E-Book, Deutsch, 264 Seiten
ISBN: 978-3-7296-2272-2
Verlag: Zytglogge
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Zielgruppe
Sklavenhalter, Bürger, Bigamist Der Basler Handelsherr und Plantagenbesitzer Johann Rudolf Ryhiner erschiesst sich am 29. Juli 1824 in seinem Sissacher Landgut Schloss Ebenrain. Ihm droht eine Anklage wegen Bigamie, die nach geltender Rechtsprechung mit lebenslangem Zuchthaus bestraft wird. Er sieht Ruf und Leben zerstört. Als junger Mann hat er in Surinam Plantagen aus dem Familienbesitz übernommen. Die goldenen Zeiten des Kolonialismus neigen sich jedoch ihrem Ende zu, ein Verbot des Sklavenhandels steht unmittelbar bevor. Umtriebig versucht sich Johann Rudolf den neuen Zeiten anzupassen. Als er schliesslich ins heimatliche Basel zurückkehrt, ist dort nichts mehr, wie es war. Er baut neue Geschäfte auf, heiratet standesgemäss und ist respektierter Bürger. Dass er in Surinam bereits verheiratet ist und dunkelhäutige Kinder hat, kann er lange verbergen. Ausgehend von der dramatischen Nacht des Freitodes erzählt der temporeiche und atmosphärisch dichte Roman das Leben Johann Rudolfs rückwärts und zeichnet ein
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PROLOG Vorhang auf! Nennt mich Vater, und ihr werdet sein meine Kinder fortan – wie die Herrnhuter Pfaffen, die elenden Seelenfänger, die Missionare kennen sich aus bei den Negern. Sie sollen Vater zu mir sagen, pater noster, das ist besser als Sir. Respekt sollen die Sklaven vor mir haben. Respekt, von allem Anfang an. Ich werde ankommen auf meiner Plantage und euer Vater sein. Nennt mich Vater! Auch wenn ich ein junger Schnösel bin aus Basel. Und Johann Rudolf Ryhiner heisse. Euer Vater, und wenn ich weiss bin und ihr alle schwarz. Kotzübel war mir bei der Überfahrt, sterben wollte ich, bevor ich überhaupt erst ankam – aber dann wird’s grünlich, das Meer, das vorher blau war, der lange Streifen von Guyanas dunklen Wäldern zeigt sich, der Wind lässt nach, man setzt die grossen Segel, Schwärme roter Flamingos ziehen über die Küste, Schmetterlinge kommen an Bord, Wohlgerüche von Millionen Blüten – alles weg, alles vergessen, was beschissen war bisher im Leben, alles neu, alles mein, alles gross. Die Mündung der beiden Flüsse, der breite Strom, Delphine mit rosa Bäuchen und überall die farbigen Barken mit den nackten Rudernegern. Weisse Häuser, und die Mühlen mit dem langen Schornstein, versteckt unter dichtem Gewächs, Zuckerplantagen, Kaffeeplantagen an allen Ufern, gleich dahinter fängt der Urwald an. Träge Fluten, die Mündung vielleicht eine Viertelstunde breit. Weg ist die Eiszeit, weit weg der zugefrorene Rhein, das Grau, das ewige Grau meiner Vaterstadt. Meiner zugeknöpften Jugend. Mein Vater, beerdigt, im Apothekerhimmel wird er schweben, bei seinen wohlanständigen Freimaurern, den wohltätigen, wohlwollenden, allwissenden. Zu dir werd ich es wohl nicht schaffen, heute Nacht, in deinen Himmel, wenn ich mir gleich die Kugel durch den Kopf jage. Mehr Brennholz, Hänsler, viel mehr Brennholz! Hörst du, Hänsler, was ich befehle? Her mit den Scheiten, gib ihm Zunder, heute wird der Ofen eingefeuert, dass es bollert und lodert und kracht, ja, auch wenn es Juli ist, in den hundigen Hundstagen dieses vermaledeiten Jahres Vierundzwanzig und eine laue Nacht ist, mir ist kalt. Seit ich zurück bin, hier im Land der Väter, frier ich mir den Arsch ab, Hänsler, verstehst du? Bring ein ganzes Ster herauf und heize tüchtig jeden Ofen ein im Haus! Ich friere! Hänsler, wird’s bald? Gleich hol ich den Ochsenziemer und versohle dir das Fell, du Krüppel, wenn du nicht vorwärts machst, Hänsler, ich jag dich noch zum Teufel, du Nichtsnutz, und wenn es meine letzte Tat ist, dann kannst du klagen beim Gericht, ja, das ist modern, das Klagen, das Gesinde klagt und das Schiedsgericht, das gerechte, fällt dann ein Urteil zu deinen Gunsten und zu deinem neuen Recht, wie im Fall des alten Gärtnerehepaares, den unflätigen Lupsigers, es richtet und stellt fest, der grausame Herr vom Ebenrain zu Sissach habe die armen Entlassenen viel zu hart und – wie in den Prozessakten festgehalten – «nach amerikanischen Grundsätzen zu behandeln können geglaubt». Frechheit. Und der Patron wird genötigt, dir für deine Untauglichkeit noch 15 Louisdor zu zahlen. Neue Zeiten, neues Recht. Ich stimme dem ja zu, zum Teil, ich bin kein Unmensch. Ich weiss, es ziemt sich nicht, Rousseau, Voltaire, und so weiter, und so fort. Bewaffnete Neutralität und des Volkes Wille, das ist die neue Formel. Ich bin kein Politiker. Früher stand bei der Linde, am Ende des Parks der Galgen, beim Glünggisbühl wurde Gericht gehalten und der Henker waltete seines Amtes. Aber das war lange vor meiner Zeit, und auch vor deiner, Hänsler, es soll ja gut sein, so wie es ist. Tempora mutantur, nos et mutamur in illis. Ich bin kein Lateiner, aber der Spruch wird einem ja eingetrichtert, im humanistischen Gymnasium auf Burg, den werd ich nie mehr los, ich war ein schlechter Schüler, habe Latein gehasst, Mathematik geschwänzt und nichts studiert, ich bin zur Schande meines Vaters kein Akademiker geworden, habe zu seinem Verdruss die Apotheke meiner Vorväter am Fischmarkt nicht übernommen, war der Schreck der Basler Gesellschaft, ich hab mich schlecht aufgeführt und war vorlaut, wie es hiess. Nicht wie Jakob, mein grosser Bruder. Der hätte die Apotheke übernommen. Wenn er gelebt hätte, wenn … Ich hab stattdessen Karten gespielt. Und brav gewartet bis zu meiner Volljährigkeit und auf Vaters Tod. Statt wie Jakob zu studieren, wenn er nicht gestorben wäre, als ich zur Welt kam. Wenn. Ich hab mich, gehorsam wie ein guter Sohn, in Handelshäusern kundig gemacht, bin Kaufmann geworden, bevor ich aufbrach in die Neue Welt. Da hat man einträgliche Plantagen, Hänsler, hörst du. Geerbt von Mutters Faesch’schen Seite, in Surinam, und keiner kümmert sich darum, keiner fährt hin, verstehst du, zu unkommod, zu viel der Anstrengung, zu fremd, das Ganze, jeemerli, jeemerli. Und dann das Sklavenproblem, jeemernaiau, wir als gute Christen, ist das noch zu verantworten, heutzutage, mit dem humanistischen Gedanken und den Engländern? Ja, ich kann’s ja nachvollziehen, mit all den Abolisten überall, die werden den Sklavenhandel wohl bald ganz aufheben. Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit ihnen, und ja, es lebt sich ja ganz anmutig im Surinam, aber doch lieber hier in den Schorenmatten auf dem Landgut mit dem Namen Zum kleinen Surinam, ach wie kummlig, direkt vor den Toren der eigenen Stadt, verstehst du, im Surinam, das man, wohlbemerkt, aus den Erträgen aus Übersee finanziert. Und dann die Aufstände, sagen sie und machen sich in die Hosen, man kann doch nicht mehr, wie zu alten Zeiten, wie der alte Faesch, einfach durchgreifen und die Neger köpfen, wenn sie fliehen wollen? Sagt ja keiner mehr, man soll sie köpfen, verstehst du – und nein aber auch, das feuchte Klima und die Schlangen, die Seekrankheit, das Tropenfieber und die vielen Mücken, pfui Teufel! Aber vorbei ist vorbei, jetzt ist eh alles aus, Hänsler. Ich hab das Spiel verloren. Obwohl ich gute Karten hatte. So ist das Leben. Es hätte anders kommen können. Aber hier ist, was jetzt ist. Alles was ich dir jetzt sage, hätte anders sein können, ich setze das, Hänsler, verstehst du, dies ist eine Setzung, wie bei Kant, sagen die Akademiker, wenn sie besoffen sind. Hier, nihilo trotzquam, die Geschichte: Der fiese V. spielt dabei den Judas. V., genannt der Pfau. Pokulieren mit Studenten, Künstlern, Musen, man zieht durch die Gassen, endet im Drei Könige am Rhein, frühmorgens bin ich voll, kann nicht mehr gehen. V. nimmt ein Zimmer im Gasthaus, schleppt mich rauf, legt mich aufs Bett und zieht mich aus, zieht mir die Hose runter und will mich küssen. Ich hau ihm ordentlich die Faust ins Gesicht, damit er merkt, ich bin kein warmer Bruder wie er einer ist, und sag ihm alle Schande. Er setzt sich an den Bettrand und heult sein Elend in die Nacht. Ich schlafe ein, er zückt sein Skizzenheft, zeichnet mich schamlos im Geheimen, schlafend, nackt und wehrlos ab. Er zeigt die Blätter in der Folge jedem, der sie sehen will, man lacht sich über mich den Buckel voll in Basel. Ein paar Jahre später wird er dann, weil er’s auf die Spitze treibt mit seiner Herrenreiterei und dem weibischen Getue, von der Familie fortgeschickt, auf ausgedehnte Reisen nach Westindien, Amerika und Mexiko, mit seinem Skizzenblock, er ist ja wirklich ein sehr begabter Zeichner, aber Päderasten will man keine in unseren Kreisen, besonders wenn sie auffällig werden. Tunichtgute schickt man in die Kolonien, dort sollen sie machen was sie wollen. Das war immer schon so, seit es die neuen Länder gibt. Nicht aber bei mir, Hänsler, nicht in meinem Fall. Ich musste meine Setzung machen auf dieser Welt, ich hatte Anspruch auf meine eigene Setzung, verstehst du. Nicht erobern, die Welt, nicht neu erfinden, aber setzen, meinen eigenen Anteil hineinsetzen. Wie beim Kartenpiel. Meine Runde. Mein Einsatz. Mein Risiko. Und ich hab’s versaut, das Leben, mit meinem Spiel. Ich hab verloren. Die Rechnung ist nicht aufgegangen. Rien ne va plus. Bring mehr Brennholz, Hänsler – ich komme also an, wie gesagt, Schwärme von kleinen Delphinen mit rosa Bäuchen, und so weiter und so fort, erste Mückenstiche, naturgemäss, und die schwüle Luft, die schweren Düfte, die grosse Hitze, ich streife meinen Rock ab und ziehe meinen Hut, Paramaribo! Ja, Paramaribo! Stehe in aufgewühlter Stimmung an Deck, im blossen Hemd: Endlich, das Land meiner Sehnsucht! Hier beginnt die Unendlichkeit. Ich rauche meine erste Zigarre in den Tropen. Man geht vor Anker. Eine Viertelstunde flussaufwärts, majestätisch, in buntfarbiger Kajütenbarke, reiches Schnitzwerk, Vergoldungen, mit Jalousien an den Fenstern. Acht Ruderneger in Livree, hoo-hiss, hoo-hiss. Die Häuser am Ufer stehen erhöht auf Stelzen, die meisten aus Holz, wenige aus Backstein, meist perlenfarbig, die Läden und Türen gefirnisst in grün, Baumriesen erheben sich dahinter, Melonenbäume, übersät mit duftenden Blüten, Kokospalmen, das Hinterland ist fruchtbar und satt, man ahnt sie, die unendlichen Wälder, von fern...