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Listening on the move
E-Book, Deutsch, Band 10, 143 Seiten
Reihe: BRAMANNBasics
ISBN: 978-3-95903-111-0
Verlag: bramann.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Boomphasen hat der Hörbuchmarkt in der Vergangenheit bereits häufiger durchlaufen, seit den 2020er Jahren zeigt er jedoch eine bisher ungekannte, beeindruckende Dynamik. Gleichzeitig vollzieht sich ein tiefgreifender Wandel des Marktes: Physische Trägermedien verlieren Marktanteile, während digitale Distributionsmodelle, insbesondere Streamingangebote, starke Zuwächse verzeichnen und neue Zielgruppen erschließen. Einerseits sind diese Angebote ubiquitär verfügbar, andererseits gehorchen die Plattformen, über die sie abrufbar sind, Eigengesetzlichkeiten jenseits des traditionellen Verlagsgeschäfts, bedingt durch Algorithmisierung und Datafizierung.
Trotzdem sind nicht alle (neuen) Audioangebote wirtschaftlich erfolgreich, wie das Beispiel Podcast zeigt. Aber digitale Technologien wie KI und synthetische Stimmen verändern die Möglichkeiten der Audiomedienproduktion. Was bedeuten diese neuen Optionen und unterschiedliche Arten des Hörens für die (künftige) Gestaltung dieser Mediengattung?
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Die Beliebtheit des Hörens II: Erklärungsansätze
Das vorherige Kapitel hat den Diskurs eröffnet, weshalb das Hören von Podcast, Radio und Hörbuch Vergnügen bereiten könnte, zugleich hat es bereits angedeutet, welche zahlreichen Einflussfaktoren hierbei eine Rolle spielen. Da dieses Buch im Bereich der Nutzungsforschung angesiedelt ist, soll es im Folgenden darum gehen, Praktiken des Hörens, die sich auch im Zusammenhang mit technologischen Gegebenheiten und Weiterentwicklungen herausgebildet haben, sowie hörbezogene Bedürfnisse genauer in den Blick zu nehmen. Abb. 4: Nutzungsforschung als Forschungsbereich zur Erfassung der Phasen des Kommunikationsprozesses. (Eigene Darstellung) 2.1
Praktiken des Hörens
Statt des intendierten Handelns von Individuen rück[en] […] mit den Praktiken diejenigen Verhaltensakte in den Vordergrund, die auf routinisiertem, implizitem, nicht reflektiertem und kollektiv geteiltem Wissen beruhen. […] Praktiken besitzen eine materielle Dimension, sie beinhalten eine körperliche Performanz oder den Umgang mit Artefakten. Daher muss die Beziehung einer Praktik zum Körper oder zu Artefakten untersucht werden. (Elias u. a. 2014: 4) Das Wiedergabemedium und seine Ausstattung mit Lautsprechern oder Kopfhörern ist als ein solches von der Soziologin Friederike Elias beschriebenes Artefakt zu verstehen. Es rahmt als Raum-Technologie-Kopplung (Lepa 2013) die Hörsituation ein. Das bedeutet: Dasjenige Medium, worüber der auditive Inhalt gehört wird, beeinflusst das Hören, weil es bestimmte Vorgaben macht oder Angebote eröffnet, wie es zu benutzen ist. Hierzu ein Beispiel: Wird ein Podcast, während er ausgestrahlt wird – via Radiogerät, das sich in der Küche befindet, wo gerade das Mittagessen zubereitet wird – live gehört, klingt es anders, als wenn er über das Smartphone und dessen integrierte Lautsprecher rezipiert wird. Auch die Beschaffenheit von Kopfhörern, die variabel viel an Umgebungsgeräuschen an die Ohren übermitteln, sowie die Audioformate selbst wirken auf die Hörsituation ein. Wird einem Schallspiel, bei dem neben der Stimme auch Musik und Geräusche zum Einsatz kommen, gelauscht, macht es durchaus einen Unterschied, ob sich die Klangfarbe des Gehörten noch nachsteuern lässt oder ob alles gleich blecherndumpf ins Ohr dringt. All diese Aspekte beeinflussen die Hörsituationen: Lässt es sich konzentriert zuhören? Sind feine Nuancen wahrzunehmen, die das Hörerleben steuern? Kann richtig in das Gehörte eingetaucht werden? Weitere Einflussfaktoren gehen von der hörenden Person aus (Lilliestam 2013): Welche Bedürfnisse hat und in welcher Verfassung ist sie? Ist sie abgelenkt, weil sie sich Gedanken um die bevorstehenden Prüfungen macht? Welche Hörerfahrungen bringt sie mit? Hat sie bereits einen ausufernd erscheinenden Gesprächspodcast oder ein mit allen klanglichen Ausdrucksmitteln arbeitendes Schallspiel gehört und kann sich deshalb überhaupt auf solche Formate einlassen? Schon die Entscheidung für ein spezifisches Setting beim Hören von Audiomedien stellt die Weichen für das Hören: Findet das Hören allein oder in der Gruppe statt? Wird es nebenher oder konzentriert und ausschließlich, zuhause oder außer Haus, in Bewegung oder immobil praktiziert? Wird das Gehörte im Kopf lokalisiert (Lepa 2013) oder gibt sich die hörende Person dem Gehörten in einem sie umgebenden Raum hin? Befindet sich das Abspielgerät räumlich etwas entfernt oder in unmittelbarer Nähe, sogar direkt am Körper, was möglicherweise weitere Reize wie Vibrationen aussendet? Dies soll im Folgenden genauer betrachtet werden. Auch wenn es sich, wie deutlich geworden sein sollte, um komplexe Zusammenhänge handelt, die nach einer Typenbildung verlangen könnten, wird nicht pauschal das konzentrierte dem nicht-konzentrierten Hören gegenübergestellt. Die Überlegungen des Musikwissenschaftlers Lars Lilliestam (2013: 5) machen deutlich, warum dies problematisch ist: concentrated listening is implicitly seen as an ideal, and that the listening is of a poorer quality if you do something else at the same time as you listen to music. Stattdessen werden unterschiedliche Praktiken des Hörens genauer in den Blick genommen, um zu veranschaulichen, wie dabei jeweils das Hören beeinflusst wird. Individualisiertes Hören Die Hörszenarios haben etwas vor Augen geführt, was gegenwärtig gar nicht mehr hinterfragt wird: Die dort beschriebenen Personen hören allein. Wie ist es zu dieser Praktik gekommen? Hier liefert Fahlenbrach (2019) wichtige Aspekte: Sie macht am Beispiel des Musikhörens deutlich, welche Rolle Abspieltechnologien spielen. Bevor es den Phonographen, das Grammophon oder das Radiogerät gab, mussten Interessierte selbst musizieren oder zu öffentlichen Musikaufführungen gehen, wenn sie Musik genießen wollten. Erst die Einführung von Abspieltechnologien und des Radios eröffneten die Möglichkeit, dass Musik und später auch wortbasierte Inhalte auf phonographischen Walzen zuhause gehört werden konnten. Allerdings bedeutet individualisiertes Hören in diesem frühen Stadium noch nicht zwangsläufig, dass die Hörenden sich tatsächlich allein mit einem auditiven Inhalt beschäftigten. Stattdessen war es lange Zeit üblich, dass ein Abspielgerät wie der Radioapparat in der Küche, der Plattenspieler oder die Musikanlage im Wohnzimmer für die gesamte Wohngemeinschaft zur Verfügung stand. Phonographen fanden sich außerdem, mit Hörschläuchen ausgestattet, an öffentlichen Plätzen, Grammophone in Gasträumen. Abb. 5: Zinnfolien-Phonograph von Thomas Alva Edison aus dem Jahr 1878 (Quelle: Deutsches Phonomuseum). Abb. 6: Grammophon-Modell mit Trichter aus dem Jahr 1901. (Quelle: Deutsches Phonomuseum) PHONOGRAPHISCHE WALZENHierbei handelt es sich um Wachszylinder mit Rillen. Dazu wurden die Schallwellen bei der Aufnahme mit Hilfe eines Metallstifts auf Stanniolpapier übertragen, das um den Wachszylinder gespannt war. Die so in die Walze eingedrückten Rillen können über eine Nadel wieder ›ausgelesen‹ und in Form von Klängen reproduziert werden. Phonographische Walzen sind das Aufzeichnungs- und Wiedergabemedium des Phonographen. (Feaster 2018) Abb. 7: Phonograph mit Hörschläuchen, der wahlweise auch mit Blechtrichter ausgestattet werden konnte, aus dem Jahr 1893 (Quelle: Deutsches Phonomuseum). Abb. 8: Grammophon mit Trichter und Münzeinwurf für Gasträume aus dem Jahr 1916. (Quelle: Deutsches Phonomuseum) Mit dem Aufkommen des Mobiltelefons und dessen Weiterentwicklung durch das iPhone zum Smartphone nahm das individualisierte Hören zu. Dies liegt vor allem daran, weil das Gerät körpernah transportiert werden kann und unterschiedlichste Bedürfnisse, teilweise auch parallel, befriedigt. Allerdings ist damit nach Meinung der Medienwissenschaftler Bärbel Tischleder und Hartmut Winkler auch folgende negative Konsequenz verbunden: Vom einzelnen Subjekt ist gefordert, sich immer wieder und binnen kurzer Zeit durch sehr unterschiedliche, voneinander isolierte soziale Kontexte zu bewegen und dabei ständig die Rollen zu wechseln. (Tischleder/Winkler 2001: 99) Gleichzeitig eröffnet das Smartphone durch seine zentrale Funktion als Kommunikationstool eine individualisierte und gleichermaßen vernetzte Umgangsweise. Eine weitere Form der Individualisierung fand im Zusammenhang mit dem Radiohören in Form des zeitunabhängigen Hörens über Live-Streams oder Downloads archivierter Inhalte statt. Dies gilt jedoch nicht allein bezogen auf das Radiohören, sondern kann auch für das Podcast- und Hörbuchhören gesagt werden. Individualisiertes Hören meint nämlich mit Weber (2008) auch, dass die Hörenden in der Lage sind, Audiomedien selbstbestimmt so einzusetzen, dass spezifische Bedürfnisse befriedigt werden. Paul Ingendaay (2021: 12), Literaturkritiker und Wissenschaftler, geht so weit, individualisiertes Hören als Ergebnis gegenwärtiger gesellschaftlicher Entwicklungen anzusehen: die Individualisierung der Lebensstile und vielleicht ja auch ein gewisser Solipsismus einer vereinsamenden Gesellschaft ermöglichen es heute vielen, sich ständig einem Hörbuch oder Podcast zu überlassen […]. Nebenbeihören Gerade im Zusammenhang mit dem Hörbuch wurde bereits früh die Möglichkeit der doppelt nutzbaren Zeit erkannt und unter dem Slogan Double...