehr fürchte und die ich mir jetzt herbeiwünsche, liebevoll und sanftmütig, nur das Weiche oder Raue dieser Seiten und das Kräuseln der nicht zu erkennenden Fasern, die immer wieder neu entstehen und sich dann zersetzen, eine ständige Bewegung. Aber vielleicht lässt sich wirklich nichts mehr retten. Vielleicht ist alles unrettbar verloren, alles, nicht nur die Vergangenheit und das, was an Erinnerungen verloren geht, sondern auch die Gegenwart, das Jetzt, das so lebendig scheint, so konkret. Selbst wenn ich wollte, selbst wenn ich mich anstrengen würde, selbst wenn du es tätest. Das ist doch traurig, findest du nicht? Ich versuche, mir den Ausdruck auf deinem Gesicht vorzustellen; mir dein Gesicht vorzustellen, deinen Mund, deinen Blick in diesem Moment, in genau diesem Augenblick, der nichts weiter ist als ein Raum, der uns trennt, die Distanz zwischen deinen und meinen Händen, zwischen meinen Fingern, die über die Tasten dieses Geräts huschen, und deinen, die über die Textur des Papiers streichen. Du in deinem Sessel, auf einem Stuhl oder dem Sofa; die Wohnung, die ich so gut kenne, die Buchstaben, die Wörter, die ich wähle, die Verknüpfung der Wörter; die Verknüpfung, die immer wieder eine andere ist, die von der Zeit gelöst wird, vom steten Älterwerden. Wie lässt sich die Entfernung überwinden, die uns trennt? Diese Kluft zwischen dem, was ich schreibe, und dem, was du liest, diesem Augenblick, der nie kommt, den es nie gibt. Ich denke an den Ausdruck auf deinem Gesicht, jetzt und früher, wenn ich dich ab und zu etwas gefragt habe, auch irgendwelchen Unsinn, zum Regen, dem Tag, der Straße, wie angespannt du geschaut hast, wie nachdenklich. Ich denke daran, wie sinnlos es war, ständig irgendetwas zu fragen, ohne dass ich damals verstanden hätte, dass es mir gar nicht um eine Antwort ging und ich nur gefragt habe, um etwas zu fragen, aus dem Bedürfnis heraus, eine Bestätigung dafür zu haben, dass du bei mir warst, dass meine Hand darum die deine suchte, nach irgendeiner Zärtlichkeit verlangte, irgendeiner Liebkosung von dir. Weil ich dich bei mir haben wollte. Wie ein Kind, das auf der Suche nach seiner Mutter durchs Haus streift, der Mutter, die auf einmal verschwunden ist, einfach so, ohne Bescheid zu sagen, weil man gar nicht immer Bescheid sagen kann; auf der Suche nach der Mutter, die in die Küche gegangen ist, ins Schlafzimmer oder gar auf den Balkon, weil sie wissen will, wie das Wetter ist, oder jemandem winken möchte, der Mutter, die plötzlich zu jemandem wird, der nicht da ist, zu jemandem, der verschwunden ist. Also bleibt nur noch die Welt des Kindes und die Abwesenheit und jemand, der irgendetwas im Dunkeln sucht, irgendeine Zuwendung, und den Versuch unternimmt, sich ständig rückzuversichern, das Kind, das nur kennt, was es auch verstehen kann. Ja, ich bin genauso, auch für mich existiert nur, was ich verstehen kann. Und auch wenn du versuchen würdest, es zu verbergen, wäre es, als ob du gar nicht da wärst, als würdest du dich ständig in einem anderen Zimmer aufhalten, in der Küche oder auf dem Balkon, und jemandem winken, der gerade vorbeikommt und den ich nicht kenne. Darum meine Beharrlichkeit, darum dieser Brief. Darum du, wenn auch nur für einen Augenblick, wenn auch nur als Schatten, als eine Bewegung, und ich, die sich erschrocken umdreht, sich umschaut, sich vorstellt, du wärst da, unerwartet und auf unerklärliche Weise. Denn es gibt etwas, das ich dir sagen will, etwas, das zurückgeblieben ist in der leeren Wohnung, ein unvollständiger Satz oder irgendeine Auslassung, als ob Auslassungen irgendetwas bedeuten könnten oder weil Auslassungen das bedeuten, was wir wollen. Denn es gibt etwas, das nicht vollendet wurde. Etwas, das noch kommt. Weil manches erst nach und nach in Erscheinung tritt. Wiederholt werden muss, ein ums andere Mal. Eine Trennung. Ich habe die Wohnung seit Tagen nicht verlassen, das habe ich dir schon erzählt, oder? Um es noch dramatischer zu machen, könnte ich dir auch erzählen, dass ich seit Tagen nichts gegessen, nicht geduscht und mich nicht gekämmt habe. Erinnerst du dich an meine Haare, die du am liebsten offen gesehen hast, für die du mir immer Komplimente gemacht und gesagt hast, sie seien wie ein dunkler Vorhang, so dunkel wie ein Vogel, dunkel wie die Nacht? Kann es sein, dass du das gesagt hast? Nein, so etwas würdest du nie sagen. Aber nein, ich werde dir nicht erzählen, dass ich leide, wozu auch? Ich erzähle dir lieber von anderen Dingen. Kann es sein, dass ich etwas Wichtiges vergesse? Vielleicht, eigentlich habe ich schon immer vermutet, dass wir dazu neigen, das Allerwichtigste zu vergessen, vielleicht weil es sich um etwas handelt, das einer ständigen Wandlung unterliegt, weil das Wichtigste immer wieder zu etwas anderem wird, das uns entwischt. Wie dieser Raum, von dem ich gesprochen habe, die Kluft zwischen dem, was ich schreibe, und dem, was du liest. Etwas, das stört, ohne dass es je eine Form annähme. Wie gefährlich es werden könnte, wenn es eine Form annähme, eine Struktur, die etwas aussagt und bleibt, die eine Zeugin, ein Signal wäre. Wie gefährlich es doch werden könnte, wenn die miteinander verknüpften Wörter und die nicht erkennbaren Fasern des Papiers eine Form annähmen. Wenn es aber ungefährlich ist, kann ich dir auch von gestern erzählen, dir zum Beispiel ein Geheimnis verraten oder einen sehr intimen Wunsch, etwas, womit ich mich dir zeige. Ich könnte zum Beispiel zu dir sagen: gestern. Gestern habe ich an dich gedacht, an deinen Mund auf meinem Mund, an deine Hände in meinen Haaren und an deinen Körper neben meinem. Erinnerst du dich? Dein Körper neben meinem und alles, was er in mir auslösen konnte. Die leichte Berührung deiner Haut, die Sanftheit und Rauheit deiner Haut. Mein unruhiger Atem, genau wie jetzt in diesem Augenblick, da ich dir schreibe und mich erinnere, erinnerst auch du dich? An unsere fiktive Geografie. Dein Körper neben meinem. Deine fordernde Kraft, der leicht trockene Ton deiner Stimme, das Liebevolle darin, und jetzt höre ich neben mir an meinem Ohr deine Stimme, erinnerst du dich? Deine Hand in den entlegensten Winkeln, den empfindlichsten Bereichen, erinnerst du dich? Mein Körper im Fall, wie jetzt, weil er dir gehörte, deine Hand, die mich abtastete, deine Finger, hat es das wirklich gegeben, deine Hand, die mir auch Angst einjagte und an der Innenseite meiner Schenkel entlangfuhr, meinen Bauch und meine Taille umfasste, deine Stimme, die mir den Nacken küsste, deine Stimme hinter mir, und ich, die ich mich verlor und wiederfand, in dir, so wie jetzt, als würde mein Inneres nur aus Wasser und Himmel bestehen. Deinen Namen zusammen mit meinem, mein Name, dein Verlangen, und ich, erregt und in Auflösung begriffen; wie ich Ja sagte, sagte, ich gehörte dir, sei deine Frau, sei, was du wolltest. Aber vielleicht erinnerst du dich gar nicht daran, vielleicht bleibt von alldem nur eine unvollkommene Geste, nur ein Zweifel. Vielleicht willst du diese ganze Enthüllung gar...