Zur theologischen Begründung helfenden Handelns
E-Book, Deutsch, 278 Seiten
ISBN: 978-3-290-17674-7
Verlag: Theologischer Verlag Zürich
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Systematische Theologie Ethik, Moraltheologie, Sozialethik
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Christentum/Christliche Theologie Allgemein Kirchliche Bildungseinrichtungen, Diakonie, Caritas
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Systematische Theologie Fundamentaltheologie, Dogmatik, Christologie
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|29| 2. Nach dem Wesen von Diakonie fragen: methodische Überlegungen
Bei der Frage nach dem Wesen und der Identität von Diakonie gibt es eine weitverbreitete Tendenz, ein Vorgehen zu wählen, das durch dreierlei Voraussetzungen bestimmt ist: Erstens setzt man beim Begriff der Diakonie ein, der sich auf das griechische Verb diakonein (dienen) bzw. das entsprechende Substantiv diakonia (Dienst) im Neuen Testament zurückführen lässt. Das bedeutet zweitens, dass man mit der theologischen Vergewisserung im Blick auf das, was Diakonie sein soll, bei Jesus und beim Neuen Testament einsetzt. Klassisch zeigt sich dieses Vorgehen etwa noch am Ansatz des umfangreichen Diakonielehrbuchs von Reinhard Turre:13 Dieses Buch beginnt auf Seite 1 mit einem Kapitel über Grundlegung und Voraussetzung der Diakonie. Gleich der erste Satz hält fest, heutige diakonische Arbeit habe «ihren Grund im Auftrag Jesu Christi und ihre Voraussetzung in den geschichtlichen Ausprägungen dieses Auftrages in den verschiedenen Epochen der Kirchengeschichte». Das erste Unterkapitel (1.1) setzt dann sofort bei der «Diakonie nach dem Neuen Testament» ein, die so beschrieben wird, dass zuallererst einmal auf die «Begriffe» (1.1.1) rekurriert wird, insbesondere auf denjenigen des diakonein. Zu dem weit verbreiteten Vorgehen bei der Bestimmung der Identität von Diakonie gehört drittens, dass es von Anfang an darauf ausgerichtet ist, das spezifisch Christliche an diakonischem Helfen herauszustellen. Das Interesse der Rückfrage nach dem Wesen von Diakonie liegt nicht primär auf dem Phänomen des Helfens als solchem, sondern ganz auf dem «Besonderen des Christlichen»14 in diakonischem Handeln. |30| Wir halten diesen traditionellen Ansatz, das Wesen von Diakonie zu bestimmen, für ausgesprochen problematisch und wollen darum in jeder der drei Hinsichten einen anderen Weg einschlagen. 2.1 Die Sache, nicht der Begriff steht im Zentrum
Üblicherweise wird also Diakonie zu bestimmen versucht, indem man die sprachliche Herleitung des Begriffs zurückverfolgt und dann die Frage stellt, was das Nomen diakonia bzw. das Verb diakonein im Neuen Testament, in seinem kulturellen Umfeld und in der Alten Kirche bedeutete. Bloss: So wird man kaum zu einer hilfreichen Antwort gelangen, weil das, was man heute unter Diakonie und diakonischem Handeln versteht, nämlich die verschiedenen Formen sozialen, helfenden Intervenierens, im Neuen Testament in der Regel gar nicht mit den Begriffen diakonia bzw. diakonein bezeichnet wird, sondern eher in Texten zur Sprache kommt, die von Nächstenliebe sprechen, oder in Aufforderungen zu einem dem Willen Gottes entsprechenden Umgang miteinander.15 Es ist nicht zu übersehen, dass es im Neuen Testament viele Phänomene des Helfens gibt, die nicht mit dem Begriffsfeld diakonia bezeichnet werden, während viele Tätigkeiten mit diesem Begriff zum Ausdruck gebracht werden (zum Beispiel das apostolische Wirken des Paulus ganz allgemein16), die wenig bis gar nichts mit dem gemein haben, was uns heute vor Augen steht, wenn wir uns über die Identität «diakonischen» oder «sozialen» Handelns mitsamt den entsprechenden Institutionen, die sich daraus entwickelt haben, Gedanken machen.17 |31| Es ist darum deutlich zwischen dem neutestamentlichen Begriff der diakonia oder des diakonein und der gesellschaftlichen Wirklichkeit heutiger Diakonie zu unterscheiden. Letztlich geht es nicht um den Begriff, sondern um die Sache, um die Phänomene sozialen Engagements, die wir meinen, wenn wir heute von Diakonie sprechen. Und da helfen begriffliche Untersuchungen zum Wortfeld von diakonia im Neuen Testament, auf die sich fast alle bisherigen Diakoniebücher stützen, nicht weiter. Durch eine geschichtliche Herleitung des Begriffs Diakonie direkt relevante Hinweise für sozialdiakonisches Handeln heute gewinnen zu wollen, ist deshalb methodisch nicht möglich. Eigentlich wäre es überhaupt am besten, ganz auf den Begriff der Diakonie für christlich motiviertes soziales Handeln zu verzichten, weil seine Verwendung – ohne tragfähige biblische Begründung – implizit immer schon davon ausgeht, dass christliches soziales Handeln etwas anderes sei als ebensolches Handeln ohne christlichen Hintergrund.18 Der Diakoniebegriff führt mehr in die Irre, als dass er inhaltlich hilfreich wäre! Wir sprechen in diesem Buch darum häufig von solidarischem, (pro-)sozialem oder helfendem Handeln oder verwenden weitere ähnliche Formulierungen, statt von diakonischem Handeln zu reden.19 Weil der Diakoniebegriff allerdings vor allem in Deutschland so tief verankert und breit abgestützt ist, weil er zudem in Deutschland als Selbstbezeichnung eines riesigen Feldes sozialer Institutionen und eines entsprechenden wissenschaftlichen Diskurses verwendet wird, scheint uns ein konsequenter Verzicht auf das Begriffsfeld «Diakonie/diakonisch» nicht hilfreich. Wenn wir im Folgenden also auch von Diakonie oder diakonischem Handeln sprechen, so meinen wir damit einfach das, was im deutschen Sprachraum - meist als Selbstbezeichnung |32| entsprechender Akteure oder Institutionen - damit gemeint ist: mitmenschliches, helfend-solidarisches Handeln aus christlicher Motivation oder auf christlichem Hintergrund. Immerhin sei an dieser Stelle explizit auf die hier vorliegende und weithin kaum thematisierte Problematik hingewiesen. Wollen wir ein theologisch angemessenes Verständnis von Diakonie gewinnen, müssen wir unser Augenmerk also eher auf die vielfältigen Formen von Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit, von zwischenmenschlicher Hilfe und prosozialem Verhalten richten, die es in der Welt gibt und die auch in den biblischen Texten zur Sprache kommen. Wonach wir also fragen, ist ein angemessenes theologisches Verständnis des Phänomens des Helfens. Anders gesagt: Wir suchen nach einer theologischen Deutung solidarischer Mitmenschlichkeit, wie sie sich in konkretem Hilfehandeln manifestiert, durch das irdischer (sozialer, rechtlicher, materieller, körperlicher oder seelischer) Not begegnet werden soll. 2.2 Gesamtbiblisch zurückfragen
Aus der Perspektive einer solchen erweiterten Fragerichtung ergibt sich ganz von selbst, dass eine biblische Grundlegung nur durch Rückgriff auf den ganzen Kanon, also auf die Zeugnisse des Neuen und des Alten Testaments erfolgen kann. Alles andere wäre willkürlich und theologisch einseitig.20 In der weithin üblichen Fokussierung auf die neutestamentlich-jesuanischen Grundlagen diakonischen Handelns spiegelt sich eine lange Tradition bedenklicher Überheblichkeit des Christentums gegenüber dem Judentum, die sich als fruchtbarer Nährboden für Antijudaismus und Antisemitismus erwiesen hat. Krass kommt das in Gerhard Uhlhorns Standardwerk über «Die Christliche Liebesthätigkeit» (1896) zum Ausdruck. Der erste Band wird mit der vielzitierten These eröffnet: «Die Welt vor Christo ist eine Welt ohne Liebe.»21 Angesichts der unbestreitbaren Tatsache, dass das Judentum schon vor Christus eine breite Tradition der Fürsorge |33| und Wohltätigkeit kannte,22 behauptete Uhlhorn etwa im Blick auf das karitative Engagement der Pharisäer schlicht: «Die Pharisäer geben Almosen, aber ohne Liebe.»23 Solche extremen Urteile scheinen uns heute abstrus. Dennoch sollte man sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die dahinterliegende Vorstellung tiefe Spuren hinterlassen hat. Anders wäre kaum zu erklären, was Frank Crüsemann noch 1990 zu Recht beklagte, dass nämlich «eine solche Sicht bis heute nachwirkt und in der nahezu ausschliesslich neutestamentlich bestimmten theologischen Grundlage von Diakonie nachhaltig zum Vorschein tritt».24 Wie nachhaltig diese neutestamentlich-christologische Engführung auch bei modernen diakoniewissenschaftlichen Ansätzen wirkt, wird vor allem in Kap. 5 noch ausführlich zu zeigen sein.25 Ausdruck solcher einseitigen Spuren sind die einleitenden Sätzen des Diakonielehrbuchs von Reinhard Turre, wenn er zwar zugibt, dass «zur biblischen Grundlegung (der Diakonie) auch die alttestamentliche, besonders die prophetische Mahnung gehört, dass der Glaube an Gott sich zu bewähren habe in der Hilfe für die Schwachen und Kranken», dann aber sogleich die Behauptung anfügt, dass «erst im Neuen Testament eine neue Qualität des Dienstes beschrieben und verlangt wird», weshalb es nach seiner Ansicht durchaus legitim und sinnvoll ist, den biblischen Rückbezug auf eine Darstellung der Diakonie im Neuen Testament zu beschränken.26 Ein solcher einseitiger Bezug auf die biblischen Grundlagen muss, wie noch zu zeigen sein wird, unweigerlich zu einem in wesentlichen Punkten defizitären Diakonieverständnis führen. In unserem Fragen nach einer |34| angemessenen theologischen Deutung solidarischer Mitmenschlichkeit als Basis für ein heutiges Diakonieverständnis beziehen wir uns darum dezidiert auch auf Perspektiven des Alten Testaments, von denen sich zeigen wird, dass sie von einer «Qualität» und Weite sind, die teilweise sogar über das hinausgeht, was das Neue Testament in diesen Fragen zu sagen hat. Klaus Müllers Hinweis gilt es jedenfalls zu beherzigen: «Diakonia – ohne Zweifel ein...