Ruppert Wenn's am schönsten ist
14001. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8437-0699-5
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0699-5
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Astrid Ruppert lebt mit ihrem Mann im Vogelsberg, wo sie Romane und Drehbücher schreibt.
Autoren/Hrsg.
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Als Peter in die Siedlung Am Birkenhain einbiegt, steht in einem einzigen Augenblick seine ganze Kindheit vor ihm. Die nach Fichten und Buchen und Ahorn benannten viel zu ruhigen Wohnstraßen, alles Sackgassen, die in einem Wendehammer enden. Ihm ist zumute, als führe er zurück in seine Kindheit, mitten hinein in diese Welt der Panoramafenster und Südbalkone, der Ziertannen, Heckenscheren und an Sommersamstagen surrenden Rasenmäher. Er findet es mühsam, dass er es sich jedes Mal aufs Neue sagen muss, dass er nun erwachsen ist und überhaupt nicht mehr fliehen muss. Ganz im Gegenteil. In zwei, drei höflichen Stunden kann er ja schon wieder gehen. Nur zwei, drei Stunden, sagt er sich. Dann wird er wieder in sein Auto steigen, das Fenster herunterkurbeln und losfahren. Schnell, vielleicht sogar zu schnell zurückfahren in sein eigenes Leben. Wegfahren. Nichts wie weg. Er findet es noch immer schwer, diesem Fluchtimpuls zu widerstehen, und die leichte Atemnot, die damit einhergeht, ist immer überzeugender als sein Verstand. Als ob die Erinnerung, die sich auf seine Brust legt, schwerer wiegt als das, was sein Kopf behauptet. Dazu kommen die Bilder. Alles, was er sieht, verbündet sich sofort mit seiner Erinnerung. Die sauber geplättelten Wege, die zu den Haustüren aus Eiche rustikal führen. Solide deutsche Wertarbeit. Das schmiedeeiserne Gartentor, dahinter der Rhododendron, Mutters ganzer Stolz, in seinem exakt aus dem Rasen ausgestochenen Erdkreis, in dem kein Unkraut je eine Chance hatte. Schau doch nur, wie schön der wieder blüht! Und jedes Mal aufs Neue die Geschichte, wie der kümmerliche, kleine Busch unter den geschickten Händen der Eltern zu großer Blüte gedieh. Der Stolz. Dieser aufdringliche elterliche Stolz, es geschafft zu haben. Ja, sie haben es geschafft. Ein Haus, ein Garten, und alles nur durch Fleiß und Disziplin. Merk dir das, Junge, nur durch Fleiß und Disziplin. Nein, das braucht er sich wahrlich nicht zu merken. So oft, wie dieser Satz von seinen wirtschaftswundergläubigen Eltern wiederholt wird, kann er ihn getrost jedes Mal aufs Neue vergessen.
Peter seufzt und atmet die Luft tief ein, die durch sein geöffnetes Autofenster strömt. Der September ist dieses Jahr schon unangenehm kalt. An Mutters Geburtstag haben sie manchmal noch draußen auf der Terrasse Kaffee getrunken. Dieses Jahr ist daran nicht zu denken. Er parkt seinen Wagen direkt vor dem Rhododendron von Nummer 16 und bleibt noch einen Moment im Auto sitzen. Neben ihm auf dem Beifahrersitz liegt das Geschenk. Er schaut das Papier an, mit dem die Verkäuferin die Bluse netterweise für ihn eingepackt hat. Verkäuferinnen tun oft, worum er sie lächelnd bittet. Frauen im Allgemeinen tun oft, worum er sie lächelnd bittet. Aber meistens will er das, was ihm so bereitwillig angeboten wird, gar nicht haben. Als die Verkäuferin das weiße Band, das sie um das blaue Papier gebunden hat, mit der Schere zu Locken kräuselte, hat sie ihn herausfordernd angeschaut. Er dachte noch, wenn er sie jetzt fragt, ob sie nach Feierabend mit ihm was trinken geht, sagt sie ja. Er hat aber nicht gefragt. Er hat sich nett bedankt und gehofft, dass die Bluse seiner Mutter wenigstens passt. Die Bluse war noch nicht einmal seine Idee. Natürlich hat er den Geburtstag nicht vergessen. Er weiß immer, wann der Geburtstag seiner Mutter ist. Sobald die Sommerferien vorbei waren, sprach die Familie von nichts anderem. Mutters Geburtstag: Das ist schon immer der eine Tag im Jahr, an dem sich die Familie erkenntlich zeigt, dass Mutter sie an den anderen 364 Tagen stets vorbildlich umsorgt. Vater wird eine Rede halten. Wie immer. Auf die gute Mutter. Mutter werden vor Rührung die Tränen in den Augen stehen, und in Peters Beinen wird es kribbeln. Wie immer. Und dieses Jahr besonders. Dieses Jahr ist es schließlich der siebzigste. Da wird die Rede zweifellos etwas ausführlicher ausfallen. Obwohl Peter wusste, dass der Tag sich näherte, hat er sich bis gestern keine Gedanken darüber gemacht. Er ist der Narr, er ist in der Familie der Gedankenlose. Die anderen machen sich schon genug Gedanken. Seine Eltern machen sich seit fast fünfzig Jahren so viele Gedanken um ihn, dass es für die ganze Familie reicht. Er hat gestern Abend noch schnell seine Schwester Marie angerufen und gefragt, was er Mutter schenken könnte.
»Sollen wir nicht irgendetwas zusammen …«
Aber Marie hat nur gelacht. »Zusammen! Scherzkeks. Das ist doch längst erledigt. Aber ich habe einen Tipp für dich. Schenk ihr ’ne Bluse. Größe 40. Mama-Style. Du weißt schon. Hellblau gestreift, oder so. Geh zum Weinert. Da kann sie umtauschen. Die kennen sie seit vierzig Jahren. Oder fünfzig. Oder siebzig?« Maries Kichern. »Und nimm ja kein Sonderangebot. Das merkt sie, wenn sie umtauschen geht.«
Marie war schon immer seine Lieblingsschwester. Die kleine Marie. Ingrid ist nur ein gutes Jahr jünger als er und hat die Fleiß-und-Disziplin-Parole der Eltern wortgetreu übernommen. Marie ist auf eine charmante Art die Freche, mit einer gewissen Distanz zu den Eltern und ihren Werten. Aber Marie fällt es leichter als ihm, dennoch dazuzugehören. Sie kann mitspielen, sie kennt die Regeln. Er beherrscht die Regeln nicht so gut wie sie, er bleibt bei diesen Familienspielen außen vor.
Nun sitzt er im Auto, er hat ein Geschenk, er ist halbwegs pünktlich, weil er die Theaterwerkstätten ausnahmsweise mal rechtzeitig verlassen hat, er trägt sogar ein Hemd und darüber ein Jackett, ganz so, wie es Mutter gefällt. Er muss nur noch einmal tief Luft holen, um sich dann in das Haus hineinfallen zu lassen, das auf ihn wartet wie ein Aquarium, in dem es allen Fischen gut geht. Nur niemand bemerkt, dass er gar kein Fisch ist und echte Probleme mit dem Überleben hat. Peter steigt immer noch nicht aus. Irgendwie fühlt er sich müde und schwer. Dieses Jahr hat ihn das Ende des Sommers heftiger erwischt als sonst. Vielleicht, weil es schon so kalt ist. Ihm ist eher nach einer Art vorgezogenem Winterschlaf zumute als nach einem goldenen Spätsommer, der sich anfühlt wie Herbst. Er lehnt den Kopf zurück an die Nackenstütze und schließt für einen Moment die Augen.
Ein Auto biegt mit quietschenden Reifen viel zu schnell in die Straße mit den adretten Einfamilienhäusern, die auf ihren gepflegten Grundstücken stehen, die Fenster schauen stumm auf die Straße, die eine oder andere exakt geraffte Gardine bewegt sich leicht. Motorengeheul zerreißt die Stille, der Auspuff knattert, Musik wummert, die Bässe dröhnen, no, no, no/I can’t get no satisfaction. No. Satisfaction gibt es nicht. Die Musik wird lauter, der Wind fährt durchs offene Autofenster in die langen Haare des jungen Mannes. Das ist er. Peter. Er fährt das Auto, und bevor er zur Nummer 16 kommt, zum Haus seiner Eltern, dreht er abrupt mitten auf der Straße um, wieder quietschen Reifen, das Heck schlingert, bricht aus und erwischt die Mülltonne der Nummer 14, die wie in Slow Motion langsam umfällt. Peter sieht es im Rückspiegel und lacht. Er lacht, während der Müll sich aus der Tonne über die Straße ergießt, Dosen hüpfen, Papier flattert, eine Flasche rollt bis vors Gartentor der Nummer 15, empörte Bewohner kommen aus den Häusern und schimpfen dem Auto hinterher. Peter lacht, seine Haare flattern im Wind. Das Auto ist viel zu orange, und über allem spannt sich ein weißer, heller Himmel, der keine Tiefe hat und in den die Straßenlaternen ragen wie Haken. Als ob sie ihn festhalten müssten, damit er nicht wegfliegt.
Peter schreckt hoch und weiß nicht, ob er das tatsächlich einmal getan hat, ob er es als Junge gerne getan hätte, oder ob er es bloß geträumt hat. Erleichtert stellt er mit einem Blick auf die Uhr fest, dass nur einige Sekunden vergangen sind, rafft seinen großen, schlaksigen Körper zusammen und hebt sich aus dem Auto. Er schlägt die Fahrertür zu und geht langsam durch das Gartentor auf die deutsche Wertarbeit aus Eiche zu. Los jetzt, sagt er sich und fährt sich durch die Haare, vielleicht, um sie zu ordnen, aber bei seinen störrischen Locken ist von Ordnung keine Spur. Mutter wird sich freuen, der Alte wird endlich seine Rede los, er wird am besten einfach weghören, sich nicht aufregen, über Belanglosigkeiten reden und vielleicht ein bisschen an Hanna denken. Hanna. Die viel zu junge Hanna, die bestimmt einen ganz anderen Traum träumt als er. Es ist eigentlich schon abzusehen, dass es schwierig wird mit ihr. Als er ihr vorhin gesagt hat, dass er sie heute Abend nicht treffen kann, weil er etwas vorhat, konnte er beobachten, wie sie ihn erst enttäuscht, dann skeptisch musterte. Was hat er denn vor? Was kann er schon vorhaben? Was ist denn so wichtig, dass er mich nicht treffen kann? Er sah all diese Fragen stumm über ihre Stirn ziehen, um dann mit einiger Bewunderung zu beobachten, dass sie in der Lage war, die Enttäuschung und Skepsis binnen Sekunden aus ihrem Gesicht verschwinden zu lassen, ihn anzulächeln und ihm einen schönen Abend zu wünschen. Er hätte ihr auch einfach sagen können, dass er zum Geburtstag seiner Mutter gehen muss. Aber es war ihm auch ganz recht, Hanna lieber ein wenig auf Abstand zu halten. Nicht, dass sie sich noch ernsthaft in ihn verliebt.
Gleich sind die Tantenküsse dran. Vor einigen Jahren, zumindest kommt es ihm so vor, haben sie noch mit ihm geflirtet, jetzt riechen sie plötzlich welk und alt. Ob sich der Geruch des Körpers so verändert, dass selbst das Parfum mit altert und plötzlich anders riecht? Oder nehmen ältere Damen andere Parfums? Ob Hanna in dreißig, vierzig Jahren auch riechen wird wie eine alte Frau? Er kann es sich nicht vorstellen. Hannas Duft nach frisch gemähtem Gras, in das man sich hineinlegen will. Unmöglich, dass der sich in so einen Tantenduft...