E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Rutter Billy Plimpton startet durch
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-03792-237-8
Verlag: Atrium Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-03792-237-8
Verlag: Atrium Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Billy Plimpton ist zurück!
Billy kann es kaum glauben: nach seinem erfolgreichen Auftritt beim Talentwettbewerb wird der berühmte Komiker Leo Leggett auf ihn aufmerksam und verbreitet ein Video von Billys Stand-Up Nummer im Internet. Billy wird plötzlich zum bekanntesten Jungen des Landes. Als er dann auch noch in seiner Lieblingssendung auftreten darf, schwebt Billy im siebten Himmel. Doch dann kommen Leos wahre Motive zum Vorschein: er stellt Billy vor laufender Kamera bloß. Aber Billy lässt sich nicht unterkriegen und schmiedet einen Plan, um es allen zu beweisen!
Weitere Infos & Material
Zwei
Welchen Job machen hohle Nüsse?
Sie sind Leerer.
Am Montag geht Mr Osho gerade die Anwesenheitsliste durch, als Skyla in die Klasse kommt. Schon wieder zu spät. Letzte Woche hat sie drei Tage gefehlt, davor ist sie mit jedem Tag ein wenig später erschienen. So war es immer. Schon in der Grundschule kam Skyla oft zu spät, trug eine dreckige Uniform oder sah aus, als wäre sie gerade aus dem Bett gekrochen, aber in letzter Zeit ist sie noch unpünktlicher. In der Grundschule habe ich nicht groß darüber nachgedacht. Damals waren wir nicht befreundet, und ich machte mir ständig einen Kopf wegen meines Stotterns. Inzwischen fällt mir auf, dass Skyla sich stark von uns anderen unterscheidet.
Sie ist ein bisschen wie ein wildes Tier, das gezwungen ist, eine Schuluniform zu tragen und sich wie alle Übrigen zu verhalten. Sie ist aber nicht wie alle Übrigen. Ihr Leben ist anders. Echt merkwürdig, dass Erwachsene erwarten, alle Kinder könnten sich gleich verhalten, gleich aussehen und die gleichen Interessen haben, obwohl jeder nach der Schule in ein jeweils anderes Leben zurückkehrt.
Gestern wollte ich Skyla anrufen, um zu hören, was los ist, aber sie ist weder rangegangen, noch hat sie auf meine Textnachrichten geantwortet. Wenn es zu Hause Probleme gibt, verschwindet sie einfach. Sie hat mir nie erzählt, was tatsächlich los ist. Ich weiß nur, dass ihre Mum seit dem Tod von Skylas kleiner Schwester nicht mehr dieselbe ist. Das ist vor vielen Jahren passiert, die Situation bei ihr zu Hause ist also schon lange schwierig. Ich habe sie mal danach gefragt, und sie meinte nur, ich solle »nicht so ein Miesmacher« sein. Und dann schlug sie mich gegen den Arm und rannte im Flur davon. Ich habe sie kein zweites Mal gefragt.
»Immer hereinspaziert, Skyla«, sagt Mr Osho lächelnd. »Geht’s dir besser?«
»Ja, Sir«, murmelt sie, und ich ahne, dass es ihr gar nicht gut geht. Als sie zu ihrem Platz geht, will ich ihren Blick auffangen, aber sie hält den Kopf gesenkt und starrt zu Boden.
»Was ist denn los mit ihr?«, flüstert Alex.
»Keine Ahnung.«
Zuerst haben wir Geschichte. Alle gehen zögernd in den Klassenraum. Der Lehrer ist neu – Mr Johnson –, und er ist ätzend. Meine Freunde, die , haben ihn Brüllaffe getauft, und so wird er jetzt von allen Siebtklässlern genannt. Ich bin froh, Alex, Josh und Matthew in meiner Nähe zu wissen. Wenn der Brüllaffe mal wieder jemanden anpfeift, schneiden wir Grimassen, um einander zum Lachen zu bringen. Hoffentlich bemerkt er es nicht.
Gestern saßen wir noch nicht mal, da wurde Josh schon vom Brüllaffen rausgeworfen, weil er herumgehampelt hatte. Nachdem er wieder hereingerufen worden war, begann er von Neuem zu hampeln, so ist er halt, und der Brüllaffe schickte ihn ein zweites Mal vor die Tür! Total ungerecht. Mir hat er drei Minuspunkte gegeben, weil ich mit den Fingern getrommelt habe. Noch ein Minuspunkt, und ich muss nachsitzen.
Ich trommele mit den Fingern, weil ich den Brüllaffen so furchtbar finde. Das Trommeln beruhigt mich. Gegen das Stottern hilft es allerdings nicht. In Mr Johnsons Unterricht stottere ich richtig SCHLIMM, obwohl die neben mir sitzen. Ein Glück, dass er noch nicht da war, als ich auf die Bannerdale gekommen bin, damals hatte ich keine Freunde und hätte mir wegen Mr Johnson wahrscheinlich in die Hose gemacht.
Der Brüllaffe verteilt als einziger Lehrer Minuspunkte. Alle anderen drohen bloß damit. Jeder Schüler hat eine kleine, rosa Karte mit vier Kästchen für Minuspunkte. Wenn sie voll ist, muss man automatisch nachsitzen. Gegen ein Pfund kann man von Caleb McCraven aus der Neunten gefälschte Karten ohne Einträge kaufen, um dem Nachsitzen zu entgehen.
Leider habe ich zu viel Schiss, um Caleb McCraven darauf anzusprechen. Er hat eine Narbe im Gesicht, und bei einem Streit am Tor hat er mal jemandem den Kopf gegen die Brust gerammt. Also kann ich mir vor den Sommerferien keinen weiteren Minuspunkt mehr leisten. Mum und Dad wären gar nicht erfreut, wenn ich nachsitzen müsste. Vielleicht würden sie mir sogar meinen Auftritt im Pub verbieten, und das wäre die totale Katastrophe.
Ich habe beobachtet, wie der Brüllaffe während der Mittagspause durch die Flure geistert und Minuspunkte wegen schief sitzender Krawatten und nicht zueinander passender Socken verteilt. Ich bemühe mich, im Geschichtsunterricht nicht mehr zu trommeln. Ich setze mich extra auf die Hände, aber vielleicht gibt’s auch dafür Minuspunkte. Nachsitzen zu müssen, weil ich mit den Fingern trommele oder auf den Händen sitze, kommt mir zwar übertrieben vor, aber der Brüllaffe sieht das natürlich anders. Er spricht nicht, sondern bellt: »In meinem Unterricht wird nicht gehampelt, gezappelt, getuschelt, aus dem Fenster gestarrt oder in der Nase gebohrt, niemand lässt die Füße baumeln oder die Knöchel knacken. Und NIEMAND nimmt einen Stift oder sonst etwas zur Hand, sofern ich nicht ausdrücklich dazu aufgefordert habe. Verstanden?«
Der Brüllaffe bellt sogar, wenn er unterrichtet. Aus seinem Mund klingt die Geschichte der Eroberung Englands durch die Normannen wie eine Drohung: Als würde er uns in eine echte Schlacht schicken, wenn wir auch nur daran denken würden, unsere Federmappe ohne Befehl anzufassen. Das ist echt gruselig. Blakemore meint, er war früher beim Militär.
»Das merke ich sofort«, sagt er. »Mein Dad war in der Armee. Er ist genauso … liebt Regeln und brüllt gern rum.«
Heute bellt Mr Johnson etwas über Anne Boleyn, während ich dem Drang widerstehe, das Pantofle-Gelb von meinen Fingern zu pulen. Der Frau ist es echt schlimm ergangen, ihr Mann, Heinrich der VIII., König von England, hat sie köpfen lassen. Da ist es fast unanständig, dass man einer Schar bibbernder Zwölfjähriger ihre Lebensgeschichte ins Gesicht brüllt, finde ich.
»Sie wurde am 19. Mai 1536 im Tower von London enthauptet. Skyla Norkins, hörst du mir zu? In meinem Unterricht schließt du die Augen NICHT.«
Alle schauen zu Skyla, die leichenblass ist. Und bevor Mr Johnson brüllen oder tausend Minuspunkte verteilen kann, erleidet sie einen Zusammenbruch.
Sie klappt auf ihrem Stuhl zusammen, ihr Knopf sackt auf den Tisch. Es sieht aus, als wäre sie erschossen worden. Yasmin, ihre Sitznachbarin, beginnt zu kreischen, hält sie aber fest, bevor sie auf den Fußboden rutschen kann. Ich will aufstehen, um ihr zu helfen, aber Mr Johnson brüllt: »HINSETZEN.« Ich lasse mich wieder auf den Stuhl sinken wie ein verängstigter Welpe in der Hundeschule.
Alle gucken ganz entsetzt. Das ist kein normales Klassenzimmer-Drama. Nicht wie damals, als sich Raya Fletcher im Chemielabor erbrach und alles stank (in der Ecke neben den Bunsenbrennern müffelt es bis heute). Nicht wie damals, als Elijah Campbells Stuhl zusammenkrachte und sein Kopf auf den Fußboden aufschlug. Nicht wie damals, als Arik Weber in Ernährungskunde stolperte und in eine Lasagne fiel, weil Elijah Baker seine Schnürsenkel zusammengebunden hatte. Dieses Mal sind alle total geschockt.
Mr Johnson hingegen ist die Ruhe selbst – vielleicht ist er tatsächlich ein Ex-Militär, wie Blakemore sagt. Er schickt Yasmin die Krankenschwester holen und fordert Sonny auf, seinen Tisch wegzuschieben, um Platz zu machen. Dann legt er Skyla auf dem Fußboden in die stabile Seitenlage und sagt so leise wie nie: »Jeder packt jetzt ganz ruhig seine Sachen zusammen und geht in die Bücherei. Ich erwarte, dass ihr für die nächste Stunde eine Seite über die Gattinnen von König Heinrich dem VIII. schreibt. Ihr dürft gehen.«
Es ist wie Magie. Alle tun, was er sagt, und zehn Minuten später sitzen wir etwas verdattert in der Bücherei.
Ich sehe in Endlosschleife vor mir, wie Skyla über ihrem Tisch zusammenbricht. Dann taucht wie aus dem Nichts ein anderes Bild in meinem Kopf auf. Das Seniorenheim. Der Tag, als Großbutter starb. Ich habe das Gefühl, wieder dort zu sein, an genau jenem Tag. Ich gehe durch den Flur zu ihrem kleinen Zimmer. Mein Herz schlägt so wild, als würde es sich außerhalb meines Körpers befinden, und ich weiß, gleich wird sich mein Leben verändern.
Diese Erinnerung kommt jedes Mal so plötzlich, dass ich mich erschrecke.
Nach Großbutters Tod konnte ich den Flur im Seniorenheim lange nicht betreten. Am schlimmsten war es, als ich Struppi, den Hund, zum ersten Mal zu Mrs Gibbens bringen wollte. Als ich Mrs Gibbens, Tür betrachtete und in dem Wissen zu Großbutters geschlossener Tür sah, dass nun ein anderer Mensch dahinter wohnte. Es verschlug mir kurz den Atem. Struppi saß auf meinen Füßen, als wüsste er, was los war. Ich hatte das Gefühl, gleich käme Mum, um mir mitzuteilen, dass Großbutter ein zweites Mal gestorben sei. Dann würde ich alles nochmal durchleben müssen. Man nennt das »posttraumatische Belastungsstörung«, hat Mum mir erklärt. Es bedeutet, dass sich das Gehirn unaufhörlich an ein schlimmes Erlebnis erinnert.
Genauso fühle ich mich gerade. Ich sehe immer wieder vor mir, wie Skyla zusammenbricht, und höre ihren Kopf auf den Tisch knallen. Was, wenn das jetzt wie damals im Seniorenheim ist? In der einen Minute war Großbutter noch da, in der nächsten gab es sie nicht mehr. Was, wenn es auch Skyla nicht mehr gibt? Was, wenn mit ihr etwas nicht stimmt, ohne dass ich es weiß, weil ich sie so lange nicht mehr gefragt habe, wie es ihr geht? Ich hätte sie fragen sollen, auch auf die...