Rumiz | Eine Stimme aus der Tiefe | E-Book | www2.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Reihe: Transfer Bibliothek

Rumiz Eine Stimme aus der Tiefe

Reise durch das unterirdische Italien
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-99037-166-4
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Reise durch das unterirdische Italien

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Reihe: Transfer Bibliothek

ISBN: 978-3-99037-166-4
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Stimmen aus der Tiefe, wo es brodelt, bebt, giftige Dämpfe und Erinnerungen aufsteigen. Auf der Reise zu den Grundfesten Italiens, von Sizilien bis Neapel, über den Apennin bis ins Friaul, tut sich ein Inferno an Verwerfungslinien auf. Das ist der Stoff für Rumiz' leidenschaftliche Erkundungen in der Welt des Minotaurus. Er besteigt zerklüftete Berge auf den Äolischen Inseln und die Krater des Ätna, erkundet unterirdische Quellen im Karst, Höhlen der Eremiten in Kalabrien und frühchristliche Katakomben in Rom. Er befragt alte und neue Kulte und Mythen, spricht mit Menschen aus Wissenschaft, Politik und von der Straße und erzählt so vom Alltag im Schatten des Unvorhersehbaren. Wie leben auf so unsicherem Terrain? Geschichten von Katastrophen, Unwägbarkeiten und Wundern.

DER AUTOR Paolo Rumiz, geboren 1947, lebt in Triest und im slowenischen Karst. Segler, Wanderer, Autor eigenwilliger Bücher. Korrespondent aus Krisen regionen, schreibt er seit 1998 Reportagen von seinen Radtouren nach Istanbul, den Bus-, Anhalter- und Fußreisen zu den Rändern Europas oder in die Arktis. Er segelte entlang der alten Handelsrouten Venedigs und verbrachte drei Wochen auf einem einsamen Leuchtturm im Adriatischen Meer. Bei Folio sind erschienen: Der Leuchtturm (2017), Die Seele des Flusses (2018), Via Appia (2019), Der unendliche Faden (2020), und Europa. Ein Gesang (2023). DIE ÜBERSETZERIN Karin Fleischanderl übersetzt aus dem Italienischen und Englischen, u. a. Gabriele D'Annunzio, Pier Paolo Pasolini, Melania G. Mazzucco, Giancarlo De Cataldo. Österreichischer Staatspreis für literarische Übersetzung.
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Vorwort für die Leser jenseits der Alpen

Und der Wind spielte Ziehharmonika

1. Ein Feuer mitten auf dem Meer
2. Das Donnern der Sonne bei Sonnenuntergang
3. Schwefellichter
4. Der Schlüsselexorzismus
5. Wo man ohne Musik tanzt
6. Der Herr der Strömungen
7. Chöre im Namen Persephones
8. Bier und Crostini alla 'Nduja
9. Die Höhlen der Waldheiligen
10. Eine auf den Kopf gestellte Pyramide
11. Die Pignatta der Zauberin
12. Ein Brummen im Keller
13. Trommeln und Schellen
14. Ein Klavier auf halber Höhe in der Luft
15. Rebellische Mönche und Banditen
16. Auf dem Berg mit den Mädchen
17. Das Bergwerk von Brosso

Die uralte Stimme der Erde


Um zwei Uhr nachts ertönte plötzlich ein Jaulen wie von Hunden. Ein langes, nervtötendes Heulen, wie von Seelen im Fegefeuer. Es kam von mehreren Teilen der Insel: von der Mole, an der die Fähren anlegten, aber auch vom Krater. Ich lag in diesem Augenblick auf der Terrasse, hellwach. Gemeinsam mit Irene hatte ich die Matratze hinausgeschleppt, um unter dem Sternenhimmel zu liegen und den Westwind zu genießen. Doch wir waren noch nicht eingeschlafen. Für Neuankömmlinge war es schwierig, in einem Haus zu schlafen, das an einem Vulkan mitten im Meer klebte.

Auf Alicudi, der abgelegensten der Liparischen Inseln, misst man Entfernungen in Stufen, und an diesem Tag waren wir etwa ein halbes Tausend hinaufgestiegen, auf labyrinthischen Pfaden und in der Sonne glühenden Terrassen – ein Maultier hatte unser Gepäck getragen –, bis wir zu einem winzigen gelben Haus in der Contrada Pianicello gelangten; wird so ein Häuschen in Sizilien genannt. Ein Loch. Aber auch ein idealer Schlupfwinkel.

Das Jaulen dauerte eine Minute, höchstens zwei. Allmählich wurde es kühl, und zwischen uns und dem Himmel befand sich nur eine grobe Wolldecke. Auf dem dreißig Meilen östlich gelegenen Stromboli blinkte ein Licht, und in diesem Augenblick dachte ich, die Inseln vor uns lägen wie Pünktchen im Meer, wie die Euganeischen Hügel in der Landschaft des Veneto, wo Irene zur Welt gekommen war. Auch sie waren vulkanischen Ursprungs und lagen in der Po-Ebene, die ebenfalls einmal ein Meer gewesen war.

Nach dem Heulen wurde es wieder still. So still, dass uns das Zirpen der Zikaden nahezu betäubte und das Blut in den Ohren hämmerte. Nach drei sehr windigen Tagen breitete sich das nunmehr glatte und ruhige Meer unter uns aus, so weit das Auge reichte, glänzend wie eine Stahlplatte. Über uns kreiste der Tierkreis samt seinen Prophezeiungen.

Bergwind, Rauschen, Flüstern. Die Stimme eines Nachtvogels ertönte in der Macchia, wurde leiser, verstummte und ertönte aufs Neue.

Kurz vor zwei war eine rötliche, nahezu durchscheinende Mondsichel über Kalabrien in einem von Diademen übersäten Himmel aufgegangen. Die Sterne des Südens mit ihrer Aureole wirkten wie brennende Fackeln. Kein Handyempfang. Auf der Insel genoss man eine luxuriöse Abgeschiedenheit und Kargheit. Alles Notwendige war da: Wasser, etwas Essen, Notizblöcke, Kugelschreiber, Taschenlampe. Zum Frühstück Feigen, man brauchte nur die Hand auszustrecken und sie von hohen natürlichen Kandelabern zu pflücken.

In der ungeheuren Stille wurde das in den Grundfesten der Erde verankerte Land der Arcudari für einen Moment zu einem Katapult, das uns abschoss wie einen Asteroiden, der furchtlos durchs All fliegt, sich von seinem Mutterstern entfernt und dabei zischt wie ein Falke im Sturzflug. Er hinterließ eine Tonspur im Nichts.

Wir hatten mit Luciano zu Abend gegessen, einem Piloten, der seit einigen Monaten im Ruhestand war. Ich glaube, er hatte Alicudi zu seinem Wohnsitz erkoren, um … weiterzufliegen. Tatsächlich war sein Leben ein langes, leises Landen gewesen, wie das eines Segelflugzeuges, und sein Haus in der Contrada Serro Pagliaro war ein großartiges Cockpit. Es klammerte sich in einer Höhe an den Berg, von wo man, wie er sagte, die Erdkrümmung sehen konnte.

Fast schon in der Dunkelheit war er mit seinem Hund gekommen, auf verschlungenen Pfaden auf halber Höhe des Hügels, die er auswendig kannte. Er lebte weit entfernt von der Hölle des Tourismus, doch er war kein wirklicher Einsiedler. Seine Gefährtin wohnte auf Filicudi, der Insel gegenüber, eine Ausländerin, der ein grauer, unglaublich fauler Esel Gesellschaft leistete. Mit einem guten Fernglas konnte er sie sogar sehen. Zwischen ihnen lag eine halbstündige Fahrt mit dem Tragflügelboot; eine Entfernung, die ausreichte, um jede Begegnung zu etwas Besonderem zu machen.

Spaghetti mit Oliven, Kapern und getrockneten Tomaten: eine einfache Mahlzeit. Luciano hatte kalten Weißwein aus Lipari mitgebracht, der Geschichten über eine Insel voller Wunder sprudeln ließ.

Auf Alicudi, so erfuhr ich, kann einem das Brot zu Kopf steigen: Der Weizen ist von einem Mutterkornpilz namens Erba Jonica, einem Verwandten von LSD, und einem parasitären Pilz namens Claviceps Purpurea befallen. Eine jahrhundertealte psychedelische Tradition der Brotherstellung, die heute nicht mehr üblich ist, aber nach wie vor Halluzinationen erzeugen kann.

Wir befanden uns in einer Welt, wo Frauen „fliegen“ können, denn während der Überfälle der Osmanen wurden die Mädchen, um sie vor Vergewaltigung zu schützen, mit Seilen in eine Höhle am Steilufer hinuntergelassen, in das sogenannte „Weiberloch“.

In dieser Gegend erzählte man auch noch die Legende der , angeblicher Hexen, die sowohl verzaubern konnten als auch über den bösen Blick verfügten, sich in Tiere verwandeln und die Rückkehr der Fischer begünstigen oder verhindern konnten. Angeblich waren es Frauen aus der Fremde, die den Hexensabbat unter dem berühmten Nussbaum in Benevent gefeiert hatten.

„Frauen von auswärts“, sagte man.

Doch auch die ansässigen Frauen hatten zur Mystik der Insel beigetragen und taten das noch immer. Starke Frauen, Frauen aus Stein. Sie überlieferten den alten Glauben. Hochverehrte Frauen, die Alicudi zu einem weiblichen Universum machten. Matriarchinnen wie Rosina, die elf Kinder von mehreren Männern bekommen hatte, oder Großmutter Peppa, die ihre Suppen mit Steinen aus dem Meer kochte, damit sie würziger schmeckten.

„Hin und wieder bekommt man hier einen heillosen Schrecken“, sagte der einsame Pilot. „Als ich eines Nachts zu Hause war, hörte ich in der totalen Stille eine Mundharmonika im Garten spielen. Mit zitternden Knien habe ich nachgesehen, doch es war nur der Wind, der in die Löcher meiner Mundharmonika eindrang, ich hatte sie auf einem Mäuerchen liegen lassen.“

Auf Alicudi fällt es einem leicht, sich in einer eigenen Welt zu wähnen. Selbst ein Fremder wie Luciano empfindet Menschen „von außerhalb“ als Fremde. Wenn die Arcudari am Festland an Land gehen, erkennt man sie sofort an ihrem verlorenen Blick, als würden sie aus einer anderen Zeit stammen.

Das liegt nicht nur an der extremen Abgeschiedenheit, sondern auch an dem Wissen, dass man auf einem schlafenden Vulkan wohnt, nah am Großen Feuer. Doch es liegt auch an der Vertrautheit mit dem Aufruhr der Elemente und den Meeresungeheuern, ganz zu schweigen von der nahezu absoluten Finsternis der Nacht.

Bis in die Achtzigerjahre gab es auf der Insel einen einzigen Stromgenerator, der um Mitternacht abgeschaltet wurde und die Insel in absolute Dunkelheit versetzte, die Halluzinationen verhieß.

Hephaistos war ein Bewohner der Liparischen Inseln gewesen, wie auch Poseidon, der Gott der Stürme und Erdbeben.

Äolus, den Gott der Inseln, hörte man sogar aus dem Inneren der Berge pfeifen.

„Fast jedes Haus, das am Hang klebt, hat auf der Rückseite Zugang zu einer Höhle oder einem vom Menschen geschaffenen Tunnel, der das Haus belüftet. Eine Luftströmung, die sommers wie winters als natürliche Klimaanlage wirkt.“

Der Vulkan schien noch immer zu brummen: Nachts, wenn rundherum Stille herrschte, hörte man seine Stimme.

Eine halbe Stunde, nachdem der Pilot gegangen war, hörte man das erste Heulen von der Contrada Montagna, in der Nähe des Kraters. Kurz darauf antwortete ein Heulen von den Häusern rund um den Giardino dei Carrubi und der Mole am Strand, wo die Tragflügelboote anlegten. Der ganze Vulkan schien nervöse Signale zu den Sternen emporzusenden.

„Da zog der Herr vorüber: Ein starker, heftiger Sturm, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, ging dem Herrn voraus. Doch der Herr war nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben. Doch der Herr war nicht im Erdbeben. Nach dem Beben kam ein Feuer. Doch der Herr war nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam ein sanftes, leises Säuseln. Als Elija es hörte, hüllte er sein Gesicht in den Mantel, trat hinaus und stellte sich an den Eingang der Höhle.“ (Erstes Buch der Könige, Kapitel 19, 11–13)

Dann herrschte Windstille. Und die Stille rief die Stimme aus der Tiefe. Eine schwache Baritonstimme erhob sich aus dem Nichts, kroch durch die Matratze und füllte den Brustkorb, wo sie sich immer mehr ausbreitete. Sie machte „uuuh“, und erinnerte mich an das Rieseln von Kieselsteinen im Flussbett. Für einen langen Augenblick wirkte es wie etwas viel Düstereres, ein schmerzvoller Ruf. Oder vielleicht wie ein Frauenchor, der nur aus Altstimmen bestand. Tief und brüllend.

Wir waren gelähmt, wie am Rand eines Strudels. Der Ton war dumpf, ein leiser, immer lauter werdender Trommelwirbel. Wir dachten, er kündige eine Eruption an, doch man spürte weder Beben noch Vibrationen. Wir standen in direktem Kontakt mit der Erde, und die Erde schickte uns ein...


DER AUTOR
Paolo Rumiz, geboren 1947, lebt in Triest und im slowenischen Karst. Segler, Wanderer, Autor eigenwilliger Bücher. Korrespondent aus Krisen regionen, schreibt er seit 1998 Reportagen von seinen Radtouren nach Istanbul, den Bus-, Anhalter- und Fußreisen zu den Rändern Europas oder in die Arktis. Er segelte entlang der alten Handelsrouten Venedigs und verbrachte drei Wochen auf einem einsamen Leuchtturm im Adriatischen Meer.
Bei Folio sind erschienen: Der Leuchtturm (2017), Die Seele des Flusses (2018), Via Appia (2019), Der unendliche Faden (2020), und Europa. Ein Gesang (2023).

DIE ÜBERSETZERIN
Karin Fleischanderl übersetzt aus dem Italienischen und Englischen, u. a. Gabriele D'Annunzio, Pier Paolo Pasolini, Melania G. Mazzucco, Giancarlo De Cataldo. Österreichischer Staatspreis für literarische Übersetzung.



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