Rudzka | Mikwe | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 168 Seiten

Rudzka Mikwe

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-905951-38-7
Verlag: Secession Verlag für Literatur
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Roman

E-Book, Deutsch, 168 Seiten

ISBN: 978-3-905951-38-7
Verlag: Secession Verlag für Literatur
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Die Familie Haberstein wird bei dem Versuch, dem Holocaust zu entkommen, voneinander getrennt. Der Riss zerstört fortan nicht nur die Familie, sondern immer wieder auch die Beziehungen zu anderen. Über Generationen hinweg bleiben tiefe Wunden in den Seelen und Körpern aller Familienmitglieder, die erst Jahrzehnte später heilen, wenn sich für zwei der Nachkommen, Bella und Nathan, das Schicksal erfüllt. Zyta Rudzka rekonstruiert in ihrer glasklaren, lichten Prosa die Vergangenheit einer jüdischen Familie und beleuchtet schlaglichtartig die zerrissenen Identitäten der Familienmitglieder. Sie findet zu einer zwingenden, lyrisch verdichteten Form, die die Verletzungen, die der Holocaust dieser Familie zugefügt hat, spürbar werden lässt. Ein poetisches Meisterwerk über Liebe und Ablehnung, aber auch über die Macht des Schicksals!

Zyta Rudz ka (geb. 1964 in Warschau) ist polnische Schriftstellerin und Theaterautorin. Sie war Stipendiatin des Polnischen Kultusministeriums und hat zahlreiche Preise erhalten, darunter den Jaros?aw-Iwaszkiewicz-Preis, den Dramaturgiepreis der Stadt Gdynia und den Deutsche-Welle-Literaturpreis. Die Texte von Zyta Rudzka wurden übersetzt ins Deutsche, Russische, Kroatische, Italienische, Tschechische und Französische; auf Deutsch zuletzt Doktor Josefs Schönste, Ammann Verlag, 2009.
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Er zeigte sich in der Abenddämmerung jenes Tages, als ihr der Fuß von einem feuchten Baumstumpf im Holzlager an der Stalowa-Straße abgerutscht war. Sehr schnell wurde der Knöchel steif, und innerhalb von zwei Stunden schwoll das Bein an bis zum Knie.

Wie jedes kranke Kind im Haus wurde Hanna im Gästezimmer auf das große Bett gelegt und von Kissen umgeben, die mit einer Mittelfalte versehen und mit Schwänen bestickt waren. Die weißen Vögel ähnelten sich alle mit ihren gebogenen Hälsen, den emporgestreckten Schwänzen und den kaum angedeuteten Schnäbeln.

Hanna hatte das Gästezimmer schon immer gefallen, es schien höher als die anderen Räume zu sein, weniger vom Tageslicht erhellt, denn die Fenster hier waren aus kleinen, rechteckigen, mit beinahe unsichtbaren Drähtchen versehenen Kobaltglasscheiben zusammengesetzt.

An den Wänden hingen Bilder in schweren Rahmen mit Ornamenten in Form von Lorbeerblättern, die mit Rotgold überzuckert waren. Da war eine Winterlandschaft und in ihr ein Herr im schweren, mit einem Lederriemen gegürteten Mantel, der ausgestreckte Arm übergehend in ein einfaches Jagdgewehr, das mit dem gleichen Braun gemalt war wie sein Überwurf. Und in der oberen Ecke ein Hase im Schnee, gezeichnet mit Purpur und Ocker. Ganz in der Nähe, an derselben Wand, hingen in einfachen Holzrahmen die Porträts bärtiger Herren. Einer von ihnen war – ihre Mutter hatte es ihr gesagt – ein Wasserträger aus Sandomierz, die anderen wohl irgendwelche Vorfahren ihres Vaters. Weiter weg gab es ein Ölbild in Milchkaffeetönen, auf dem sich im Hof einer Synagoge ein junges Paar vermählte, unter einem zweifachen Baldachin aus Stoff und Himmel.

Cela hatte eine klare Gemüsebrühe gekocht, die das Fieber senken und den Knöchel abschwellen lassen sollte. Langsam, damit das Geschirr auf dem Tablett sich nicht bewegte, kam sie nach oben und setzte sich still auf den Bettrand.

Sieh du dir die Schwäne an, ich werde dich füttern …

Sagte sie und flößte Hanna die dampfende Flüssigkeit ein, indem sie geduldig mit einem Silberlöffel von der Brühe schöpfte.

Jedes Mal, wenn Hanna den Mund öffnete, schloss sie zugleich die Augen, als ob ihr das hülfe, das heiße Getränk herunterzuschlucken. Dabei hörte sie der Haushälterin zu, wie sie in einem leisen, zärtlichen Singsang zu ihr sprach:

Braves Mädchen, braves Mädchen. Du musst gesund werden, morgen sollst du doch mit Mama und Mordka nach Otwock fahren, zur Erholung.

Wiederholte sie wie einen Refrain jedes Mal, wenn sie den randvollen Löffel hob. Und nur einmal fügte sie nach dem Wort »Erholung« seufzend hinzu:

Als ob ihr euch irgendwie überarbeitet hättet!

Sie stellte den leeren Teller auf den Nachttisch neben die Lampe, tunkte einen Lappen in Essigwasser, wechselte die Kompresse auf Hannas krankem Bein und klopfte mit einer geschickten, energischen Bewegung die Kissen hinter dem Kind fest.

Bevor sie wegging, sagte sie noch, bereits in der Tür stehend und mit einer Kopfbewegung auf den Nachttisch deutend:

Und da ist Lindenblütentee. Zum Schwitzen. Trink ihn nicht jetzt, sondern vor dem Einschlafen. Aber unbedingt in einem Zug!

Sie wechselten die Umschläge, strichen ihr den kleinen Pony aus der Stirn, rückten die Kissen zurecht. Der Vater sang ein Lied von einem armen Gefangenen, dessen Strophen jeweils mit den Worten »Unter der Zelle …« begannen. Mordka lachte laut und zeigte dabei ihre Zahnlücken, während die Mutter und Cela so taten, als ob sie vor lauter Bemühen um die Kranke nichts bemerkten.

Schließlich hörten alle vier auf, das Mädchen zu besuchen; das Abendessen hielt sie unten fest. Sicherlich waren sie von dem Unfall der vierjährigen Hanna sehr betroffen, denn diese hörte, still im Bett liegend, keinerlei Tischgespräche. Durch die halb geöffnete Tür des Speisezimmers drangen nur abgeschwächte Laute ins Gästezimmer, gleichsam in Nebel eingewickelt oder in einen milchweißen Kokon: Geräusche von Messern und Gabeln auf Porzellan, das anämische Klappern von Teelöffeln in Tassen oder das Schnaufen von Tee, der aus der Kanne fließt.

Hanna lag ruhig da, gar nicht wie ein Kind in ihrem Alter. Schon früher hatte es Momente gegeben, in denen sie erstarrt war, als würde sie auf halbem Wege ausruhen und Kraft schöpfen, oder als würde sie sich an der fetten, heißen Luft ergötzen wie die kleinen Eidechsen, die zwischen Steinen herumtollen.

Die Eltern waren deswegen besorgt. Zwar gehörte auch ihre ältere Tochter Mordka nicht zu den wilden Kindern, die dauernd durch die Gegend sprangen, doch ihr Temperament bedingte eine gemäßigte, gleichbleibende und leicht vorhersehbare Lebhaftigkeit, wie ihr Vater sich ausdrückte.

Anfangs nahm man an, dass Hanna trotz ihrer gesunden Rundungen und ihrer Rote-Rüben-Bäckchen von irgendeiner stillen Krankheit geplagt werde, die im Verborgenen ihr Vernichtungswerk vollbringe. So unternahm man denn entsprechende Analysen und Messungen, nur um sich über die guten Ergebnisse zu wundern. Das Einzige war, dass Hanna vielleicht etwas zu langsam wuchs. Aber alle Frauen in Zundels Familie glichen exotischen Perlhühnern: Sie waren klein, flink und gepunktet.

Unser armes Hannele … Vielleicht kommt das alles daher, dass ich mich über den Fuhrmann erschrocken habe, der uns Glückwünsche zu Rosch ha-Schana bringen wollte und in der Tornische darauf wartete, dass du ihm ein paar Groschen gibst.

Suchte Hannas Mutter nach Gründen, als sie vor dem Zubettgehen ihre Haare kämmte.

Das muss damals fast im siebten Monat gewesen sein, denn ich hatte schon einen riesigen Bauch, und bis zum fünften Monat ist bei mir ja gar nichts zu sehen …

Hier stockte sie und wurde nachdenklich, die Hand mit dem Kamm erstarrte in der Luft.

Kinder sind manchmal merkwürdig, das weißt du doch. Mira Karmelin erzählt schließlich auch dauernd, dass ihr Mosze mit irgendwelchen komischen Geschichten alle Kinder erschreckt.

Murmelte Zundel, während er sein Hemd aufknöpfte.

Er dachte, es müsse wohl das Gerede seiner Frau sein, das ihn so aufrege, als er merkte, dass seine Hände wie gelähmt waren; nur mit Mühe gelang es ihm, die Manschettenknöpfe zu öffnen und aus den Ärmeln zu ziehen.

Sie blickte auf die Holzkästen und auf die Tontöpfe mit getrimmten Büschen in Apfel- oder Birnengestalt. Wie Uhrenpendel wippten gestreifte Efeupflanzen von einer Seite zur anderen. Die Pflanzen keimten, wuchsen, trieben Knospen, blühten und starben ab. Aufgrund des kobaltblauen Schimmers der Fenster drangen die Farben der Blütenblätter kaum zu Hannas Augen durch, sie zerbröckelten langsam und ruhig, um schließlich fahl zu werden und zu verbleichen, im Einklang mit den Tagen und den Jahreszeiten.

Hanna stützte den Ellenbogen auf ein Kissen, damit sie die ganze Terrasse im Blick hatte, bis hin zu den Untersätzen der Philodendren, die jemand nach den Eisheiligen aus der Wohnung geschafft hatte. Nie war es Hanna gelungen, diesen Jemand zu sehen, und da plötzlich bemerkte sie in der Dämmerung auf der Terrasse Gott. Er war noch unschuldig, schüchtern wie die vom Wind unberührten Traubenkirschbäume, die das Holzlager ihres Vaters umgaben. Langsam ging er umher, jung, still wie die Kerzen auf dem Tisch am Freitagabend. In ein weißes Gewand gekleidet, sah er aus wie ein Bräutigam am Morgen, ohne Müdigkeit und Schweiß auf der Haut. Aus irgendeinem Grunde rief dieses ruhige und reine Bild, das aus einer von Celas Geschichten hätte stammen können, in Hanna den dringenden Wunsch hervor zu schreien, abgehackt und wild zu schreien, wie ein verzweifelter Vogel, verloren in der Nacht. Sie schrie mit geschlossenen Augen, ihre Hände um die Nähte des Kissens gekrallt.

Sie schrie weiter, obwohl der Vater sie an sich drückte und Mutter und Schwester auf dem Bettrand saßen und ihre Hände hielten.

Der Herrgott ist zu mir gekommen.

Und wer Hanna besucht hat, ist nicht der Schöpfer all dieser Menschen; doch sein Name lautet...


Zyta Rudz ka (geb. 1964 in Warschau) ist polnische Schriftstellerin und Theaterautorin. Sie war Stipendiatin des Polnischen Kultusministeriums und hat zahlreiche Preise erhalten, darunter den Jaroslaw-Iwaszkiewicz-Preis, den Dramaturgiepreis der Stadt Gdynia und den Deutsche-Welle-Literaturpreis. Die Texte von Zyta Rudzka wurden übersetzt ins Deutsche, Russische, Kroatische, Italienische, Tschechische und Französische; auf Deutsch zuletzt Doktor Josefs Schönste, Ammann Verlag, 2009.



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