E-Book, Deutsch, 312 Seiten
ISBN: 978-3-8438-0389-2
Verlag: marix Verlag ein Imprint von Verlagshaus Römerweg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Hier ist im Stroh ein Meer versteckt
Die Lebensgeschichte Maulana Dschelaleddin Rumis (1207–1273) Sein Geburtsname lautet Muhammad Dschelaluddin (Celaleddin bzw. Djalal ud-Din) Walad. Türken nennen ihn meistens Mevlana, auf Persisch: Maulana, auf Deutsch: Meister. (Meister Eckhart hieße also Maulana Eckhart.) Die ganze westliche Welt nennt ihn bevorzugt Rumi. Geboren in Balch in Transoxanien (heutigem Afghanistan), der »Mutter aller Städte«, Kulturzentrum und Wiege des Zoroastrismus, wuchs Rumi in türkischer Sprache auf und lernte zudem Persisch. Alsbald wurde er ansässig in Konja, der iranisch, persisch-arabisch, griechischrömisch (daher Worte wie rumänisch und Rumi), kappadokisch, byzantinisch, kurdisch, kurz: polykulturell quirlenden Metropole des kleinasiatischen Rum- Seldschukenreichs, im heutigen Zentralanatolien, damals unter dem kunst- und gelehrsamkeitfördernden Sultan Ala’uddin Kaikobad. Rumi heiratete mit achtzehn Jahren, 1225, Dschauhar Khatun (Gevher Hatun, Gauhar Chatun). 1230 »habilitierte« sich der junge Prediger in Theologie, ohne in die mystischen Fußstapfen seines Vaters Baha’uddin Walad zu steigen, dessen verquer quasipantheistische Lehren er erst nach dessen Tod 1231 bei dessen Schüler Burhanuddin Muhaqqiq i-Tirmidhi (gestorben 1241) neun Jahre lang studierte, bis er dann doch noch hineinwuchs in gewisse Neigungen in Richtung Tassawuf (Sufismus). Der alsbald recht angesehene eingesessene Grammatiklehrer, Hudavendigar (Urteile Fällender) und Fatwaschreiber lehrte in vier Madresen von Konya vierhundert Schüler, ehe er sich 1244 von einem durchreisenden Fremdling, von dessen Ausstrahlung und Suada, unverhältnismäßig beeindrucken ließ. Vor diesem seltsamen abgerissenen, provokative Reden schwingenden Qalandar (Wanderderwisch), Schamsuddin al-Täbrizi, fühlte sich der beglückte Theologe unterlegen, neigte sein Haupt, atmete befreit auf, diskutierte mit ihm, trank, lachte, tanzte erst nächtelang, dann monatelang, erwählte den unverhofften Gast zum Leitstern, fühlte sich ihm verwandter als Mutter und Vater. Obwohl der Koran Sterndienst, Magie und Sabäertum als Götzendienerei abtat, mutierte der äußerst korankundige Maulana schier zum Schamsi (Sonnenanbeter). Ohnedies klang Rumis Maxime: »Werde Licht, und du hast nie wieder Angst vor der Finsternis!« eher zarathustrisch als islamisch, was Rumi nicht weiter aufzufallen oder zu stören schien. Abendgebete bekam er kaum noch zustande. Tag und Nacht kreiste er fortan als Spätzünder in pubertärer Überhitztheit um die alles überstrahlende Sonne (Schams) aus Täbriz. Anhimmelung mutierte zu Vergötterung. Rumi verübelte seinem Herzensfreund überhaupt nicht, daß der sich zwischen ihn und Allah hängte. Er zerbrach sein Schreibrohr, tauschte den Gebetsteppich mit dem Tanzboden, legte Gelehrtenturban und Juristenärmel ab (nicht aber die Juristenanrede »Maulana«), trug jetzt nur noch Lalischi-Turbane und ließ sich Schrittfolgen und Wirbeldrehungen beibringen. Wenn sie die Nacht durchtanzten, wünschte der herumwirbelnde Rumi mitten im rauschhaften Ablauf, daß heut Nacht der Schlüssel zum Tag nicht gefunden werden möge. Er versteckte sogar Schams’ Schuhe, damit der zu spät hierzulande Aufgetauchte nicht zu früh fortgehe. Rumis Umwelt sah das Treiben nüchtern bis kritisch. Seine Muriden (Schüler) und Verwandten sahen ihren lieben, anständigen, hochgeachteten Lehrer und ihr Familienoberhaupt seine Pflichten vernachlässigen, wahnbetört, derangiert, übernächtigt. Man fand den gerüchteumwobenen, vielfach verketzerten Eindringling entsprechend unsympathisch. Rumi wurde in ihren Augen das Opfer einer einköpfigen Sekte; ein totales Irrlicht wickelte ihn ein, ein Menschenfischer, Seelen- und Rattenfänger, ein Scharlatan! Und ein charakterlich dubioser Freak! Welch Unding: Maulana, bisher ein vorbildlich linientreuer Musulmane, der also auch stets gegen die dualistische Kosmogonie der Mudschusi (Magier) gesprochen hatte, also contra guten und bösen Gott, ging jetzt selber so einem windigen Magier auf den Leim – welch Rückfall aus korrekter Religionsausübung in altiranisches, schier schamanistisches Archaikum! Rumi aber ließ sich von den Düpierten nicht dreinreden. Sie sahen ihn um ein goldenes Kalb tanzen und zerrissen sich das Maul (wie siebenhundert Jahre später über eines Dichterfürsten nicht standesgemäße Liaison mit einem Blumenmädchen). Er nahm das Vorrecht in Anspruch, Gott in jedem schönen Gegenstand verehren zu dürfen. Er berief sich auf Ibn Arabi, der es von Allah weise fand, sich zunächst auch in sinnlichen Phänomena anbeten zu lassen, und sich sogar zur Ansicht verstieg, selbst noch das goldene Kalb sei Gott. Er berief sich auf den (nicht anerkannten) Hadith bzw. das (unechte) Bayazidwort: »Ich sah meinen Herrn im Gesicht eines bartlosen Jünglings in einem grünen Gewand.« Im irregeführten Liebestaumel kreiste er so zwanghaft um Schams (Sonne) wie Madschnun, auf den er verdächtig oft zu sprechen kam, um Laila (Nacht), oder wie Ibn Arabi um die glutäugige Nisam (oder wie siebenhundert Jahre später Jorge Luis Borges um den Zahir). Tausendeinhundert Jahre nach Heraklit befolgte Rumi den Heraklit-Satz: »Tausend geb’ ich für einen, wenn er der Edelste ist«, bzw. nahm er unedle Charakterzüge in Kauf, weil er der Schönste war, in Rumis Augen. Man schlief sogar beieinander. Rumi feierte seine Sonne als Kerkerschlüssel, als Messias der Seele – und der blasierte Schams ließ sich’s gerne gefallen und spielte mit ihm, und testete ihn, und foppte ihn. Rumi griff dann doch wieder zum Schreibrohr, um hervorbrechende Sehnsuchtsverse zu notieren: »Der Himmel blickt neidisch auf Schams’ schmutzigen Fuß« – und Schams fühlte sich verstanden. Ständig streute Rumi sich Asche aufs gebeugte Haupt, leckte Speichel, pinselte hündisch den Bauch seines Idols – um als Letzter der Erste zu sein? Bei aller Gegenseitigkeit und unklaren Frage, wer hierbei wessen Lehrer sei und wer den Schüler spielte: Rumi, ein Kieselstein, der sich dank Sonneneinstrahlung zum Rubin aufschwang, spielte den werbenden, symbiotisch abhängigeren Part, also eher den Schüler, und bot sich als zerschlagbaren Spiegel an – so wie sich ein Feueranbeter für nicht würdig hält, das ewige Feuer durch die eigene irdische Puste anzufachen. Entzog sich sein Lieblingsdämon über Tage hinweg, wetteiferten Entzugserscheinungen mit Phantomschmerzen. Dann wurde der aufgeregt kummervolle und schlaflose Rumi schier ungläubig. Sobald Schams zurückkehrte, wurde Rumi sofort wieder ein Mann der Religion. Dann aber ging die Sonne ohne Vorwarnung monatelang unter. Schams reiste überstürzt und grußlos ab, hinterrücks rausgeekelt von Rumis Familie, die sich aber verkalkuliert hatte: Denn statt einen hervorragenden Lehrer zurückzubekommen, der ordnungsgemäß mit Sachverstand zu seinen Aufgaben und Obliegenheiten zurückkehrte, hatten sie nun einen verrückten Dichter zu ertragen, der diesem verrückten »Freund« hinterherweinte – unangemessen heftig. Der Rubin Rumi kam sich ohne seine Quasi-Sonne ruiniert vor. Er baute das Drama der Trennung abendfüllend zum Epos aus, ruminierte sein Leid und erlosch – und steigerte sich hinein in sein Erlöschen. Der unzerschlagene Spiegel erblindete – und steigerte sich in seine Erblindung hinein. Rumi entfärbte sich zurück zum Kieselstein, zur Wassermühle an ausgetrocknetem Flußbett, zur Muschel ohne Perle, zum Fisch, der ohne Wasser im Sand glühte. Er schrieb Briefe hinterher – und erhielt keine Antwort. Boten und Detektive sandte er aus, ließ ihn überall suchen. Wenn er nachts vom Mond träumte, rannte er von Tür zu Tür, ob Schams nicht genauere Botschaft gesandt habe als geträumtes Mondlicht. Derart ausgefüllt fühlte er sich von Schams, zunehmend unabhängig von dessen reeller Ab- oder Anwesenheit, daß er im Gedicht fragte: »Was suchst du in meiner Rocktasche, meinem Turban, meinem Ärmel?« Seine mystische Identifikation mit dem theomorphen Angreifer ging so weit, daß er eigene Verse mit »Schamsuddin« signierte. Eigentlich klafften zwischen Schams’ (überlieferten) Weisheiten und den Worten Rumis Qualitätsunterschiede: Rumi, der deutlich Reichere, Buntere, Tiefere, überbetonte unterwürfig (aus späterer Sicht masochistisch) seinen angeblich geringeren Rang. Rumi machte sich klein vor einem Kleineren. Rumi bot das Bild einer Sonne, die sich zu einem Trabanten erniedrigte. Rumi japste einem eher grobstofflich, vergleichsweise armselig instrumentierten Mondhorn nach und redete diesem dubiosen Möndlein ein, nicht die Sonne, sondern der Mond sei die Sonne. Andererseits wurde Rumis Dichten, Trachten und Leiden erst dann so richtig subtil und sublim, gleichermaßen qualitativ erheblich und quantitativ uferlos, seit sich die Sonne Rumi vom Mond Schamsuddin aufladen und aufpeitschen hatte lassen: 36.000 Doppelverse summierten sich, Hommage an Schamsuddin, Tendenzkunst erster Güte, der Schamsuddin-Diwan, 2200 Druckseiten. Jedem...