E-Book, Deutsch, 200 Seiten
Rüsseler Analphabetismus und geringe Literalität bei Erwachsenen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-456-76317-0
Verlag: Hogrefe AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Grundlagen und Praxis
E-Book, Deutsch, 200 Seiten
ISBN: 978-3-456-76317-0
Verlag: Hogrefe AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Etwa 6,2 Millionen Erwachsene in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben – für rund 55 Prozent dieser Menschen ist Deutsch Erstsprache. Wie lassen sich diese Zahlen erklären? Und welche Angebote braucht es in der Praxis für Betroffene? Der Neuropsychologe Jascha Rüsseler klärt in diesem kompakten Handbuch umfassend über
das Phänomen geringer Literalität bei Erwachsenen auf
und bietet wichtige Impulse für praktische Interventions-möglichkeiten.
Im ersten Teil des Buches werden zunächst Häufigkeit und Ursachen geringer Literalität aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Es werden die kognitiven und neurobiologischen Grundlagen des Leseprozesses sowie die Alpha-Levels
und verschiedene Testverfahren zur Diagnostik der Lese- und Schreibkompetenzen vorgestellt.
Im Praxisteil erfolgt die Zusammenfassung aktueller Studienergebnisse, die die Lebenswelt gering literalisierter Menschen charakterisieren. Daran anknüpfend werden Konzepte zur Ansprache, Lernberatung und Best-Practice-Beispiele für niederschwellige Lernangebote, z. B. das Rahmencurriculum „Lesen und Schreiben“ des Deutschen Volkshochschul-Verbandes (DVV) und „AlphaPlus“, präsentiert.
Zielgruppe
Psycholog*innen; Pädagog*innen; Erwachsenenbildung; Studierende (Psychologie, Pädagogik, Erwachsenenbildung, Lehramt) und
Praktiker*innen (Kursleiter*innen von Grundbildungs- und Alphabetisierungskursen)
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Entwicklungspsychologie Pädagogische Psychologie
- Sozialwissenschaften Pädagogik Teildisziplinen der Pädagogik Erwachsenenbildung, lebenslanges Lernen
- Sozialwissenschaften Pädagogik Pädagogik Pädagogik: Sachbuch, Ratgeber
- Sozialwissenschaften Pädagogik Pädagogik Pädagogische Psychologie
Weitere Infos & Material
|29|2 Lesen als kognitiver und neurobiologischer Prozess
Für das Verständnis der Ursachen von Problemen des Lesens und Schreibens ist es wichtig, den normalen Leseprozess zu verstehen. Im Folgenden werde ich daher die kognitiven und neurobiologischen Grundlagen des Lesens darstellen und auf die neurobiologische Entwicklung des Lesenetzwerkes eingehen. 2.1 Kognitive Modelle des Lesens
Die beiden einflussreichsten kognitiven Modelle des Lesens sind das konnektionistische Triangle-Modell (Seidenberg & McClelland, 1989) und das Zwei-Wege-Kaskadenmodell (Coltheart, Curtis, Atkins & Haller, 1993). Sie postulieren, dass drei Dimensionen beim Lesen einzelner Wörter eine zentrale Rolle spielen: Orthografie, Phonologie und Semantik. Unter Orthografie wird verstanden, wie ein geschriebenes Wort aussieht, Phonologie bezeichnet, wie das gesprochene Wort klingt, und Semantik, was es bedeutet. Die beiden Modelle unterscheiden sich in den Annahmen dazu, wie diese drei Faktoren zusammenwirken. Weiterhin unterscheiden sich die Modelle darin, mit welcher Methode bzw. aus welcher Perspektive sie entwickelt wurden. Das Zwei-Wege-Kaskadenmodell wurde aus einer klinisch-neuropsychologischen Perspektive heraus entwickelt, das heißt auf der Basis von Beobachtungen der Funktionsausfälle, die bei Patientinnen und Patienten nach Hirnverletzungen (z.?B. nach Schlaganfall) gemacht wurden. Einige Patientinnen und Patienten können häufig in der Sprache vorkommende Wörter noch gut lesen, da sie die Aussprache aus dem bekannten Wortbild erschließen können. Dies ist bei seltenen Wörtern erschwert, und die Betroffenen sind besonders beeinträchtigt, wenn sie Pseudowörter lesen sollen. Pseudowörter sind Wörter, die man lesen |30|und aussprechen kann, die aber keine Bedeutung in der deutschen Sprache haben (z.?B. „katopinafe“, „Spetze“, „Mauf“). Dieses Muster an Beeinträchtigungen weist auf eine erworbene phonologische Dyslexie hin. Das heißt, die Betroffenen haben Schwierigkeiten bei der Anwendung von Regeln der Graphem-Phonem-Konversion, wie sie beim Lesen von seltenen oder unbekannten Wörtern erforderlich ist. Ein Phonem ist die kleinste bedeutungstragende Lauteinheit der Sprache (z.?B. [s] in „Suppe“), also ein einzelner Laut, bei dessen Austausch sich die Bedeutung des Wortes verändert. Ein Graphem ist entsprechend die kleinste bedeutungstragende Einheit der Schrift, das heißt ein einzelner Buchstabe oder eine Folge von Buchstaben (z.?B. s, ch, sch). Unter Graphem-Phonem-Konversion beim Lesen wird die Umwandlung des Schriftzeichens in einen Laut verstanden. Bei anderen Patientinnen und Patienten wurde hingegen beobachtet, dass sie vor allem Schwierigkeiten beim Lesen von Ausnahmewörtern hatten, aber beim Lesen von regelmäßigen Wörtern oder von Pseudowörtern eine weitgehend normgerechte Leistung zeigten. Ausnahmewörter sind Wörter, bei denen die Graphem-Phonem-Zuordnungsregeln verletzt sind, das heißt Wörter, die nicht den üblichen Ausspracheregeln folgen (z.?B. „Clown“). In der deutschen Sprache ist dies häufig der Fall bei Eigennamen oder Lehenswörtern (Wörter, die wir aus anderen Sprachen übernommen haben). In anderen Sprachen kommen solche Wörter jedoch wesentlich öfter vor (z.?B. Englisch: „save“ vs. „have“; „fear“ vs. „bear“ vs. „beer“). Man spricht dabei von der orthografischen Transparenz einer Sprache. Englisch ist sehr intransparent; Deutsch liegt etwa in der Mitte der Sprachen, und Finnisch gilt als die am stärksten transparente Sprache. Da die kognitiven Modelle des Lesens im englischen Sprachraum entwickelt wurden, beziehen sie sich vor allem auf das Lesen englischsprachiger Wörter. Personen mit weitgehend auf das Lesen von Ausnahmewörtern beschränkten Schwierigkeiten haben eine erworbene Oberflächendyslexie, da sie zwar Graphem-Phonem-Verbindungsregeln korrekt anwenden können, aber beim Erschließen der Aussprache aufgrund des vertrauten Wortbildes scheitern. Die Beobachtung von phonologischer und Oberflächendyslexie bei verschiedenen von Hirnschädigungen betroffenen Personen legt nahe, dass es beim Lesen zwei verschiedene Wege geben muss, die selektiv durch Läsionen (Gewebsschädigungen des Gehirns) betroffen sein können (Seidenberg, 2012): einen lexikalischen und einen nicht lexikalischen Weg. Diese beiden Wege bilden die Grundlage des Zwei-Wege-Kaskadenmodells (siehe Abbildung 2-1). Beim Lesen über den lexikalischen Weg aktiviert ein geschriebenes Wort im Gehirn einen Eintrag im orthografischen Lexikon, der wiederum eine Aktivierung des entsprechenden |31|Eintrags im phonologischen Lexikon auslöst. Dies kann mit oder ohne die Aktivierung der Bedeutung des Wortes geschehen. Beim nicht lexikalischen Weg wird über die Graphem-Phonem-Konversion gelesen. Hierbei werden Folgen von Buchstaben (Graphemen) durch Anwendung bestimmter Regeln in Folgen von Sprachlauten (Phonemen) umgewandelt. Das konnektionistische Triangle-Modell wurde aus der Perspektive der Modellsimulationen in der kognitiven Psychologie entwickelt. Hier versucht man, Prozesse wie z.?B. das Lesen so nachzubilden, dass Computer sie ausführen können. Dabei wird davon ausgegangen, dass Verhalten durch das Zusammenspiel einer großen Anzahl von einfachen Modulen entsteht, die eingehende Informationen verrechnen und weiterleiten. Da solche Module im Modell wie einfache Nervenzellen funktionieren, die sich gegenseitig verstärken oder hemmen und dabei ganze Netzwerke bilden können, haben konnektionistische Modelle eine hohe biologische Plausibilität. Man spricht dabei von parallel verteilter Verarbeitung, da die Verarbeitung von Informationen im gesamten Verteilungsmuster der Aktivierung aller Einheiten repräsentiert ist (Brem & Maurer, 2016). Wissen ist durch die Stärke der sich beim Lernen ständig verändernden hemmenden oder aktivierenden Verbindungen zwischen den einzelnen Einheiten repräsentiert. Solche Netzwerke werden trainiert: Sie passen die Verbindungen innerhalb des Netzwerkes und ihre Stärke laufend an, bis ein stabiler Zustand erreicht ist. Das Ergebnis ist das simulierte Verhalten, das dann mit dem Verhalten menschlicher Versuchspersonen verglichen werden kann. |32| Für die Simulation des Leseprozesses werden die Stufen Orthografie, Phonologie und Semantik angenommen (siehe Abbildung 2-2). Hinzu kommt der Kontext, da dasselbe Wort je nach Kontext Unterschiedliches bedeuten kann (z.?B. Hahn: „Sie schraubte den Hahn zu“ vs. „Sie ärgerte sich am Morgen darüber, dass der Hahn schon wieder krähte“). Mit diesem Modell ist es möglich, eine Reihe von Phänomenen, die bei normgerechten Leserinnen und Lesern auftreten, zu simulieren, beispielsweise unterschiedliche Schwierigkeit des Lesens von häufigen und seltenen Wörtern sowie unterschiedliche Schwierigkeit des Lesens von regulären und von Ausnahmewörtern (siehe oben). Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Modellen liegt darin, dass beim Zwei-Wege-Kaskadenmodell zwei Verarbeitungswege postuliert werden, während das konnektionistische Triangle-Modell von nur einem Weg von der Orthografie zur Phonologie ausgeht. Während das Zwei-Wege-Kaskadenmodell vorliegende experimentelle Befunde zum Lesen teilweise besser erklären kann, ist das konnektionistische Triangle-Modell biologisch plausibler, das heißt, es weist eine größere Ähnlichkeit mit der Funktionsweise des menschlichen Gehirns auf. Insgesamt ist noch offen, welches der beiden Modelle den Leseprozess besser erklären kann, und es gibt Ansätze, die beiden Modelle miteinander zu verbinden. |33|2.2 Die neurokognitiven Grundlagen des Lesens
Mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) ist es möglich, am gesunden Gehirn noninvasiv Regionen zu identifizieren, die an bestimmten Informationsverarbeitungsprozessen beteiligt sind (Jäncke,...