S Auf Stelzen gehen
2. Auflage 2007
ISBN: 978-3-86739-718-6
Verlag: BALANCE Buch + Medien Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Geschichte einer Magersucht
E-Book, Deutsch, 195 Seiten
Reihe: BALANCE erfahrungen
ISBN: 978-3-86739-718-6
Verlag: BALANCE Buch + Medien Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Lena S., Jg. 1980, hat Psychologie studiert und lebt in Berlin.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
1;Cover;1
2;Titel;5
3;Impressum;6
4;Auf Stelzen gehen;7
5;Nachwort;181
(S. 143-144)
Beim Rausgehen sagt Hunter zu White Mike: »Ich hab mal irgendwo gelesen, dass du in New York auch überlebst, wenn du völlig abgebrannt bist, denn hier wird auf der Straße so viel Essen weggeworfen, dass du eigentlich nicht verhungern kannst.« – »Man muss essen wollen.« Nick McDonell: Zwölf
Wer bin ich? Anorexia nervosa, rezidivierend. Da sitze ich in meiner neuen Wohnung. Und jetzt: alleine kochen, alleine essen, alleine für mich sorgen. Ich habe es so gewollt. Als Chance, wieder in die Sucht zurückzufallen, oder als Chance, sie endlich zu überwinden? Immerhin, in manchen Dingen bin ich frei. Ich entwickle eine absurde Vorliebe für Weißbrot mit Käse, eine Kombination, die es in unserer Familie niemals gab. Niemand kann verstehen, was für eine Freiheit in einem Stück Weißbrot mit Butter und Käse liegt. Wenn ich Nudeln koche, ?sche ich immer wieder welche aus dem Topf und probiere, bis ich zufrieden bin. Ich brauche keine Uhr. Ich toaste Schwarzbrot und esse es mit Marmelade. Das Vergleichen mit anderen lässt sich nicht abstellen.
Ich weiß, dass meine Maßstäbe verzerrt sein müssen – immerhin ein Diagnosekriterium dieser Krankheit: verzerrte Körperwahrnehmung –, aber ich glaube es nicht. Sehe überall Leute, die dünner sind als ich und besser aussehen und und und. Mag meinen Körper nicht besonders. Tagsüber esse ich kaum etwas, dafür dann abends. Das macht nichts besser, macht mich nicht dünner, aber erspart mir wenigstens ein paar Stunden des schlechten Gewissens, weil ich etwas gegessen habe, da ich im Schlaf kein schlechtes Gewissen haben kann.
Dafür traue ich mich manchmal nicht ins Bett zu gehen, schleiche noch mindestens zwei, besser drei Stunden in der Wohnung herum, damit mein Körper das Essen verbrennt, macht es doch angeblich dick, mit vollem Magen einzuschlafen. Fühle mich diese Stunden über schlecht, aber dann, dann kann ich schlafen gehen, kann diese Unmengen von Nahrung in meinem Körper vergessen. Was ich Unmengen nenne: einen Teller Nudeln. Mein Bruder verfällt in eine Depression. Nun gibt es jemand anderen, um den es sich zu kümmern gilt, auf einmal bin ich nicht mehr der Mittelpunkt. Einerseits ist mir das recht, andererseits wird von mir erwartet, dass ich mich seiner annehme.
Plötzlich soll ich wieder die Starke sein: »Du kennst dich doch mit so etwas aus!« Mit so etwas: mit Menschen, die nicht funktionieren. Es überfordert mich. Ich will mich nicht wieder kümmern müssen. Meine Hoffnung, dass meine Eltern nun einsehen, dass doch etwas an unserer Familie krank machen kann, bestätigt sich nicht. Auch wenn jetzt das andere Kind »krank« ist, bleibt ihre Argumentation die gleiche. Denn Depressionen können auch rein körperlich – die Synapsen! – erklärt werden. Während bei mir ja der Kopf verrückt ist. Hauptsache, das Bild der Familie bleibt heil.




