Rühle / Ahrens | Ein alter Mann wird älter | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 232 Seiten

Rühle / Ahrens Ein alter Mann wird älter

Ein merkwürdiges Tagebuch
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-89581-579-9
Verlag: Alexander
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein merkwürdiges Tagebuch

E-Book, Deutsch, 232 Seiten

ISBN: 978-3-89581-579-9
Verlag: Alexander
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der andere Günther Rühle: "Ich suche mich, indem ich's hinschreibe."

Vom fortschreitenden Verlust des Augenlichts gezeichnet und nachdem er die Vollendung des dritten Bandes seiner Geschichte des "Theaters in Deutschland" hat aufgeben müssen, beginnt Günther Rühle im Alter von 96 Tagebuch zu führen. Die Eintragungen, ein halbes Jahr umfassend, fangen im September 2020 an und enden im April 2021.

Rühle bekennt in seinen Tagebüchern, dass er in gut siebzig Jahren publizistischer Arbeit und nach "zigtausenden hingetippten Sätzen von mindestens 900 Kilometern Länge" versäumt habe, über sich selbst nachzudenken. "Am Rand des Lebens" angekommen, horcht er nun in sich hinein: Im Selbstgespräch ist er sich selbst der Stoff und beginnt, ins "Blinde" zu schreiben, denn lesen kann er die Zeilen nicht mehr.

Die Fragmente langer Tage und unruhiger Nächte schreiben sich in sein Tagebuch ein; verdrängte Gedanken und Gefühle, Eingebungen und Träume – "Bilder aus dem Dunkeln des Vergessens", in denen die Erinnerungen an die Kindheit, den Krieg, den Nationalsozialismus ebenso eine Rolle spielen wie die Rückblicke auf seine journalistische Arbeit (FAZ, Tagesspiegel), die Arbeit als Theaterintendant und prägende Lebensbegegnungen (u.a. Bernhard Minetti, Martin Wuttke, Einar Schleef).

Und natürlich immer gegenwärtig: das Nachdenken über das "Altern im Alter". Darf man noch gespannt sein auf die Zukunft, wenn man bei wachem Geist der "körperlichen Abrüstung" zuschauen muss? Eine endgültige Antwort gibt es nicht: "Die Gefühle lösen einander ab. Morgens in sich gespalten, wünscht man sich das Ende und greift noch nach dem Leben. Zweimal und oft am selben Tag."

Der forschend aufspürende Theaterhistoriker ist diesmal sich selbst auf der Spur und muss in seinen Aufzeichnungen festhalten: "Ich treffe immer öfter auf einen Unbekannten, der doch Ich war."

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Weitere Infos & Material


Gu¨nther Ru¨hle:
Ein alter Mann wird älter

Anmerkungen
Anhang
Editorische Notiz
Gu¨nther Ru¨hle – Leben und Werk
Gu¨nther Ru¨hle – Bibliographie

Nachwort
Gerhard Ahrens:
Der andere Gu¨nther Ru¨hle


November 2020
2. November 2020
Aber das kann’s nicht gewesen sein. Vielleicht der noch unbewusste Boden, auf den dann das Feuer fiel. Ich war acht, als Alwin Kronacher in Frankfurt die Römerberg-Festspiele gründete. Mein Vater, jetzt im Städtischen Revisionsamt angestellt, holte mich aus meiner verfallenden hessischen Residenz, die Provinz wurde, in die festlich aufgezwirbelte Stadt. Die Innenstadt abgesperrt. In den engen Gassen drängten sich die Besucher. Die Spieler, schon in Rüstung und Gewändern, auch die Pferde. Um halb acht hieß es: »Bitte Plätze einnehmen.« In der Mitte des Römerbergs um den Brunnen der Justitia war eine Tribüne gebaut. Die Fensterlöcher waren voll besetzt. Dann plötzlich ganz Stille, Erwartung, Fanfaren, es ging los. Die Tore unten gingen auf, die Schauspieler kamen. Es gab bald Schlachtgetümmel, mittendrin eine Frau, die später auf hohem Pferd saß, Fahne in der Hand. Man sagte mir, das sei der Einzug in Reims. Sie spielten Schillers »Jungfrau von Orleans«. Mit acht verstand man das noch nicht, aber man guckt und guckte und guckt und ging nach dem großen Beifall später an Vaters Hand aufgeregt nach Hause. Wenn ich tagsüber allein im Frankfurter Zimmer saß, weil er Firmen revidierte, übte ich auf seiner neuen Schreibmaschine tippen. Zwei Finger, bis heute. Und was fabrizierte ich: Eintrittskarten für mein Theater über dem Misthaufen daheim. Es bestand noch zwei Jahre, die Bäckerei wurde verkauft, damit meine Phantasie. Aber wie sich jetzt zeigt: nicht die Erinnerung. Die Festspiele auf dem Römerberg sind sicher sowas wie eine Zündung gewesen. Viermal durfte ich zu den Festspielen, die die Nazis schon 1933 als ihre Erfindung ausgaben. Da sah ich Heinrich George. Man sagte mir, wer das war. Während der Schuljahre in Bremen sah ich etliches, aber es blieb nichts, außer dem »Lohengrin« in der Staatsoper, der mir fast fürs Leben, wenigstens bis 82, reichte. Ich weiß heute, was ich da verpasst habe. Danach wollte ich alles einholen. Ich bin noch auf halber Strecke. Die im Schauspiel habe ich dann doch dreimal gemacht. Das Schauspiel hat mich wie ein Geschenk überrascht: Es hat mich getroffen, weil es mich aus meinem Alltag entführte; und dann betroffen, als ich in die Tiefe der Schicksale sah, die es ergründend vor Augen führt. Ich muss mal weiterdenken. Wann wurde ich zum ersten Mal betroffen? Wenn ich das bedenke, komme ich immer wieder auf Borcherts »Draußen vor der Tür«. Das war bald nach dem Krieg. Das waren genau unsere Fragen in das dämmernde Bewusstsein, in das man kommandiert war, zu sterben. Und dann die großen Inszenierungen im kaputten Frankfurt. Hilperts glänzend bitteres Tableau von Zuckmayers »Des Teufels General«, mit Martin Held als Harras. Ich staunte, wie »Zuck« in Vermont, im Exil, die Göring-Welt gezeichnet hatte. Den Leutnant Hartmann, oder den Saboteur Oderbruch, den die Zuschauer von 1948 noch hassen konnten. Die Diskussionen – nein, ich mache den Deckel auf den Topf. Was kocht da auf: Ich will das alles nicht mehr wissen. 70 Jahre verdrängt. Irgendwo in mir hat das doch überlebt. Ich mache schnell den Deckel auf den Topf. »Trauer muss Elektra tragen«, »Eines langen Tages Reise in die Nacht«, »Endstation Sehnsucht«. Das waren Nachrichten aus Amerika. Die Welt öffnete sich mit dem Theater. Eugene O’Neill und Tennessee Williams, Giraudoux, Anouilh und Lorca öffneten den Blick. Zehn Jahre dauerte der Strom von draußen. Nie hat das Theater in Deutschland eine so poetische Rolle übernommen. Es waren fast üppige Jahre. Dazu die Literatur von Kafka bis Hemingway. Ich spüre plötzlich die Wohltat der Erinnerung. Darf ich mir noch erlauben, nochmal 28 zu sein? Wird man nicht zornig auf das Altern? Werde ich zornig? Auf das, was mir passierte? Ich kann nicht lesen, was ich eben schrieb. Verdammt noch mal! 3. November 2020
Heute wählen sie in Amerika. Gestern haben sie in meinem Dorf den wärmsten Novembertag seit Aufzeichnungsbeginn gemessen. Ich habe die Männer, die vor zwei Tagen ein paar Straßen weiter Erde aushuben, gefragt: »Was macht ihr?« – Sie antworteten fröhlich: »Das wird ein Parkplatz.« Wieder einer, der vierte im letzten Jahr, den ich sah. Der beim Nachbarn ist gerade fertig. Eine Tierärztin zieht ein, macht das Haus praxisreif, Bedingung vier Parkplätze. Nicht mehr für Kühe oder Pferde, sondern die veränderte Welt. Als ich 1979 hier einzog, war das noch ein richtiges Dorf. Sie schirrten noch ihre Kühe, wenn sie zum Säen oder Ernten aufs Feld mussten. Und zwei Schafherden gab es da noch. Wie oft mussten wir warten, bis die alle vorbei waren. Es war ein lebendiges, meckerndes Schauspiel. Das gibt es jetzt alles nicht mehr. Die Kleinbauern sind leise verschwunden. Vor sechs Jahren wurde der letzte Misthaufen beseitigt, dann starb auch der Henninger, ich nenn ihn mal den Oberbauern, bekannt und tüchtig fürs Dorf. Im Gemeinderat rühmte er sich, dass er mit der Öffnung des Dorfs zur Ansiedlung für die Großstädter ringsum auch das Hochhaus durchgesetzt habe, das jetzt fremd, siebenstöckig dasteht, sozusagen als Zeichen der neuen Zeit. Als wir hier einzogen, gab es im Dorf noch eine Art Supermarkt im Tante-Emma-Format, er hatte alles: Persil, Salzheringe, Nudeln und eine eigene Bäckerei mit einem Bäcker, der sich aufs Brot- und Brötchenbacken verstand. Und auch zwei Metzger. Die Post ist schon lange weg, die zwei Sparkassen und die Volksbank folgten. Von den zwei weitbekannten Gastwirtschaften ist eine, die bekannt war für ihre Schlachtfeste und Gänse, der Straßensanierung zum Opfer gefallen; die zweite kämpft sich in eine Zukunft. Ihr Tanz- und Theatersaal war der Lustort im Dorf. Etwa 1000 kamen, als man den zu früh gefällten Wirt begrub. Die Leute kamen von Frankfurt herauf. Ich berichte, wie ich so merke, vom Verschwinden der alten Welt. Selbst das Lädchen, das neben dem Lotto noch eine Art der Notversorgung auf eigene Kosten unterhielt, musste zumachen. Die Sonntagmorgenbrötchen waren dort noch ein Treffpunkt. Das Dorf ist eine Parkstadt geworden für auswärtig Beschäftigte. Ich war ja selbst ganz früh dabei. Jetzt sind drei Pkw für einen Haushalt keine Seltenheit. Es wachsen hier die Porsches, die Audis und die SUVs aller Bauarten wie früher die Rüben. Ich kann mein Alter messen an den Veränderungen. Das Dorf wächst sich aus zum Städtchen. In der Region bildet sich sowas wie Groß-Berlin. In nochmal 96 Jahren würde ich’s sicher sehen. Ich bin ein Zwischenstück. Die Parkplätze oben im geopferten Vorgarten sind schon Notwehr, um sich künftig ein freies Weg- und Heimfahren zu sichern. Das Alter, sagt man, macht sich zufrieden mit dem sanften Gefühl, dass man vieles nicht mehr muss. Ich führe noch gern in meine Garage, die leer steht. Ich muss aufpassen, dass sie kein Gerümpelplatz wird. Man hat so viel wegzuwerfen. 7. November 2020
Ich kam gestern an einen prekären Punkt. Abschied von der Universität, mit dem begehrten Titel, der in Deutschland viel gilt, und mit Margret, die ihre Zukunft mit mir verbringen wollte. Sie hat immer gesagt, sie hätte mir aufgelauert, im Hörsaal, Reihe hinter mir. Aber ich habe ihr aufgelauert. Sie war so frisch, munter und immer in diesen Jahren bunt und schick. Sie hatte Stoff aus Amerika von den Telefonistinnen, die sie nachts vertrat, wenn die amerikanische GIs erfreuten. Margret war ein Flüchtlingsmädchen, wie man damals sagte, aus der Tschechoslowakei. Familie mit vier Töchtern, der Vater, Direktor einer Kaligrube, an den Folgen der Haft verstorben, wohnte in einem Ort in Franken, der so war, wie er hieß: »Müdesheim.« Im katholischen Pfarrhaus, einer Art Schloss im Dorf. Ein Wohnzimmer im zweiten Stock, unten die Küche ohne Wasseranschluss. Der Pfarrer, der mich gleich zum Mönch machen wollte, war ein humaner Mensch. Er hatte sicher acht freie Zimmer im Haus. Ich musste die Mutter beim Bettenmachen fragen, ob sie mir ihre Margret gibt. Es vollzog sich alles nüchtern, unzeremoniell. Es wurde aber dauerhaft. Ich wartete damals auf das Rigorosum, übte mich bei der Frankfurter Rundschau, Lokales, ein in den Journalismus, bekam vom Lokalchef immer die Berichte von den Richtfesten zugesprochen, die sich damals, 53, sehr vermehrten – wegen der dort gereichten Rippchen mit Kartoffelsalat. Ich galt als armer Student. Margret zeigte mir ihre anhängliche Liebe immer neu, wenn ich sie am Schaukasten am Rundschauhaus traf, wie sie die Zeilen zählte von meinen Berichten. Es gab 30 Pfennig die Zeile. Wir wollten und konnten gut miteinander. Als ich im Rigorosum war, saß sie vor dem Prüfungszimmer und zerriss sich vor Aufregung ihre ersten, damals kostbaren Nylonstrümpfe, die der Vertretungslohn waren. Wir standen nun da und fragten, was jetzt? Ich wollte in den Journalismus, brauchte eine Stelle, die damals, noch gab es kein Fernsehen, alle dicht besetzt waren. Ich landete bei einer Wochenzeitung für Vertriebene, die Ost-West-Kurier...


Gu¨nther Ru¨hle, einer der angesehensten deutschen Theaterkritiker und Theaterschriftsteller, wurde 1924 in Gießen geboren. Er war von 1960 bis 1985 Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, seit 1974 auch dessen Leiter. 1985–1990 war er Intendant des Schauspiel Frankfurt und danach Berater der Herausgeber des Tagesspiegel in Berlin. Er edierte u. a. die Werke von Marieluise Fleißer und von Alfred Kerr, entdeckte dessen "Berliner Briefe". Seine großen Dokumentationen "Theater fu¨r die Republik. 1917–1933" und "Zeit und Theater 1913–1945", dann seine zusammenfassende Darstellung "Theater in Deutschland. 1887–1945" wurden grundlegend fu¨r Erforschung und Nacherleben des Theaters jener Zeit. Gu¨nther Ru¨hle ist Ehrenpräsident der Deutschen Akademie der Darstellenden Ku¨nste, war Präsident der Alfred Kerr Stiftung und ist heute deren Ehrenpräsident. Er wurde ausgezeichnet mit dem Theodor-Wolff-Preis (1962), dem Johann-Heinrich-Merck-Preis (2007), dem Hermann-Sinsheimer-Preis (2009), dem Binding-Kulturpreis (2010) und der Rahel-Varnhagen-von-Ense-Medaille (2013).

Gerhard Ahrens, geboren 1944, war nach dem Studium an der FU Berlin bei Peter Szondi und an der Universite´ Paris 8 Vincennes-Saint-Denis als Kurator fu¨r moderne Kunst an der Kestner Gesellschaft Hannover, dann in der Ku¨nstlerischen Leitung am Schauspiel Frankfurt, Schiller Theater Berlin und bis 2000 an der Berliner Schaubu¨hne ta¨tig. Seit 1993 daneben auch als ku¨nstlerischer Berater fu¨r das Kunstfest Weimar, die Stiftung Schloss Neuhardenberg und die Movimentos Festwochen in Wolfsburg. Zahlreiche U¨bersetzungen und Publikationen u¨ber Theater und Bildende Kunst im XX. und XXI. Jahrhundert. Er lebt in Berlin.



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